ERSTES KAPITEL
In der Suite waren smarte Geräte versteckt, deren Kontrolleuchten in der abgeschlossenen Dunkelheit den kleinen roten Augen von Fledermäusen ähnelten. Die Geräte hockten in den Nischen der weißen mexikanischen Stuckwände: ein Ionisator, ein Fernseher, ein Rauchmelder und eine Reihe von Bewegungssensoren. In der Ecke zischte und brodelte leise ein Luftbefeuchter, von dem ein kräftiger Geruch nach Öl, Ginseng und Eukalyptus ausging.
Alex ruhte auf einem Lager aus Seidenkissen, seine Füße und Knie beulten die gestärkten Baumwollaken aus. Sein Körper fühlte sich an wie nasser Ton, wie etwas Schmieriges, Feuchtes und völlig Unbewegliches. Schon seit dem Morgen atmete er schnaufend durch die schwarze Neoprenmaske des Inhaliergeräts neben dem Bett, und jetzt waren seine Fingerspitzen so bleich wie Wachs und zitterten leicht, schienen mit der Maske zu verschmelzen. Alex überlegte kurz, ob er die Maske an den Haken aus rostfreiem Stahl am Medikamentenregal hängen sollte. Er entschied sich dagegen. Die wohltuende Maske außer Reichweite zu befördern, erforderte zuviel Aufwand.
Die Schmerzen in Lungen und Hals waren nicht wirklich besser geworden. Ein solches Wunder war vielleicht zuviel verlangt, selbst wenn man in einer mexikanischen Schwarzmarktklinik lag. Trotzdem hatten sich die Schmerzen nach zweiwöchiger Behandlung in der clínica auf subtile Weise verändert. Das Brennen der Entzündung hatte einem interessanten neuen Gefühl Platz gemacht, etwas Substanzlosem und ziemlich Abstraktem. In der Suite war es so kühl wie in einem Goldfischglas, und Alex fühlte sich so behaglich und apathisch wie ein Karpfen. Er lag schlaff im Halbdunkel da und blinzelte träge, während ganz allmählich eine tiefere Schicht seiner Krankheit zum Vorschein kam. Unter den gestärkten Laken wurde Alex allmählich warm. Erst wurde ihm schwummerig. Dann verspürte er leichte Übelkeit, die übliche Abfolge der Symptome. Er fühlte, wie sich die dunkle Woge in seiner Brust aufstaute.
Dann schwemmte sie durch ihn hindurch. Er meinte, seine Wirbelsäule würde schmelzen. Er schien in die Matratze zu sickern.
Diese Anfälle hatte er in letzter Zeit öfter, und sie wurden immer heftiger. Andererseits brachten ihre dunklen Strömungen Alex an so manch interessanten Ort. Ohne zu atmen trieb Alex eine Weile vergnügt jenseits des Bewußtseins dahin.
Dann setzte der Atem, ohne daß er es wollte, wieder ein. Sein Geist durchbrach die Oberfläche des Deliriums. Als sich seine Augen wieder öffneten, wirkte das Zimmer um ihn herum äußerst unwirklich. Zerfließende Wände aus mexikanischem Stuck, eine wirbelnde Stuckdecke, ein dicker, wimmelnder Teppich von einem giftigen Blaugrün. Knollige, ausgeschaltete Keramiklampen hockten auf kunstvoll geflochtenen Korbtischen. Die Kommode, der Spiegelschrank und der hölzerne Bettrahmen waren alle mit der gleichen wimmelnden Verschwörung blaugrüner Achtecke überzogen... An metallenen Angeln befestigte Fensterläden aus Holz schirmten die mit Fensterkitt versiegelten Scheiben ab. In einem Terrakottatopf stand eine verdorrende tropische Topfpflanze, das ausgezehrte, gummiblättrige Monster, das zu seinem verläßlichsten Gefährten geworden war, sanft vergiftet von der ständigen Dunkelheit und der verordneten nebligen Feuchte...
Neben dem Bett erklang ein scharfes Summen. Alex verdrehte seinen verfilzten Haarschopf auf dem Kissen. Das Gerät summte erneut. Dann noch einmal.
Alex wurde sich mit dumpfer Überraschung der Tatsache bewußt, daß das Gerät ein Telefon war. Bislang hatte er noch keinen einzigen Anruf aufs Zimmer bekommen. Er hatte nicht einmal gewußt, daß er ein Telefon hatte. Das veraltete, einfache Gerät war inmitten seiner Maschinenkollegen nicht weiter aufgefallen.
Alex betrachtete lange Zeit benommen die veralteten Druckknöpfe des Geräts mit ihrem jämmerlichen Design. Abermals summte das Telefon. Alex ließ die Inhaliermaske fallen und beugte sich übers Bett, mit einer Drehung, einem Rascheln, einem Knacken und einem Stöhnen. Er drückte den winzigen Knopf, der mit ESPKER beschriftet war.
»Hola«, schnaufte er. Sein verklebter Kehlkopf krächzte und schrillte, daß ihm auf einmal Tränen in die Augen schossen.
»¿Quien es?« antwortete das Telefon.
»Niemand«, krächzte Alex auf englisch. »Falsch verbunden.« Er fuhr sich übers Auge und starrte das Telefon an. Er hatte keine Ahnung, wie man die Verbindung unterbrechen konnte.
»Alex!« sagte das Telefon auf englisch. »Bist du das?«
Alex blinzelte. Das Blut strömte durch seinen betäubten Körper. Unter dem Laken begannen seine Waden und Zehen vorwurfsvoll zu prickeln.
»Ich möchte mit Alex Unger sprechen!« beharrte das Telefon. »¿Dónde está?«
»Wer ist da?« fragte Alex.
»Hier ist Jane! Juanita Unger, deine Schwester!«
»Janey?« fragte Alex verblüfft. »Mann, ist etwa Weihnachten? Tut mir leid, Janey…«
»Was!« schrie das Telefon. »Wir haben den neunten Mai! Herrgott noch mal, du scheinst wirklich fertig zu sein!«
»Hey…«, meinte Alex schwach. Sonst rief seine Schwester höchstens zu Weihnachten an. Es entstand ein drückendes Schweigen. Alex studierte benommen die geheimnisvollen Knöpfe des Freisprechtelefons. EDIAL, FLAS, PROGMA. Keinerlei Hinweis, wie man auflegte. Die offene Telefonverbindung hockte da und lauschte auf ihn; eine quälende Erwartung ging von ihr aus. »Alles okay«, protestierte er schließlich. »Wie geht's dir, Janey?«
»Weißt du überhaupt, welches Jahr wir haben?« wollte das Telefon wissen. »Oder wo du bist?«
»Äh… Klar…« Verschwommene, schuldbewußte Panik durchdrang den Medikamentennebel. Selbst in seinen besten Zeiten war es ihm nicht leichtgefallen, mit seiner älteren Schwester zurechtzukommen, und jetzt fühlte er sich zu schwach und zu benommen, um sich zu verteidigen. »Janey, ich bin im Moment gerade nicht in der Stimmung… Ich rufe dich zurück…«
»Wag es bloß nicht aufzuhängen, du alter Trickser!« schrillte das Telefon. »Was, zum Teufel, machst du da drinnen? Hast du vielleicht 'ne Ahnung, wie hoch die Rechnungen sind?«
»Hier wird mir geholfen«, sagte Alex. »Ich bin in Behandlung… Laß mich in Ruhe.«
»Ein Haufen betrügerischer Quacksalber! Die werden dir noch den letzten Cent abnehmen! Und dann bringen sie dich um! Und begraben dich auf irgendeiner gottverfluchten verseuchten Müllkippe an der Grenze!«
Juanitas schrille Vorwürfe schwirrten wie Hornissen in seinem Schädel herum. Alex ließ sich auf den Kissenhaufen zurückfallen und stierte zum sich langsam drehenden Deckenventilator hoch, versuchte seine Kräfte zu sammeln. »Wie hast du mich hier gefunden?«
»Leicht war's nicht, das kannst du mir glauben!«
»Gut…«, knurrte Alex.
»Und die Verbindung hinzukriegen, das war auch kein Zuckerschlecken!«
Alex sog langsam die Luft ein, entspannte sich, atmete wieder aus. Tief in seinem Innern gurgelte unangenehm irgend etwas Zähes.
»Verdammt noch mal, Alex! Das kannst du doch nicht machen! Ich habe drei Wochen gebraucht, um dich ausfindig zu machen! Diesmal konnten dich nicht mal Dads Leute finden.«
»Tja, nun«, murmelte Alex. »Deshalb hab ich's ja so gemacht.«
Als seine Schwester wieder das Wort ergriff, war ihre Stimme voll grimmiger Entschlossenheit. »Pack deine Sachen, Alejandro! Du mußt dort raus!«
»Nerv mich nicht. Laß mich in Ruhe.«
»Ich bin deine Schwester! Dad hat dich abgeschrieben - kapierst du das nicht? Du bist jetzt erwachsen, und du hast ihm zu oft weh getan. Ich bin die einzige, die sich noch was aus dir macht.«
»Mach dir doch nicht ins Hemd«, krächzte Alex erschöpft. »Nimm's leicht.«
»Ich weiß, wo du steckst. Und ich komme dich holen. Und jedem, der mich daran hindern will - du eingeschlossen -, wird das noch leid tun!«
»Du kannst gar nichts machen«, erwiderte Alex. »Ich hab die ganzen Klinikformulare unterschrieben… die haben Rechtsanwälte.« Er räusperte sich, lang anhaltend, rauh und schmerzhaft. Wieder vollständig wach zu werden, war alles andere als angenehm; verschiedene Körperteile - die obere Wirbelsäule, Gelenke, Sehnen, Diaphragmen - äußerten schmerzhaft-scharfen Protest und einen tiefen Widerwillen, zu funktionieren. »Ich will schlafen«, sagte er. »Ich bin hergekommen, um mich zu erholen.«
»Mir machst du nichts vor, Alejandro! Wenn du unbedingt abkratzen willst, dann nur zu! Aber verschleudere nicht das Familiengeld an einen Haufen Gauner.«
»Du warst schon immer ein verdammter Dickkopf«, sagte Alex. »Und jetzt hast du mich aufgeweckt, und ich fühle mich beschissen!« Er setzte sich auf. »Es ist mein Geld und mein Leben! Ich mache damit, was ich will! Geh zurück zu deiner Kunstakademie.« Er griff übers Bett, packte das Telefonkabel und riß es heraus, wobei der Plastikstecker zerbrach.
Alex hob das schweigende Telefon hoch, untersuchte es, dann stopfte er es unter die Kissen. Der Hals tat ihm weh. Er griff nach hinten zum Nachttisch, langte auf ein Tablett aus mexikanischem, getriebenem Silber hinunter und brachte eine Schlaftablette nach vorn. Er packte sie aus und zermalmte sie bedächtig zwischen den Backenzähnen.
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sein Verstand arbeitete wieder und verlangte nach Betäubung. Alex rutschte auf Händen und Knien aus dem Bett und suchte auf dem dicken, feudalen, häßlichen Teppich umher. Vor Anstrengung pochte ihm der Schädel, und es wurde ihm schwindelig. Doch daran war Alex gewöhnt, und er gab nicht auf.
Die Fernbedienung des TV war zusammen mit den ganzen anderen schlauen Kinkerlitzchen für leblose Gegenstände auf einen zusammenbrechenden Haufen mexikanischer, auf True Crimes beruhender fotonovelas gefallen. Alex fiel auf, daß die Bettfedern nach drei Wochen ununterbrochener Feuchtigkeit angefangen hatten, sanft, aber beharrlich zu rosten.
Alex kniete sich hin und schob sich, seine Beute umklammernd, mit arthritischer Langsamkeit wieder unter die Laken. Er wartete, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte, schneuzte sich und plazierte die beiden kalten Tropfen medizinischer Kochsalzlösung sorgfältig auf die Augäpfel, dann durchkämmte er mit minimalen Daumenbewegungen das Angebot des Kabelprogramms der Klinik. Sentimentale mexikanische Melodramen. Eine Quizsendung. Kids, in einer gewaltigen unterirdischen Mall auf der Jagd nach Robotsauriern. Die unvermeidliche thailändische Popmusik.
Und ein paar englischsprachige Plaudernachrichten. Spanische Plaudernachrichten. Japanische Plaudernachrichten. Alex, geboren im Jahr 2010, hatte im Laufe seines einundzwanzigjährigen Lebens erlebt, wie die Nachrichten immer überdrehter und fröhlicher geworden waren. Mittlerweile hatte er Hunderte blutgetränkter Filmstunden über sich ergehen lassen: Epidemien, Massensterben, verzweifelte Aufstände, die grauenhaft verstümmelten Opfer von Militäreinsätzen, alles vor dem beunruhigenden Hintergrund der bedrohlichen, unerbittlich voranschreitenden Umweltzerstörung. All das gab es dort draußen immer noch, so wie jeder Aspekt der modernen Realität irgendwo im Netz widergespiegelt wurde, doch heutzutage mußte man mühsam danach suchen, und die Leute, die darüber redeten, gehörten nicht gerade zu den Wohlhabendsten. Irgendwann im Laufe der Entwicklung war das ganze globale Dorf in eine neurotische Verweigerungshaltung verfallen.
Heute, als Erwachsener, fand Alex das gläserne Röhrensystem des Netzes vollgestopft mit Jet-Set-Heiraten und niedlichen Hundegeschichten. Naßforsche Heroinen und Helden mit kantigen Kiefern wurden irgendwie immer noch schnell reich. Starlets gewannen bei Lotterien, und Lotteriegewinner wurden Starlets. Kleine Kinder, deren Köpfe in versiegelten Cyberspace-Helmen steckten, mimten freudige Überraschung und schwenkten angesichts der imposanten Halluzinationen ihre kleinen, behandschuhten Hände. Alex war eigentlich nie ein so großer Fan der aktuellen Strömungen gewesen, doch mittlerweile hatte er den Eindruck, die munteren Klugschwätzer mit den makellosen Zähnen seien die eigentliche Quelle allen Übels.
Alex stieß auf ein mexikanisches Dokudrama über Ufos und blieb dabei hängen; auf spanisch hießen sie los OVNIS, und am 9 de mayo, 2031, war ein Großteil der Einwohner Südamerikas offenbar von einem heftigen Anfall von ovnimania befallen worden. Eine Zeitlang sickerte Alex' Leben träge aus ihm hinaus, während ihn der Bildschirm mit Bildern vollpumpte: mit gewaltigen nächtlichen Feuerbällen, Zwergen in Overalls aus Silberfolie, deren Köpfe an Löwenzahnblüten erinnerten, und mit einer Videoprophezeiung irgendeiner Jungfrau von Guadelupe samt eigener Internet-Adresse und gebührenfreier Telefonnummer…
Die Tagesschwester klopfte an die Tür und betrat eilig den Raum. Die Tagesschwester hieß Concepcíon. Sie war eine stämmige, nüchterne Frau in den Vierzigern, mit einer Vorliebe für Fettabsaugung, Facelifting und Brustvergrößerung.
»¿Ya le hicieron la prueba de la sangre?«
Alex schaltete den Fernseher aus. »Der Bluttest? Ja, heute morgen wurde einer gemacht.«
»¿Le duele todavía el pecho como anoche?«
»War eine ziemlich schlimme Nacht«, räumte Alex ein. »Jetzt geht's schon viel besser, seit ich die Maske benutze.«
»Un catarro atroz, complicado con una alergia«, meinte Concepcíon mitfühlend.
»Wenigstens habe ich keine Schmerzen«, sagte Alex. »Ich bekomme die allerbeste Behandlung.«
Concepcíon seufzte und bedeutete ihm, sich zu erheben. »Todavía no acabamos, muchacho, le falta la enema de los pulmones.«
»Ein Lungen-Einlauf?« fragte Alex verwirrt.
»Si.«
»Heute? Jetzt gleich? ¿Ahora?«
Sie nickte.
»Muß das sein?«
Concepcíon machte ein ernstes Gesicht. »¡El doctor Mirabi le recetó! Fue muy claro. ›Cuidado con una pulmonía.‹ El nuevo tipo de pulmonía es peor que el SIDA, han muerto ya centenares de personas.«
»Schon gut, schon gut«, meinte Alex. »Klar, kein Problem. In letzter Zeit geht's mir schon sehr viel besser. Ich brauche nicht mal mehr den Rollstuhl.«
Concepcíon nickte, half ihm beim Aufstehen und schob ihm ihre kräftige Schulter unter die Achselgrube. Gemeinsam schafften sie es aus der Tür und etwa zehn Meter den mit Teppichboden ausgelegten Korridor entlang, dann bekam Alex weiche Knie. Der Rollstuhl, ein Gerät mit beschränkter, aber hochspezialisierter Intelligenz, befand sich unmittelbar hinter Alex, als dieser stolperte. Er gab den Kampf anmutig auf und setzte sich in das Gerät aus Chrom und Leder.
Concepcíon ließ Alex im Behandlungszimmer auf Dr. Mirabi warten. Alex war sich ziemlich sicher, daß Dr. Mirabi nichts Wichtiges zu tun hatte. Alex allein in einem abgeschlossenen Raum warten zu lassen, gehörte einfach zur medizinischen Etikette, um zu zeigen, wessen Zeit kostbarer war. Während Dr. Mirabis Angestellte - zumal die schwer schuftenden Pharmazeuten - ständig umherhetzen mußten, schien Dr. Mirabi selbst kaum unter der Bürde seiner Pflichten zu leiden. Soweit Alex das den Dienstplänen entnehmen konnte, gab es in der ganzen clínica nur vier Langzeitpatienten. Alex war sich ziemlich sicher, daß der größte Teil der Klinikeinkünfte von Yankees stammte, die tageweise von Laredo herüberkamen. Als er sich im April angemeldet hatte, hatten die Amerikaner, die mexikanische Geheimmittel gegen die neuen ultraresistenten TBC-Erreger ergattern wollten, fast bis zur nächsten Straßenecke angestanden.
Dr. Mirabis Behandlungszimmer war lang und rechteckig und vollgestopft mit großen, mit Tüchern abgedeckten Geräten. Wie auch an jedem anderen Ort in der clínica erzeugte die Klimaanlage eine Eiseskälte, und es roch nach scharfen und wirkungsvollen Desinfektionsmitteln. Alex bedauerte, keine fotonovela aus seinem Zimmer mitgenommen zu haben. Er gab zwar vor, die plumpe und gewaltdurchtränkte Pornographie der novelas zu verachten, ihr komisch verzerrtes Gossenspanisch war jedoch von einigem philosophischem Interesse.
Concepcíon öffnete die Tür und trat ein. Hinter ihr kam Dr. Mirabi, in der Hand das allgegenwärtige Notepad. Alex hegte den starken Verdacht, daß Dr. Mirabi trotz seines entfernt islamischen Nachnamens in Wirklichkeit Ungar war.
Dr. Mirabi tippte mit einem schicken schwarzen Stift auf die Glasoberfläche des Notepads und betrachtete das Ergebnis. »Nun, Alex«, meinte er munter in nicht akzentfreiem Englisch, »wie es aussieht, haben wir diesen elenden Streptokokkus ein für allemal besiegt.«
»Das stimmt«, sagte Alex. »Ich hatte schon ewig lang keinen Nachtschweiß mehr.«
»Das ist ein guter Schritt nach vorn, ja wirklich«, meinte Dr. Mirabi in aufmunterndem Ton. »Selbstverständlich war diese Infektion nur das Krisensymptom Ihres Syndroms. Im nächsten Stadium Ihrer Genesung« - er konsultierte das Notepad - »geht es um Ihre chronische Verschleimung. Wir müssen uns mit der chronischen Schleimabsonderung befassen, Alex. Zu Anfang war nicht ausgeschlossen, daß es sich um eine schützende Schleimabsonderung handelte, aber jetzt ist Ihr Stoffwechsel belastet. Wenn der chronische Schleim verschwunden ist und die Tuberkel bereinigt… gereinigt sind…« Er zögerte. »Sagt man eigentlich ›bereinigt‹ oder ›gereinigt‹?«
»Geht beides«, sagte Alex.
»Danke«, sagte der Arzt. »Wenn der chronische Schleim erst einmal von der Lungenoberfläche abgekratzt wurde, können wir die Membranen direkt behandeln. Ihre Lungenmembranen sind natürlich geschädigt, schwer zellular geschädigt, aber wir kommen an die geschädigten Oberflächen erst heran, wenn der Schleim entfernt ist.« Er blickte Alex ernst über den Brillenrand hinweg an. »Ihr chronischer Schleim ist stark kontaminiert, wissen Sie! Von jahrelang eingeatmeten schädlichen Gasen und Partikeln. Von Umweltgiften, allergieauslösenden Pollen, Rauchpartikeln, Viren und Bakterien. Die haben sich alle mit dem chronischen Schleim verbunden. Wenn Ihre Lunge mit dem Intubationskatheter saubergeschabt ist, dann wird sie wieder wie die eines Neugeborenen sein!« Er lächelte.
Alex nickte wortlos.
»Zunächst wird es unangenehm für Sie sein, aber anschließend werden Sie sich ganz herrlich fühlen.«
»Brauche ich eine Betäubung?« fragte Alex.
»Nein, Alex. Es kommt darauf an, daß Sie während der Prozedur richtig atmen. Das Reinigungsmittel muß bis in die äußersten Lungenspitzen vordringen. Verstehen Sie?« Er legte eine Pause ein, tippte auf das Notepad. »Sind Sie ein guter Schwimmer, Alex?«
»Nein«, sagte Alex.
»Dann kennen Sie ja das Gefühl, wenn man sich an Wasser verschluckt«, sagte der Arzt mit einem triumphierenden Nicken. »Den Erstickungsreflex. Wissen Sie, Alex, der Grund, warum die Natur einen dann würgen läßt, ist der, daß das Wasser nicht genügend Sauerstoff für die Lungen enthält. Die Flüssigkeit jedoch, mit der das Intubationskatheter ihre Lungen füllt, ist kein Wasser, Alex. Es ist eine dichte Silikonflüssigkeit. Da ist viel Sauerstoff drin gelöst, eine Menge Sauerstoff.« Dr. Mirabi lachte in sich hinein. »Wenn Sie still daliegen, ohne zu atmen, können Sie es mit dem Sauerstoff eines einzigen Lungeninhalts dieser Reinigungsflüssigkeit eine halbe Stunde aushalten! Es ist soviel Sauerstoff darin, daß Sie zunächst das Gefühl haben werden, zu hyperventilieren.«
»Ich muß das Zeug irgendwie inhalieren, stimmt's?«
»Nicht ganz. Es ist zu dicht, um es zu inhalieren. Wir wollen auch nicht, daß es in Ihre Nebenhöhlen eindringt.« Der Arzt runzelte die Stirn. »Wir müssen die Flüssigkeit in Ihre Lunge einfüllen, ganz langsam.«
»Ich verstehe.«
»Wir führen einen dünnen Schlauch ein, durch den Mund und am Kehldeckel vorbei. Am Ende des Schlauchs befindet sich ein örtliches Betäubungsmittel, so daß der Schmerz am Kehldeckel nicht lange anhält… Sie müssen während der Prozedur ganz still liegen, müssen sich vollständig entspannen und dürfen nur auf meine Anweisung hin atmen.«
Alex nickte.
»Das Gefühl ist zunächst sehr ungewohnt, aber es besteht keine Gefahr. Sie müssen sich darauf einstellen, die Prozedur innerlich zu akzeptieren. Wenn Sie die Flüssigkeit aushusten, müssen wir wieder von vorn anfangen.«
»Doktor«, sagte Alex, »Sie brauchen mir nicht zuzureden. Ich habe keine Angst. Das können Sie mir glauben. Ich breche die Prozedur nicht ab. Ich breche niemals etwas vorzeitig ab. Wenn ich das täte, wäre ich jetzt nicht hier, oder?«
»Sie werden einige Unannehmlichkeiten haben.«
»Das ist nichts Neues. Davor habe ich auch keine Angst.«
»Ausgezeichnet, Alex.« Dr. Mirabi tätschelte Alex' Schulter. »Dann fangen wir jetzt an. Bitte legen Sie sich auf den Behandlungstisch.«
Concepcíon half Alex, sich auf den Tisch mit den Lederscharnieren zu legen. Sie tippte mit dem Fuß auf ein Pedal. Unter dem Fußboden winselte ein Schneckengetriebe. Der Tisch senkte sich in Höhe von Alex' Hüften und hob sich unter seinem Rücken, bis er einen rechten Winkel bildete. Alex hustete zweimal.
Dr. Mirabi streifte transparente Handschuhe über, packte energisch eines der stoffverhüllten Geräte aus und machte sich an den Schaltern zu schaffen. Er öffnete einen Schrank, holte zwei hellgelbe Aerosol-Behälter hervor und schob diese in die entsprechenden Sockel an der Oberseite des Geräts. Er befestigte durchsichtige Plastikschläuche an den Behältern. Als er diese öffnete, vernahm man ein kurzes pneumatisches Zischen.
»Wir erwärmen die Flüssigkeit auf Bluttemperatur«, erklärte Dr. Mirabi. »Damit die Tuberkel keinen Wärmeschock erleiden. Die Wärme hilft auch dabei, die chronische Verschleimung effektiver aufzulösen. Effizienter? Sagt man effektiven oder ›effizienter‹?«
»Das sind Synonyme«, meinte Alex. »Könnte es passieren, daß ich mich übergebe? Das ist mein Lieblingspyjama.«
Concepcíon zog ihm den Pyjama aus, dann legte sie ihm energisch ein papierenes Op-Hemd um. Sie schnallte ihn mit Stoffgurten am Tisch fest. Dr. Mirabi näherte sich ihm mit dem weichen Plastikrüssel des mit rosa Paste beschmierten Katheters. »Öffnen Sie weit den Mund, kosten sie nicht vom Betäubungsmittel«, warnte er. Alex bekam trotzdem eine reichliche Portion von der Paste auf die Zungenwurzel ab, die augenblicklich so taub wurde wie eine abgeschnittene Rinderzunge auf dem Hackblock eines Metzgers.
Der Rüssel bahnte sich schmerzhaft einen Weg durch seine Kehle. Alex spürte, wie das dicke Ventil in seiner Brust hüpfte und flatterte, als der Schlauch Kontakt bekam und sich weiterzwängte. Dann setzte die Betäubung ein, und ein großer Fleischklumpen hinter seinem Herzen wurde einfach gefühllos, ging ein ins Nichts wie ein Kerngehäuse, das mechanisch aus einem Apfel gestanzt wurde.
Tränen traten ihm in die Augen. Er hörte eher, wie Dr. Mirabi Schalter drückte, als daß er es sah. Dann kam die Hitze.
Er hatte gar nicht gewußt, daß Blut so heiß war. Die Flüssigkeit war heißer als Blut und viel, viel schwerer, wie zischendes, weiches, geschmolzenes Blei. Alex sah, wie die Flüssigkeit durch den Schlauch in ihn hineinfloß. Sie hatte eine künstliche, blaugrüne Färbung. »Atmen!« rief Dr. Mirabi.
Alex schnappte nach Luft. Ein schauerlicher Rülpser löste sich tief in seiner Kehle, etwa wie der Schrei eines überdimensionalen Ochsenfroschs. Einen Moment lang wollte er lachen; sein Zwerchfell stemmte sich vergeblich gegen das flüssige Gewicht in seinem Innern, dann erschlaffte es.
» El niño tiene un bulto en la garganta «, meinte Concepcíon im Plauderton. Sie legte ihm ihre latexumhüllte Hand auf die Stirn. »Muy doloroso.«
»Poco a poco«, sagte Dr. Mirabi gestikulierend. Das Schneckengetriebe unter dem Tisch arbeitete, und Alex wurde in eine sitzende Haltung emporgehoben, wobei sich die Flüssigkeit in ihm mit der darmblähenden Trägheit eines Mahls mit neun Gängen verlagerte. Die Luft platzte zwischen seinen von Klammern gehaltenen Lippen hervor, und heißer, gummiartiger Schaum stieg zum oberen Gaumen hoch.
»Gut«, sagte Dr. Mirabi. »Atmen!«
Alex versuchte es erneut, mit hervorquellenden Augen. Sein Rückgrat knackte hörbar, und er fühlte, wie noch mehr dieser großen, widerlichen Luftblasen aufstiegen, stinkende alte Blasen wie vom Grund von LaBrea.
Dann, auf einmal, erreichte der Sauerstoff das Gehirn. Alex' Hals und Wangen röteten sich wie bei einem Orgasmus. Einen köstlichen Moment lang vergaß er, was es bedeutete, krank zu sein. Er fühlte sich wundervoll. Er fühlte sich frei. Er fühlte sich losgelöst. Er war sich ziemlich sicher, daß er jeden Moment sterben würde.
Er versuchte zu sprechen, irgend etwas daherzuplappern - einen Dank vielleicht, oder wenigstens ein paar Worte oder einen wilden Schrei nach mehr -, doch es kam nichts heraus. Seine Lunge war wie aus Gips und Knochenmehl gegossen, bis zum Rand angefüllt mit heißem Flüssiggummi. Seine Muskeln stemmten sich gegen die beiden straff gespannten Beutel voller Flüssigkeit wie Fäuste, die zwei Tennisbälle umklammerten, und in seinen Ohren war ein Dröhnen, und dann wurde es schwarz um ihn. Auf einmal hörte er sein mühsam schlagendes Herz, wumm-wumm, wumm-wumm, wobei jede Erschütterung der Herzkammern durch die mit Flüssigkeit gefüllten Lungenflügel mit dröhnender Unterwasserklarheit weitergeleitet wurde.
Und dann hörte das Schlagen auf.
Am Abend des 10. Mai erkundete Jane Unger ihr Ziel unter dem Vorwand, Heroin kaufen zu wollen. Sie verbrachte eine halbe Stunde in der Schlange vor der Klinik, in Gesellschaft elender, asthmatischer Yankees von der anderen Seite der Grenze. Die vor der Klinik schlangestehenden Kunden waren die schäbigsten, gruseligsten, erbärmlichsten Leute, die sie je gesehen hatte, ohne daß sie Kriminelle gewesen wären. Das Aussehen wirklicher Krimineller war Jane vertraut, denn das weitverzweigte Netzwerk der ehemaligen texanischen Gefängnisse hatte man von Verbrechern geleert und in Quarantäne–Zentren und Notunterkünfte umgewandelt. Die ehemaligen Insassen des texanischen Gulag, die wirklichen Kriminellen, wurden heutzutage mittels Software in Schranken gehalten. Die verurteilten Verbrecher mit ihren manipulationssicheren Haftverschonungs-Manschetten konnten nicht nach Nuevo Laredo kommen, denn sie waren durch die Ortungssoftware der Regierung aufs andere Ufer des Rio Grande verbannt. Niemand in der Schlange vor der Klinik trug eine Ortungsmanschette. Man sah ihnen jedoch deutlich an, daß sie unter den Trägern viele gute Freunde hatten.
Die amerikanischen Kunden trugen ausnahmslos unheimlich wirkende Atemmasken. Wahrscheinlich um sich nicht anzustecken. Oder damit sie niemanden ansteckten. Oder vielleicht auch nur, um beim Drogenkauf ihre Identität zu verbergen.
Die älteren Kunden trugen schlichte gerippte Atemmasken in antiseptischem Weiß. Die jüngeren bevorzugten kompliziert geriffelte Umschnallmasken in bunten Designerfarben.
Die Schlange der Amerikaner rückte stetig vor, abgeschirmt von zwei mexikanischen Cops, die der zahlenden Kundschaft die einheimischen Straßengauner vom Leibe hielten. Jane rückte geduldig bis zur Eingangstreppe der Klinik vor, durch die Doppeltür hindurch und bis zu der vergitterten, kugelsicheren Glasscheibe der Medikamentenausgabe.
Dort erfuhr Jane, daß die Klinik kein ›braunes mexikanisches Heroin‹ verkaufte. Offenbar hatte man überhaupt kein Heroin auf Lager, da für diesen legendären Stoff bei Leuten mit Erkrankungen der Atemwege nur sehr wenig Nachfrage bestand.
Jane schob eine private Kreditkarte durch den Schlitz unter dem Fenster. Der Apotheker zog Janes Karte durchs Lesegerät, studierte die Meldung des Netzwerks und zeigte auf einmal echtes Interesse. Jane wurde höflich aus der Schlange herausgebeten und dem Vorgesetzten des Apothekers vorgestellt, der sie in sein Büro hinauf geleitete. Dort zeigte er ihr ein Fläschchen mit einem moderneren Analgetikum, ein Designer- Endorphin, tausendmal wirkungsvoller als Morphium. Als er ihr eine kostenlose Probeinjektion anbot, lehnte Jane dankend ab.
Daraufhin kam Jane zögernd auf das Thema Bestechung zu sprechen, worauf sich das Gesicht des Angestellten verdüsterte. Er rief einen Schläger eines privaten Sicherheitsdienstes herbei, der Jane aus dem Hintereingang der Klinik geleitete und ihr verbot, die Klinik noch einmal zu betreten.
Kurz Und Simpel, Schätzchen. Das berühmte KUSS-Akronym war seit jeher Janes liebster Leitfaden. Wenn man irgendwo Zugang finden wollte, mußte man den kurzen und simplen Weg beschreiten. Jemanden vom Klinikpersonal zu bestechen, war ihr als einfachste Lösung erschienen. Doch das war es nicht.
Wenigstens einer der Angestellten hatte sich bereitwillig bestechen lassen. Bei einem Ferngespräch aus Texas war es Jane gelungen, sich die Dame an der Vermittlung gefügig zu machen. Die Angestellte hatte Janes elektronisches Geld im Austausch gegen zehn Minuten interne Telefonverbindung mit Freuden entgegengenommen.
Und auch an den Grundriß des Gebäudes war sie ziemlich leicht herangekommen; es hatte sich gezeigt, daß die Pläne öffentlich zugänglich waren. Außerdem war es nützlich gewesen, sich unter dem simplen Vorwand, Drogen kaufen zu wollen, in das Gebäude einzuschleichen. Dadurch hatte Jane ihre Vorstellungen von den inneren Räumlichkeiten bestätigt.
Aber wenn es um Alex ging, war nichts jemals einfach. Das Telefonat mit Alex hatte Jane klargemacht, daß Alex, der eigentlich ihr Verbündeter auf feindlichem Boden hätte sein sollen, wie gewöhnlich vollkommen nutzlos war.
Carol und Greg - Janes liebste Vertraute innerhalb der Storm Troupe - hatten sie gedrängt, sich möglichst einfacher Mittel zu bedienen. Diese ganze muskelprotzende Ninja-Nacht-und-Nebel-Romantik zu vergessen. Diese Masche funktionierte selbst dann so gut wie nie, wenn die U.S. Army sie probierte. Schlauer war es, persönlich in Nuevo Laredo aufzukreuzen, eine nicht zurückzuverfolgende elektronische Lastschriftkarte vorzulegen und dem Nachtwächter zu sagen, entweder Alejandro Unger, oder No hay dinero. Die Chancen standen gut, daß der Nachtwächter Alex gegen etwa drei Monatsgehälter in Landeswährung herausrücken würde. Später konnte man so tun, als habe der Patient das Gebäude aus eigener Kraft verlassen. Das war ein netter und geradliniger Plan. Eine strafrechtliche Verfolgung wäre kaum möglich. Und wenn alles schiefging und in einem totalen Debakel endete, würde es so später erheblich besser aussehen.
Andererseits war das Vorhaben, in eine mexikanische Schwarzmarktklinik einzubrechen und einen Patienten zu entführen, genau die Art überkompliziertes Manöver, das später niemals besser aussah.
Es gab einmal eine Zeit in Jane Ungers Leben, als sie sich viele Gedanken über ›später‹ gemacht hatte. Aber diese Zeit war vorbei, und das ›Später‹ hatte seinen ganzen Reiz verloren. Sie war zwölfhundert Kilometer an einem Tag gereist, und jetzt war sie allein in einer dunklen Gasse in einem fremden Land und bereitete sich darauf vor, ohne fremde Unterstützung in ein Krankenhaus einzubrechen. Und wenn sie nicht auf frischer Tat ertappt wurde, war sie ziemlich sicher, daß sie damit durchkommen würde.
Diese Gegend von Nuevo Laredo wurde von den Einheimischen treffenderweise ›Salsipuedes‹ oder ›Lauf-weg-wenn-du-kannst‹ genannt. Abgesehen von Alex' properer, aber bescheidener Klinik gab es hier noch zwei weitere mit naiven Gringos vollgestopfte florierende Krankenhäuser, außerdem ein grauenhaftes öffentliches Krankenhaus, eine große, infizierte Todeszone, die von den Überresten der mexikanischen Verwaltung äußerst schlecht gemanagt wurde. Jane beobachtete, wie ein mit einem abblätternden roten Kreuz beschrifteter ramponierter Robotlaster vorbeirumpelte. Dann schaute sie zu, wie ihre Hände zitterten. Ihre unlackierten Fingernägel zeigten eine elfenbeinerne Blässe und vibrierten nervös. Den gleichen Bammel hatte sie immer vor einer Sturmjagd. Jane war froh über diesen Bammel, die Angst und die durch ihre Nerven strömende Energie. Sie wußte, daß der Bammel wie Trockeneis wegschmelzen würde, wenn es endlich losging. Das hatte sie im letzten Jahr über sich gelernt. Es war gut, das zu wissen.
Jane überprüfte ein letztes Mal ihre Ausrüstung. Klebstoffpistole, Dekupiersäge, Bleistifttaschenlampe, Handy, Brecheisen aus Keramik - alles mit Haken und Schnallen an ihrem Webgürtel befestigt und unter dem weiten Rettungsanzug aus Papier verborgen. Sie schloß den Reißverschluß des Anzugs über den kurzen Jeans und dem T-Shirt aus Baumwolle bis zum Hals. Sie streifte sich eine reinweiße Atemmaske über.
Dann durchtrennte sie die Hauptstromleitung der Klinik.
Oben am Strommast zischelte kurz Thermit, und im halben Stadtteil fiel das Licht aus. Jane fluchte hinter der Maske.
Offenbar hatte es im städtischen Stromnetz von Nuevo Laredo in letzter Zeit Veränderungen gegeben. Jane Ungers erster Anschlag war alles andere als chirurgisch gewesen.
»Nicht meine Schuld«, murmelte sie. Ständig lungerten mexikanische Starkstromtechniker herum; und die Leute stahlen auch städtischen Strom, das Netz wurde hier auf alle möglichen Arten illegal angezapft. - Die Stromklauer wurden diablitos genannt, auch wieder ein treffender Name, in Anbetracht der Tatsache, daß die ganze Welt dabei war, zum Teufel zu gehen. - Jedenfalls würde es keine große Sache sein, den Schaden zu beheben.
Gregs Thermitbombe hatte tatsächlich funktioniert. Alle paar Wochen ließ Greg irgendwelche machohaften Andeutungen über seine militärische Vergangenheit fallen, in der er angeblich Anschläge gegen Gebäude durchgeführt hatte. Bis jetzt hatte Jane ihm nicht ganz geglaubt.
Jane streifte Dekontaminationshüllen aus Papier über ihre Wanderstiefel. Sie zurrte die Stiefelhüllen über den Knöcheln fest, dann huschte sie über die dunkle, mit glänzenden Pfützen bedeckte Straße. Sie stieg die drei Stufen einer Steintreppe empor, betrat den nun stockdunklen Alkoven, in dem der Hintereingang der Klinik verborgen war, und musterte die Straße. Keine Autos, keine Menschen, keine sichtbaren Augenzeugen… Jane zog sich eine transparente Regenkapuze über den Kopf und verknotete sie. Dann riß sie eine Papiertüte auf und holte ein Paar fester OP-Handschuhe aus Plastik heraus.
Sie klatschte mit der flachen Hand auf den stählernen Türrahmen.
Die Kliniktür öffnete sich bebend.
Jane hatte die Tür bereits geöffnet, als sie die Klinik verlassen hatte. Sie hatte ihre Eskorte zwei entscheidende Sekunden lang abgelenkt und das Tastaturschloß des Ausgangs geschickt mit einem raschen, geheimen Schuß Klebstoff blockiert. Jane hatte die Aerosoldose in der hohlen Hand verborgen gehabt, ein winziges Ding, kaum größer als ein Pistolenmagazin. Klebstoffspray war einer von Carols Lieblingstricks, das hatte Jane von ihr. Was Carol alles mit Klebstoffspray anstellte, grenzte schon an Hexerei.
Ungeachtet des Stromausfalls wurde das Tastaturschloß noch immer über Batterie mit Energie versorgt - die Tür nahm fälschlicherweise bloß an, daß es funktionierte. Smarte Geräte waren smart genug, manchmal wirklich dämliche Schnitzer zu machen.
Jane machte die Tür behutsam hinter sich zu. Im Innern des Gebäudes war es kühl, stockdunkel und still wie in einer Gruft. Das war gut, denn sie hatte mit den luftundurchlässigen Handschuhen, der Kapuze, dem Overall, der Atemmaske und den Stiefeln augenblicklich wie verrückt zu schwitzen begonnen. In ihren Achselgruben prickelte Angstschweiß, als würde sie dort tätowiert. Bullen - oder schlimmer noch, Privatschnüffler der Industrie - reichten heutzutage schon die winzigsten Beweismittel. Fingerabdrücke, Schuhabdrücke, ausgefallene Haare, ein Stoff-Fussel, ein lausiges Fitzelchen DNA…
Jane griff durch einen Schlitz hinter der Gesäßtasche ihres Papieroveralls. Sie löste die Bleistifttaschenlampe vom Webgürtel. Die kleine Lampe klickte zuverlässig unter ihrem Daumen, und ein rötlicher Strahl erhellte den Flur. Jane trat einen Schritt in den Korridor vor, zwei, drei, dann fiel die Angst vollkommen von ihr ab, und halb rutschte, halb hüpfte sie in ihren feuchten Stiefelüberzügen über die Keramikfliesen.
Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ein Einbruch so erregend sein würde. Sie war schon in vielen verfallenen Gebäuden gewesen - wie jeder ihrer Generation -, aber sie war noch nie in ein benutztes eingebrochen. Eine verruchte Freude überkam sie wie ein langer, kalter Kuß auf den Nacken.
Jane probierte die erste Tür zu ihrer Linken. Der Knauf gab unter ihren latexumhüllten Fingern nach - abgeschlossen. Jane hatte eine akkubetriebene Dekupiersäge am Gürtel befestigt, die das Schloß durchschneiden würde wie ein Messer eine Hochzeitstorte, und einen Moment lang arbeitete ihre linke Hand unter dem Papieroverall, und sie berührte den angenehmen Noppengriff der Säge. Dann hielt sie inne. Klugerweise widerstand sie dem Impuls, aus einer Laune heraus in den Raum einzudringen. Daß man Alex die Nacht über einschloß, war bei einem Nachtschwärmer wie Alex eher unwahrscheinlich. Der dickköpfige, unausstehliche Nachtschwärmer Alex. Nicht mal an der Schwelle des Todes würde Alex davon ablassen.
Die nächste Tür. Unverschlossen. Leer.
Die nächste Tür. Sie war ebenfalls unverschlossen. Irgendwelcher Hausmeisterbedarf, Putzlappen, Kannen und Papier. Ein guter Ort, um gegebenenfalls zur Ablenkung Feuer zu legen.
Die nächste Tür. In diesem Raum stank es. Wie nach Hustensaft mit Absinth. Kleine rotäugige Geräte an den Wänden und auf dem Boden, von Akkus für den Standby-Betrieb mit Strom versorgt. Janes trübes rotes Licht schwenkte über ein großes leeres Bett, dann fiel es auf ein erschreckendes Gewirr von Schatten - eine halb verdorrte, riesenhafte Topfpflanze.
Sie hatte ihren Bruder noch nicht gefunden, spürte aber seine Nähe. Sie machte die Tür behutsam hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Gestank reizte ihre Schleimhäute wie billiger Whisky. Jane hielt den Atem an und schwenkte die Taschenlampe. Ein Fernseher. Ein großer Kleiderständer, der an eine überdimensionale Mangel erinnerte… eine Garderobe… verstreute Tonbandkassetten und Zeitschriften…
Irgend etwas tropfte. Ein öliges, zähes Tropfen, in Bodenhöhe. Es kam von der großen Hosenmangel. Jane näherte sich dem Gerät und leuchtete über den Boden. Da war eine Art Bettpfanne.
Jane ließ sich auf ein Knie nieder. Es war ein weißer Keramiktopf, zur Hälfte mit einer dunklen, widerlichen Flüssigkeit gefüllt, eine Art zähes Schmieröl. Eine körnige Substanz wie feiner Kaffeesatz war auf den Boden gesunken, während sich oben wie bei einer Suppe mit Eiereinlauf ekliger weißer, organischer Schaum gebildet hatte… Vor Janes Augen plumpste plötzlich ein dünner Batzen von dem Zeug in den Topf.
Sie schwenkte die Lampe nach oben. Sie erblickte zwei weiße menschliche Zahnreihen. Einen menschlichen Mund, mit verzerrten weißen Lippen und einer steifen blauen Zunge. Der Kopf war bandagiert, ein dicker, gepolsterter Gurt hielt die Stirn. Zwischen die klaffenden Kiefer hatte man eine Art weiches Gummigeschirr gesteckt…
Sie hatten ihn mit dem Kopf nach unten an ein Gestell gebunden. Beide Schultern waren festgegurtet, beide Arme mit Handschellen an den Seiten fixiert, der Oberkörper war auf der gepolsterten Oberfläche festgeschnallt. Seine Knie waren gefesselt, seine Knöchel steckten in Handschellen. Das ganze Gestell war auf zwei verchromten Federscharnieren aufrecht gekippt. Seine bleichen, nackten Füße waren wie zwei magere Tiere. Unmittelbar über dem Boden hing sein bandagierter Kopf.
Sie ließen ihn auslaufen.
Jane trat rasch zwei Schritte zurück und schlug sich die plastikumhüllte Hand vor den Mund.
Einen Moment lang kämpfte sie gegen die Angst an und drängte sie zurück. Und dann wehrte sie sich gegen den Ekel und besiegte auch den.
Jane zwang sich, wieder ans Gestell zu treten, dann legte sie Alex die behandschuhte Hand seitlich an den Hals. Er war fiebrig heiß und glitschig von Schweiß.
Er war am Leben.
Jane untersuchte eine Weile das Gestell, wobei sich ihre Augen vor Zorn verengten. Die Angst und der Ekel waren verschwunden, doch gegen den jähen Ansturm von Haß kam sie nicht an. Die Vorrichtung war für die Schweinehunde, die ständig damit umgingen, wahrscheinlich leicht zu bedienen. Jane hatte keine Zeit, die Bedienung zu erlernen.
Sie löste die Sperriegel an den unteren Walzrädern, schob das ganze Gerät neben das große Bett und warf es mitsamt Alex mit einem wütenden, heftigen Stoß aufs Bett.
Die Brustgurte machten keine Schwierigkeiten. Bloß Klettverschlüsse. Die gepolsterten Schnappriegel an Arm- und Fußgelenken bereiteten schon größere Schwierigkeiten: ein komplizierter, mies konstruierter Flip-Flop-Schließmechanismus. Jane riß die Säge heraus und hatte alle vier Vorrichtungen in jeweils zehn Sekunden durchtrennt. Dabei ertönte ein Höllenlärm - ein Winseln und ein gedämpftes Rattern, und es roch durchdringend nach versengtem und geschmolzenem Plastik. Eigentlich kein besonders durchdringender Lärm, aber in einem lichtlosen Gebäude klang er höllisch laut. Jemand könnte nachsehen kommen. Jane tastete nach der Klebstoffpistole im Holster hinten am Gürtel.
Als der letzte Gurt durchtrennt war, rutschte Alex von dem Gestell auf ihren Schoß. Sie drehte ihn auf den Rücken und hob seine Augenlider an. Kalt, so kalt wie eine Makrele, auch wenn seine fiebrige Haut so heiß war wie die rasierte Haut eines Laborkaninchens… Sie würde ihn nach draußen tragen müssen.
Nun, als sie Alex das letzte Mal getragen hatte, war er ziemlich leicht gewesen. Damals war er fünf gewesen und sie zehn. Jane kniete sich aufs Bett und befestigte die Säge sorgfältig wieder am Gürtel unter dem Papieroverall. Und dann überlegte sie düster, wieviel Kraft sie das kosten würde.
Jane wälzte sich vom Bett auf die Beine, packte ihren Bruder bei den schlanken Handgelenken und wuchtete ihn hoch.
Er rutschte wie eine leere Hülse über die Laken. Jane rammte ihm die linke Schulter unter die Taille und schulterte ihn im Feuerwehrgriff, indem sie ihren linken Arm hinten um seine Knie schlang… Als sie ihn oben hatte, wurde ihr klar, daß ihre Kraft mehr als ausreichte. Ihr Bruder war nur noch Haut und Knochen.
Mit lautem Gurgeln floß etwas aus ihm heraus und bespritzte die Rückseite ihrer Beine.
Jane taumelte durch die Tür und auf den Korridor hinaus. Von oben vernahm sie das Geräusch von Schritten und in der Ferne halblaute verwunderte Stimmen… Sie stürmte über den Korridor zum Ausgang und zog mit der rechten Hand die aufgebrochene Tür auf. Als sie hindurchtaumelte, knallte der kraftlos herabbaumelnde Kopf ihres Bruders gegen den Türrahmen.
Sie zog die Tür hinter sich zu, dann kniete sie auf dem Pflasterboden des Alkovens nieder. Alex lag in seinem schwarzen Krankenhaushemd wie knochenlos über ihrer Schulter. Sie ließ ihn aufs eiskalte Steinpflaster gleiten.
Schwer atmend tastete Jane am Webgürtel herum und riß das Handy heraus. Sie drückte mit dem Daumen kleine leuchtende Ziffern.
»Hallo«, meldete sich munter ihr Wagen. »Hier spricht Verfolgungsfahrzeug Charlie. Im Moment habe ich keine Passagiere, aber wenn Sie über eine ID verfügen, können Sie mir mündliche Anweisungen erteilen. Hinterlassen Sie andernfalls eine Nachricht nach dem Piepton.«
Jane drückte die Ziffern 56033.
»Hallo, Juanita«, antwortete der Wagen.
»Hol mich ab«, keuchte Jane. »Du weißt, wo. Beeil dich!«
Sie hatte ganz vergessen, wie schnell Charlie war, wenn er keine Passagiere an Bord hatte. Befreit von der Bürde, Menschenkörper vor zu großen Fliehkräften bewahren zu müssen, bewegte sich der Robotwagen wie eine wahnsinnige Fliege.
Begleitet vom scharfen Zischen der Pneumatik landete Charlie nach einem Zwanzig-Meter-Sprung vor ihr auf der Straße. Dann bewegte er sich geräuschvoll seitlich über das Pflaster.
»Hör auf, seitlich zu gehen«, befahl Jane. »Mach die Türen auf.« Sie preßte sich an die Wand des Alkovens, wuchtete Alex in der Hocke auf ihre noch unbenutzte und schmerzfreie Schulter und taumelte die Treppe hinunter. »Dreh dich um«, schnaufte sie.
Charlie wirbelte auf seinen sich ruckartig hin und her bewegenden kolbenbetriebenen Radspeichen mit mikroprozessorgesteuerter Präzision herum.
Jane schob ihren Bruder auf den Beifahrersitz, schloß die Tür und trat keuchend zurück. Ihre Knie zitterten so sehr, daß sie meinte, zu schwach zum Gehen zu sein.
»Dreh dich noch mal um!« befahl sie. Charlie schwenkte auf der feuchten, unbeleuchteten Straße akkurat herum. Jane kletterte zittrig auf den Fahrersitz. »Und jetzt beeil dich!«
»Erst, wenn du dich angeschnallt hast.«
»Na gut, dann fahr eben mit mäßiger Geschwindigkeit, solange ich mich anschnalle«, ächzte Jane. »Und hör auf, bei mir Jerrys Sprachinterface zu benutzen.«
»Wenn ich mich außerhalb der Reichweite des Uplinks der Truppe befinde und im Normalmodus arbeite, muß ich Jerrys Sprachinterface benutzen«, sagte der Wagen und rollte in gemächlichem Tempo die Straße entlang.
Jane bemühte sich, den schlaffen Körper ihres Bruders mit den Wagengurten festzuschnallen. Sein blondschopfiger Kopf hing kraftlos zur Seite wie ein Gänseblümchen, und seine Arme waren wie zwei Strümpfe aus Wachs. Es hatte keinen Sinn, es war einfach zu eng im Wagen.
Jane ließ sich frustriert auf den Sitz zurückfallen. »Kannst du denn mein Interface benutzen, wenn du auf Normalmodus umschaltest?« fragte sie.
»HMMMMMMMM…«, machte der Wagen volle fünfzehn Sekunden lang. »Ich glaube, das wäre möglich, wenn wir anhalten und ich neu boote.«
»Nein, nein!« sagte Jane. »Komm bloß nicht auf die Idee, neu zu booten! Bring uns einfach auf dem Weg aus der Stadt, den du gespeichert hast.«
»Okay, Juanita, das werd ich machen.«
»Allmächtiger«, sagte Jane. Sie klappte das Lenkrad ein, um mehr Platz zu haben, und schaffte es, ihren Bruder aufrecht an die Beifahrertür zu zwängen. Daraufhin hustete er zweimal, und blauer Speichel trat auf seine Lippen.
Jane pellte sich die Plastikhandschuhe von den Händen, dann streifte sie die Regenkapuze ab. Das schweißnasse Haar klebte ihr am Schädel - sie zupfte mit feuchten Schwitzfingern daran. Bis sie Alex hatte schleppen müssen, war alles gut gegangen.
Sie riß sich die Papierhüllen von den Stiefeln, dann schälte sie sich zur Verwunderung der späten Passanten auf der Avenida Guerrero unter Verrenkungen aus dem Papieroverall, bis sie in Hemd und Shorts dasaß.
Jane stopfte Stiefelüberzieher, Handschuhe und den Papieroverall systematisch in die Regenkapuze. Sie zog das Zugband der Kapuze fest an und knüllte die Beweismittel mehrmals zusammen. Sie entledigte sich des Sägeblatts - an dem jetzt belastende Plastikspuren hafteten - und vorsichtshalber auch des Klebstoffbehälters. Falls die Krankenhausleute über den Einbruch erbost genug waren, einen guten Privatschnüffler anzuheuern, könnte es ihnen gelingen, die Klebstoffcharge zurückzuverfolgen. Jane warf gute Hardware nur ungern weg, aber bei reiflicher Überlegung war das weniger ärgerlich, als unten im juzgado in mexikanische elektronische Handschellen gelegt zu werden.
Sie löste sämtliche Werkzeuge vom Gürtel und verstaute Werkzeuge und Gürtel sorgfältig im metallenen Werkzeugkasten auf dem Rücksitz.
Der Wagen überquerte vor der Mercado Maclovia Herrera eine Kreuzung und hielt auf die alte internationale Brücke zu.
Sie hoffte, niemand nähme Notiz von Charlie. In einer dunklen Nacht mochte der Wagen durchaus als gewöhnliches Schmugglerfahrzeug durchgehen, die hier zu häufig waren, als daß sie in den Städten beiderseits der Grenze sonderlich aufgefallen wären.
Jane steuerte den finstersten Winkel eines Parkplatzes an, der neben einem gigantischen, florierenden Tabaksupermarkt lag. Selbst zu dieser späten Stunde qualmten sich noch Trauben von Yankee-Süchtigen die Lungen voll. Jane riß einen weiteren Rettungsanzug aus Papier aus dem Karton der U.S.-Regierung und hatte es nach siebenminütiger Anstrengung geschafft, Alex' Arme und Beine im Overall unterzubringen und den Reißverschluß bis zum Hals zu schließen. Sie hatte keine Schuhe für Alex. Sie hätte an die gottverdammten Schuhe denken sollen.
Als sie den Hochwasser führenden Rio Grande überquerten, packte Jane den Überrollbügel, stellte sich auf den Sitz und warf sämtliche Beweismittel über das Geländer. Ihretwegen konnte man sie ruhig wegen Umweltverschmutzung verhaften. Oder wegen illegaler Entsorgung in einem Wasserlauf.
Jane fuhr an der amerikanischen Zollabfertigung vor. Ein ältlicher Zollbeamter kam heraus, mit langem, schneeweißem Haar, einem Walroßschnurrbart und einem handgeschnitzten Spazierstock aus Mahagoni. Er kam zu ihrem Wagen gehumpelt.
Als Jane sah, wie stolz und liebevoll der alte Herr die Uniformjacke gestopft und gestriegelt hatte, fand sie ihn spontan sympathisch.
»Hübscher Wagen«, meinte er gedehnt.
»Danke, Sir.«
Der Beamte tippte mit dem Spazierstock auf Charlies federgelagerte Antennen. »Aus alten Militärbeständen?«
»Yeah!« antwortete Jane vergnügt. »Eigentlich ist das ein ehemaliges Geländefahrzeug der American Special Forces.« Jane zögerte. »Es wurde dann ein wenig umgebaut.«
»Das sieht man…« Der Mann nickte, bewegte sich flink um das Fahrzeug herum. Charlie hatte nicht genug Platz für Schmugglerware. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Schmugglerfahrzeug hatte Charlie keinen Rumpf. Er hatte eine kurze, flache Karosserie, und der Antrieb war in die Radachsen, Speichen und Naben eingebaut. Charlie ähnelte praktisch einem doppelten Glassarg, der auf einer Spinne mit Rädern montiert war.
»Sie lassen den Wagen heute nacht alleine fahren, Miss?«
Der alte Mann hatte tatsächlich ›Miss‹ zu ihr gesagt. Jane konnte sich nicht erinnern, daß jemand sie seit ihrem zwölften Geburtstag mit ›Miss‹ angesprochen hätte. Der würdevolle Anachronismus des Mannes schmeichelte ihr. Sie lächelte ihn an.
»Ich habe einen Führerschein dafür«, sagte Jane. »Möchten Sie ihn sehen?«
»Schon gut«, grummelte er. »Was ist mit dem Junior hier?«
»Große Party in der Stadt«, sagte Jane. »Er hat's zu toll getrieben, und jetzt ist er weggetreten. Sie wissen ja, wie das heute mit den Kids ist.«
Der Zollbeamte schaute sie mitleidsvoll an. »Das haben Sie doch bestimmt nicht so gemeint, Miss? Sie wollten bei der Wahrheit bleiben und mir erzählen, er sei krank, hab ich recht?«
Jane spürte, wie ihre Miene erstarrte.
Der alte Mann runzelte die Stirn. »Miss, damit kenne ich mich aus. Gott ist mein Zeuge, wie oft ich hier so etwas sehe. Ihr Freund ist krank, und er hat zuviel von wer weiß was für 'nem Zeug genommen… So was dulden wir nicht auf amerikanischem Boden… Und dafür haben wir verdammt gute Gründe…«
Jane sagte nichts.
»Ich erzähl Ihnen das nicht, bloß weil ich mich selber gern reden höre, wissen Sie.«
»Hören Sie, Officer«, sagte Jane. »Wir sind amerikanische Bürger. Wir sind keine Kriminellen.« Sie hielt ihr blankes Handgelenk hoch. »Wenn Sie uns hier abweisen, dann fahren wir zurück nach Mexiko. Aber wenn ich etwas vor Ihnen zu verbergen hätte, dann hätte ich doch wohl nicht hier gehalten, oder? Ich hätte nicht mal die Straße genommen. Das ist ein Geländewagen, okay? Ich kann damit den Fluß an jeder beliebigen Stelle überqueren und in zwei Stunden in San Antonio sein.«
Der Zollbeamte tippte mit dem Spazierstock gegen die Spitze seines polierten Schuhs.
»Wenn Sie mir einen Vortrag halten wollen, Officer, dann nur zu. Ich höre Ihnen zu. Aber bleiben Sie auf dem Boden der Tatsachen.«
Er schaute ihr kurz in die Augen, dann sah er weg und rieb sich über den Schnurrbart. »Der Wagen schwimmt auch, hm?«
»Natürlich schwimmt er. Ich weiß, das sieht aus wie massiver Stahl, aber das Metall ist überall geschäumt. Ohne die Batterien wiegt der ganze Wagen nur neunzig Kilo. Ich kann ihn ganz allein hochheben!«
Jane brach ab. Der alte Mann wirkte so niedergeschmettert, daß er ihr auf einmal leid tat. »Ach, kommen Sie, Officer. Ich erzähle Ihnen hier doch nichts Neues, oder? Haben Sie denn noch nie so ein Ding geschnappt?«
»Um die Wahrheit zu sagen, Miss, wir sind da gar nicht mehr hinterher. Lohnt sich nicht.« Er pellte einen Aufkleber von der Unterlage und klebte ihn auf Charlies vorderen Überrollbügel. »Nehmen Sie sich in Zukunft in acht.« Er winkte sie weiter.
Jane ließ den Wagen fahren. Kurz darauf hatten sie Laredo durchquert und befanden sich auf dem Highway. Obwohl sie eine Zehn-Stunden-Fahrt im Dunkeln vor sich hatte, fühlte sich Jane zu aufgedreht, um schlafen zu können. Sie wußte aus Erfahrung, daß sie wieder mal eine Nacht durchmachen würde. Bis acht Uhr morgens würde sie hellwach sein, dann vielleicht drei Stunden lang dösen und gleich wieder weitermachen, ohne daß es schlimmere Folgen hätte als eine leicht aufgekratzte Stimmung. Sie hatte noch nie gut geschlafen, und das Zusammenleben mit Jerry Mulcaheys Leuten hatte sie auch nicht gerade ruhiger werden lassen.
Als die Lichter von Laredo hinter ihr verblaßten, traten am Himmel die Sterne hervor. Es war eine klare Frühlingsnacht, am westlichen Horizont sah man kleine Federwölkchen. Sie hatte Jerry mal sagen hören, es sei ihm unangenehm, im Stockdunkeln autozufahren. Jerry war zweiunddreißig, und er erinnerte sich noch an die Zeit, als die Leute das Fahren größtenteils selbst erledigt hatten und als sogar die Roboter noch die Scheinwerfer anließen. Jane hingegen fand die Dunkelheit tröstlich. Wenn an Nachtfahrten irgend etwas langweilig war, dann die lästige Anstrengung, ein Lenkrad zu umklammern und mit steifem Nacken stundenlang in den schmalen
Scheinwerferkegel hineinzustarren. Nachts sah man den freien Himmel. Den weiten, dunklen Himmel von Texas, diesen gewaltigen Abgrund.
Und man hörte. Abgesehen vom stetigen Rauschen des Fahrtwinds war Charlie nahezu lautlos; da waren nur die Laufflächen aus Plastik, die sanft den Highway küßten, das reibungslose Dahingleiten auf Wellen aus Diamant. Jane hatte alles verklebt und festgezurrt, was am Wagen klappern konnte. Jane duldete es nicht, daß ihre Maschinen klapperten.
Jane hörte, wie Alex gurgelnd atmete. Sie schaltete die Innenbeleuchtung ein und untersuchte ihren Bruder ein zweites Mal. Im schwachen, bernsteinfarbenen Schein der Lampe sah er sehr schlecht aus. Selbst in Topform war Alex kein attraktiver Mann; hager, hohlbrüstig, glubschäugig, mit einer messerscharfen Nase und geschickten, schmalen, klauenartigen Vogelhänden. Aber so elend hatte er noch nie ausgesehen. Alex hatte sich in ein abstoßendes Wesen, einen zusammengebrochenen kleinen Gnom verwandelt. Das verfilzte, blonde Haar stand ihm wirr zu Berge, außerdem stank er. Nicht bloß nach Schweiß - Jane war an Leute gewohnt, die nach Schweiß und Rauch stanken. Der Körper ihres Bruders verströmte einen schwachen, aber deutlich wahrnehmbaren Geruch nach irgendwelchen Chemikalien. Man hatte ihn mit Betäubungsmitteln mariniert.
Sie berührte ihn an der Wange. Seine Haut war jetzt kühl und feucht, wie die Haut eines Tapioka-Puddings. In dem papierenen Rettungsoverall, den sie zwar frisch ausgepackt hatte, der aber bereits arg zerknüllt war, sah er aus wie ein Katastrophenopfer unter Schock, wie ein frisch geborgenes Unfallopfer. Wie jemand, der vollkommen auf die sofortige Hilfe anderer angewiesen war - was möglicherweise die eigenen Kräfte überstieg.
Jane stellte das Radio an, hörte sich eine Menge kryptischer Verkehrshinweise von Straßenüberwachungsanlagen, Navigationssendern und Amateurfunkern an, und stellte es wieder ab. Komisch, was aus den ganzen Sendern geworden war. Sie schaltete die Musikanlage des Wagens ein. Darin war jedes einzelne Musikstück gespeichert, das ihr jemals etwas bedeutet hatte, einschließlich der Stücke aus ihrer frühen Kindheit, die zu löschen sie sich nie aufgerafft hatte. Trotz der digitalen Sechzehn-Bit-Präzision umfaßten ihre sämtlichen Aufnahmen lediglich ein paar hundert Megabyte, nur ein Klacks im unermeßlichen Speicher einer modernen Musikanlage.
Jane spielte ein bißchen Thai-Pop ab, ein munteres, energiegeladenes Gedröhn und Geklimpere. Als sie noch Design studiert hatte, hatte ihr thailändische Popmusik viel bedeutet. Damals war es ihr so vorgekommen, als wären ein paar Dutzend wilde Kids in Bangkok die letzten Menschen auf Erden, die sich noch wirklich amüsieren konnten. Sie war nie dahintergekommen, warum sich dieser liebenswerte Ausbruch von Kreativität ausgerechnet in Bangkok ereignet hatte. Während sich Aids durch den riesigen menschlichen Körper von Asien fraß, war Bangkok sicherlich nicht besser dran gewesen als andere Orte. Offenbar waren die späten Zwanzigerjahre des zweiten Jahrtausends der Moment gewesen, da Bangkok weltweit geleuchtet hatte. Die Musik wirkte wahrhaft munter, sie war intelligent und klug, wie ein Geschenk an die Welt. Sie war so neu und frisch, und Jane hatte ihr zugehört und in den Knochen gespürt, was es hieß, eine Frau der 2020er zu sein, lebendig und hellwach.
Mittlerweile schrieb man das Jahr 2031. Die Musik war jetzt fern, wie ein abgestandener Rest Reiswein am Boden einer leeren Flasche. Sie berührte Jane noch immer, aber nicht mehr ihr ganzes Wesen. Die neuen Teile berührte sie nicht.
Als Alex erwachte, war es windig und dunkel. Eine schnelle, schmetternde Musik kroch ihm die Schienbeine hoch. Die Musik sickerte wie Sirup in seinen Schädel, und ihr Rhythmus trommelte ihn sanft wach. Mit dem Bewußtsein kam auch das Wiedererkennen; Popscheiße aus Thailand. Kein anderer Krach hatte diese exaltierte, hypnotisierende Eindringlichkeit.
Alex wandte den Kopf - mit einem schmerzlosen Quietschen tief in der Halswirbelsäule - und erblickte ohne große Überraschung seine Schwester. Im trüben bernsteinfarbenen Schein einer Kartenleuchte saß Juanita auf dem Fahrersitz. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, die Ellbogen auf die nackten, behaarten Knie gestützt, und sie mampfte Regierungsmüsli aus einer Papiertüte.
Der Himmel über ihren Köpfen war ein riesiges schwarzes Sternensieb.
Alex schloß wieder die Augen und atmete tief durch. Seine Lunge fühlte sich wirklich wundervoll an. Normalerweise waren seine Lungenflügel ein wattiges Gewebe aus Schmerz, zwei blutgetränkte Schwämme, die beiden größten Bürden seines Lebens. Aber jetzt hatten sie sich irgendwie in makellos saubere Beutel verwandelt, in knackige High-Tech-Säcke aus öligem Wachspapier, in wunderbar lebensspendende Organe. Alex hatte einen schlimmen Krampf im Gesäß, und seine Füße und Hände waren vom peitschenden Nachtwind dermaßen ausgekühlt, daß sie sich anfühlten wie die Extremitäten einer Wachsfigur, aber darauf kam es nicht an. Das war nebensächlich.
Er konnte einfach nicht glauben, wie wundervoll es sich anfühlte, einfach bloß dazusitzen und zu atmen.
Selbst seine Nase war frei. Seine Nebenhöhlen. Seine Nebenhöhlen fühlten sich an wie dampfgereinigt. Er roch den Wind. Der Wind führte den Geruch von Salbei mit sich, den inbrünstigen, bitteren Geruch einer zehntausendjährigen texanischen Wüste, die von wiederholten schweren Regenfällen ausgeflippt war. Er roch sogar das süße Aroma des staatlich subventionierten Diätzuckers an Juanitas malmenden Zähnen. Alles roch wundervoll.
Bloß er nicht.
Alex setzte sich anders hin und streckte sich. Sein Rückgrat knackte an vier verschiedenen Stellen, und das Blut strömte prickelnd in seine eingeschlafenen, nackten Füße zurück. Er hustete. Tief in seiner Brust schwappte eine dichte Flüssigkeit. Er hustete noch zweimal. In den Tuberkeln brodelte klebriges Zeug. Das Gefühl war äußerst merkwürdig und höchst interessant. Der Schleim, den sie in ihn hineingepumpt hatten, schmeckte ziemlich fies, überzog seine Zunge am hinteren Gaumen mit einer dicken, bitteren, widerlichen Schicht, aber die Wirkung auf seine Lunge und seinen Rachen war himmlisch. Er wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augen.
Er trug einen Rettungsanzug aus Papier. Das war tatsächlich das erste Mal, daß er einen trug, aber er hatte schon viele gesehen. Papieranzüge waren die Standardkleidung der Ausgestoßenen dieses Planeten. Ein moderner amerikanischer Rettungsanzug aus Papier, im Grunde völlig wertlos und zum einmaligen Gebrauch bestimmt, war ein richtiges High-Tech-Produkt. Allein schon davon, wie er sich darin bewegte, konnte Alex erkennen, daß in die Entwicklung des Anzugs die volle schöpferische Intelligenz eines Dutzends Katastrophenexperten der Regierung eingegangen war. Ganze Arbeitsjahre und unzählige Trillionen von CAD-CAM-Zyklen hatte die Entwicklung des Anzugs verschlungen, angefangen von den mikroskopisch kleinen luftdurchlässigen Papierporen bis zu den raffiniert-ergonomischen faltbaren Schultersäumen. Der Papieranzug war leicht und luftig, und obwohl er im Nachtwind ein wenig flatterte, hielt er Alex erstaunlich warm. Der Anzug erfüllte seinen Zweck besser, als man Papierkleidung eigentlich zugetraut hätte.
Trotzdem war es immer noch bloß Papierkleidung, und so gut funktionierte sie auch wieder nicht.
»Nett, was du da ausgesucht hast«, sagte Alex. Sein Kehlkopf war ölverklebt, und seine Stimme war ein verzerrtes Krächzen.
Juanita beugte sich vor, schaltete die Innenbeleuchtung ein und schaltete die Musik aus.
»Dann bist du also wach, hm?«
Alex nickte.
Juanita drückte einen weiteren Knopf am Armaturenbrett. Aus einem breiten Schlitz über der Windschutzscheibe platzte Stoff hervor und stülpte sich über ihre Köpfe. Der Stoff rauschte, flatterte, befestigte sich und verwandelte sich in ein Dach aus Schaumstoff. In eine sonnenverbrannte Kuppel aus steifem Stoff, der ebenso trocken und braun und zäh wirkte wie der Panzer einer Wüstenschildkröte.
Juanita drehte sich in der hellen, auf einmal windlosen Stille im Wageninnern zu Alex herum. »Wie fühlst du dich?«
»War schon mal schlimmer«, flüsterte Alex mühsam und grinste schwach. »Yeah. Ich fühl mich ganz gut.«
»Freut mich, das zu hören, Alex. Was wir vorhaben, ist nämlich kein Sonntagsspaziergang.«
Alex versuchte sich zu räuspern. An seinen Stimmbändern klebte blutwarmes Öl. »Wo sind wir?«
»Highway 83, Westtexas. Wir sind gerade an Junction vorbeigekommen und fahren Richtung San Angelo. Ich bringe dich zu mir nach Hause.« Juanita sah ihn an, als erwartete sie, daß er jeden Moment auseinanderfallen würde. »Eigentlich habe ich überhaupt kein Zuhause mehr. Aber ich bringe dich zu Leuten, bei denen du bleiben kannst.«
»Nett von dir, daß du mich vorher um Erlaubnis fragst, Janey.«
Sie schwieg.
Diese Art Schweigen war er nicht gewohnt von seiner Schwester. Es war kein gereiztes Schweigen. Und auch keine mühsam unterdrückte Wut. Ein tiefes, unnachgiebiges Schweigen.
Alex war perplex. Er hatte sich noch nie gut mit seiner Schwester verstanden, aber wenigstens hatte er es bisher immer geschafft, ihr Radar zu unterfliegen. Er hatte immer einen Draht zu ihr bekommen. Selbst wenn es hart auf hart kam, irgendein Fitzelchen von ihr bekam er immer mit den Zähnen zu packen.
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte er. »Die wollten mir doch bloß helfen.«
Schweigen.
»Du kannst mich nicht daran hindern, dorthin zurückzugehen.«
»Ich glaube nicht, daß du dorthin zurückgehen willst«, sagte Juanita. »In der Klinik wäre man wenig erfreut, dich wiederzusehen. Ich mußte gewaltsam eindringen, um dich rauszuholen. Ich hab mir gewaltsam Eintritt in das Gebäude verschafft und einen Wächter mit der Spritzpistole zugekleistert.«
»Du hast was?«
»Hast du schon mal jemanden zugekleistert gesehen? Kein schöner Anblick. Besonders dann, wenn er's direkt ins Gesicht bekommt.« Juanita warf sich eine Handvoll Müsli ein. »Anders ging's nicht, sonst hätte er geschrien«, sagte sie, mutwillig mampfend. »Ich mußte ihm die Nase mit Aceton freimachen. Sonst wäre er auf der Stelle erstickt.« Sie schluckte und lachte. »Ich würde gutes Geld drauf wetten, daß er immer noch an der Wand klebt.«
»Das soll wohl 'n Witz sein, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du sitzt doch hier neben mir, oder? Was glaubst du eigentlich, wie du in den Wagen gekommen bist? Dachtest du etwa, diese Banditen würden dich freiwillig gehen lassen? Als ich in dein Zimmer kam, warst du mit dem Kopf nach unten aufgehängt, du warst nackt, bewußtlos und an ein Metallgestell festgeschnallt.«
»Mein Gott.« Alex fuhr sich durchs Haar und schauderte. Sein Haar war schmutzig - sein ganzer Körper war schmutzig, verklebt von Fieberschweiß und Körperausdünstungen. »Willst du damit sagen, du bist in die Klinik eingebrochen? Du persönlich? Mann, Janey, hättest du sie denn nicht verklagen können oder so was?«
»Ich bin jetzt eine vielbeschäftigte Frau, Alex. Für Rechtsanwälte habe ich keine Zeit.« Juanita zog die Füße aus den Wanderstiefeln, ließ die Stiefel auf den Boden fallen und schlug die sockenbekleideten Füße auf dem Sitz unter. Als sie Alex anschaute, verengten sich ihre haselnußbraunen Augen.
»Ich schätze, es würde eine Menge Ärger geben, wenn du dorthin zurückgehen und mich bei den dortigen Behörden anschwärzen würdest.«
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte er.
»Du würdest mich doch nicht belangen oder so?«
»Na ja, ich würde die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nicht ganz ausschließen«, sagte Alex, »von Dads Vorstellungen über das Familienvermögen mal ganz zu schweigen… Aber die mexikanische Polizei würde ich bestimmt nicht auf meine Schwester hetzen. Was, zum Teufel, ist bloß in dich gefahren?«
»Einiges. Eine Menge.« Sie nickte. »Du wirst schon sehen.«
»Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
Sie lachte.
»Du färbst es nicht mehr«, fuhr er fort. »Das ist deine natürliche Haarfarbe, hab ich recht? Bräunlich. Gehst du nicht mehr zum Friseur?«
Er hatte ins Schwarze getroffen. »Ach, das ist gut, daß gerade du das sagst, Alejandro. Yeah, ich seh aus wie ein Relikt aus grauer Vorzeit, stimmt's? Ich seh aus wie 'ne Pennerin! Weißt du eigentlich, wie du aussiehst, mein Hübscher? Du siehst aus, als wärst du fünf Tage nach einem Hurrikan angeschwemmt worden. Du siehst aus wie 'ne beschissene Wasserleiche.« Sie hob die Stimme. »Ich habe deinen Arsch in letzter Minute aus der Grube gezogen! Ich bin gekleidet, um ein Verbrechen zu begehen, du Blödmann!«
»Früher hättest du auf jede Modenschau gepaßt, Janey.«
»Früher mal«, sagte sie. »Ich hatte ein paar Designerklamotten, eine Saison lang. Mann, du vergißt aber auch nie was.«
»Soweit ich zurückdenken kann, hattest du rotes Haar.«
»Wirklich? Na ja, vielleicht hatte ich rotes Haar mal nötig. Damals, als ich meine Identitätskrise hatte.«
Juanita steckte sich eine Strähne in den Mund, dann runzelte sie die Stirn. »Wir wollen doch mal etwas klarstellen. Ich weiß, daß du jederzeit über die Grenze zurück kannst, wenn du willst. Ich weiß alles über deine Szene, und ich weiß genug über deine beschissenen Schmugglerfreunde. Ich kann dich nicht davon abhalten. Ich will dich nicht mal davon abhalten.« Sie schnaubte. »Aber bevor du dich wieder in diesem Krankenhaus des Teufels anmeldest und dich kunstvoll um die Ecke bringen läßt, möchte ich dir etwas zeigen. Okay? Ich möchte, daß du siehst, was seit unserer letzten Begegnung mit mir passiert ist.«
Alex ließ sich ihren Vorschlag sorgfältig durch den Kopf gehen. Dann sagte er: »Ach, ja?«
»Ja! Der Wagen bringt uns zu einem Camp, und ich werde dir die Leute zeigen, mit denen ich zusammenlebe. Höchstwahrscheinlich werden sie dich hassen bis aufs Blut. Mich haben sie auch nicht sonderlich gemocht - zu Anfang.« Jane zuckte die Achseln. »Aber sie sind innen drin lebendig, Alex. Sie haben eine Aufgabe, die sich wirklich lohnt. Es sind gute Leute, das sind sie. Es sind die einzigen Leute, denen ich je begegnet bin, die ich wirklich respektiere.«
Alex versuchte diese bizarre Neuigkeit zu verarbeiten. »Sie sind doch nicht etwa religiös?«
Sie seufzte. »Nein, sie sind nicht religiös.«
»Dann geht es um irgendeinen Kult, hab ich recht? Du kannst mir nichts vormachen. Du wirkst irgendwie zu glücklich.«
»Nein, ich bin keinem beschissenen Kult beigetreten! Na ja, also gut - ich bin es. Die Truppe ist ein Kult. Irgendwie. Aber man hat keine Gehirnwäsche mit mir gemacht. Darum geht es nicht.«
Alex analysierte diese Bemerkung und speicherte sie ab. »Und worum geht's dann?«
»Ich bin verliebt.« Juanita griff in die Müslitüte. »Und das ist schließlich was anderes. Angeblich.«
»Du bist verliebt, Janey? Wirklich?«
»Ja. Bin ich.«
»Du?«
»Ja, verdammt noch mal, natürlich ich!«
»Okay, okay, tut mir leid.« Alex breitete die Arme aus. »Jetzt wird mir einiges klar. Ich kriege allmählich den Durchblick. Dein neuer Freund mag kein rotes Haar?«
»Ich hab einfach aufgehört, mein Haar rot zu färben. Vor einem Jahr. Es paßte nicht mehr zu mir.«
»Was mag dein Freund dann? Abgesehen von dir natürlich.«
»Mein Freund mag richtig große Tornados.«
Alex ließ sich in den Sitz zurücksinken.
»Seine Leute nennt man Storm Trouper. Wir stehen auf schweren Wettern. Und dorthin bringe ich dich jetzt.«
Alex schaute nach links. Am Horizont dämmerte es. Die Sterne im Osten blichen aus, und aus der Dunkelheit am Straßenrand tauchten Klumpen dunklen, giftgrauen Grüns hervor - Zedern und Wacholderbüsche. Alex wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Ist das wirklich dein Ernst?«
»Klar! Wir beschäftigen uns jetzt schon eine ganze Weile mit Stürmen.« Sie bot ihm die Papiertüte an. »Probier mal vom Müsli.«
Alex nahm die Tüte und aß. Er war hungrig, und er hatte nichts gegen Regierungsfraß. Er erfüllte sämtliche Diätanforderungen, und das Zeug war so fade, daß es keinerlei Allergien hervorrief. »Damit beschäftigst du dich jetzt also? Du bestreitest deinen Unterhalt damit, Wirbelstürmen hinterherzujagen?«
»Ach, nicht wegen des Unterhalts.« Sie griff nach unten und schaltete die Kartenleuchte ein, dann streckte sie sich und trommelte mit den Fingernägeln energisch gegen das Stoffdach. Sie trug ein kurzärmliges Hemd aus ungebleichter Baumwolle, und Alex bemerkte mit gelinder Bestürzung, daß ihre sommersprossigen Arme muskelbepackt waren. »Das ist was für die TV-Leute oder die Laborkittel. Für uns zahlt sich das nicht aus. Das ist ja gerade so cool daran. Wenn man zur Truppe gehört, dann fährt man einfach ab auf Stürmen.«
»Verdammt noch mal, Janey!«
»Ich mag Stürme. Ich mag sie sogar sehr. Stürme sind mein Leben!« Juanita lachte, lang und hoch und exaltiert. Alex hatte sie noch nie so lachen gehört. Es hörte sich an wie das Lachen von jemand anders.
»Weiß Paps davon?«
»Paps weiß davon. Paps kann mich meinetwegen anzeigen. Du kannst mich meinetwegen auch anzeigen, kleiner Bruder. Wenn's euch Kerlen nicht gefällt, wie ich lebe, dann könnt ihr mich mal!«
Er grinste. »Verdammt noch mal, Janey.«
»Ich bin ein großes Risiko für dich eingegangen«, sagte sie. »Deshalb möchte ich, daß du eines weißt.« Sie legte ihm die Hand auf die Schläfe und sah ihm in die Augen. »Ich tue das nicht deshalb für dich, weil ich dich für clever halte. Du bist nicht clever, Alex. Und wenn du Scheiße baust und ich wegen dir Schwierigkeiten kriege, dann ist es ein für allemal aus mit uns.«
»Ich habe dich nicht darum gebeten!«
»Ich weiß, daß du mich nicht darum gebeten hast, aber trotzdem, wenn du mich und Jerry auseinanderbringst, dann brech ich dir die Beine und laß dich am Straßenrand liegen!«
Alex fiel es schwer, die wilde Drohung ernst zu nehmen, obwohl sie eindeutig ernst gemeint war. Es war das alte Lied. Alex' Ansicht nach trug seine Schwester ganz allein die Schuld an den Problemen, die er mit ihr hatte. Seit jeher war sie es gewesen, die in sein Zimmer platzte, ihn in den Schwitzkasten nahm, seine Spielsachen kaputt machte und Befehle bellte. Früher oder später endeten alle ihre Begegnungen damit, daß er ihre Finger von seiner Kehle löste.
Andererseits hatte er so gut wie nie versucht, sich in das Beinahechaos einzumischen, das Juanita als ihren Alltag bezeichnete. Allein schon dabei zuzuschauen, wie seine Schwester das Leben anging und immer wieder mit dem Kopf gegen Betonwände anrannte, erschöpfte ihn. Er hatte ihr immer zugestanden, sich auf ihre Weise in die Hölle zu keifen.
Jetzt, wo Mama tot und Papa mit seinen Kräften am Ende war, glaubte sie anscheinend, ihm vorschreiben zu müssen, wie er zu leben habe. Er würde sie noch früh genug eines Besseren belehren.
»Nimm's leicht«, riet er ihr. »Deine Liebesaffäre, oder was du da gerade erlebst, geht nur dich was an. Ich habe nichts gegen diesen Jerry.« Er kicherte. »Scheiße, er tut mir leid.«
»Besten Dank. Er heißt Jerry Mulcahey. Doktor... Gerald Mulcahey.«
Den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie seinen Namen aussprach, hatte er bei ihr noch nie gesehen. In dem Moment wirkte sie wie eine Kreuzung aus verknalltem Schulmädchen und einer ultravamphaften schlechten Schauspielerin in einer mexikanischen Seifenoper. Was immer sie da erwischt hatte, es hatte sie richtig schlimm erwischt. »Kein Problem, Janey«, meinte er vorsichtig. »Ich hab nicht das geringste gegen ihn oder deine anderen verrückten Freunde. Solange sie mir nicht auf die Füße treten.«
»Aber sie werden dir auf die Füße treten, Alex, und ich bitte dich, deswegen nicht auszuflippen. Nicht aus brüderlichen Gefallen - darum würde ich dich nicht bitten -, sondern weil es interessant ist. Wirklich interessant, okay? Und wenn du eine Weile durchhältst, dann kannst du sogar noch was lernen.«
Alex brummte etwas. Er sah wieder aus dem Fenster. Die Dämmerung wurde allmählich eindrucksvoll. Die texanischen High Plains waren von Natur aus öde, aber die Natur hatte irgendwann ihre Sachen zusammengepackt und war verduftet. Das Zeug, das am Straßenrand wuchs, schien darüber ausgesprochen glücklich zu sein. Kilometer um Kilometer kamen sie an hüfthohem, hartstengligem, olivgrün-tristem Unkraut mit häßlichen kleinen, unnatürlich gelb gefärbten Blütentrauben vorbei. Ein Farbton, wie man ihn von einer Pflanze irgendwie nicht erwartete; weder einladend noch hübsch. Die Art Farbe, die eher zu toxischem Abfall oder Senfgas gepaßt hätte.
Hinter den Blumen am Straßenrand lag der zusammengebrochene Stacheldrahtzaun einer Viehranch. Die vor langer Zeit aufgegebenen Weiden waren mit Mesquit überwuchert.
Sie fuhren an den langen Morgenschatten einer enthaupteten Ölpumpe vorbei, daneben lagen ein halbes Dutzend verrosteter Lagertanks für westtexanisches Rohöl, ein Stoff, der mittlerweile genau wie der Alk von der Bildfläche verschwunden war. Die tonnenschweren Bohrgeräte rosteten tief im steinigen Boden still vor sich hin, dem menschlichen Auge verborgen, aber trotzdem für geologische Zeitalter gegenwärtig, der abgezwickte verrottende Rüssel einer totgeschlagenen Treibhauseffekt-Mücke.
Hin und wieder ragten entlang dem Highway kaputte Windräder auf, die spitz zulaufenden Zinnflügel völlig verbogen, die Betonzisternen geborsten und staubtrocken über einer Wasserader, die zu nacktem Sandstein ausgebleicht war… Sie hatten das Land trockengesaugt und statt dessen ihre mechanischen Vampirzähne dagelassen, die wie die abgerissenen Mandibeln einer Zecke wirkten…
Sie hatten aus der Erde alles herausgeholt, was sich verkaufen ließ; und dann waren sie verschwunden. Doch dann war der Treibhausregen gekommen. Man sah, daß die hiesige Vegetation diese Art Regen überhaupt nicht gewohnt war. Die Pflanzen waren wahrhaftig keinen Deut besser als die Menschheit - bloß eine weitere häßliche, boshafte, raffgierige Spezies, zum Leiden geboren und genügsam… Aber der Regen war trotzdem gekommen. Nun wurde die texanische Hochebene überschwemmt von Regen und warmer, kohlendioxidreicher Luft, und das alles unter einer glühenden Treibhaussonne. Für einen Kaktus war das Phantasien. Arkadien für den Mesquit. Alle möglichen üblen Gewächse, die stanken, stachen oder kratzten, verpesteten die Gegend wie neureiche texanische Ölbarone.
Juanita langte zur Musikanlage.
»Kannst du dieses Thai-Zeugs mal abstellen?«
»Was möchtest du denn hören?«
»Irgendwas Passenderes. Vielleicht… ich weiß nicht… so ' ne sentimentale, verrückte Fiedelmusik. Mit Zedernflöten und Knochenpfeifen. Wenn ich mir hier in der Einöde dieses tropische Zeug anhören muß, werd ich ganz wirr im Kopf.«
»Alex, du hast keine Ahnung, was es heißt, hier draußen zu überleben. Du brauchst hier zumindest soviel Vorstellungskraft, daß du glauben kannst, du befändest dich irgendwo anders, sonst schlägt dir die Gegend wirklich auf den Geist.« Sie lachte. »Dann kriegst du den Starren Blick, Bruder. Dann fährst du einfach immer drauflos, jagst Eselhasen und ernährst dich davon, bis du krepierst… Hey, willst du mal richtig abzischen?«
»Häh?«
Juanita hob die Stimme. »Charlie?«
»Ja, Juanita?« antwortete der Wagen.
»Hey, Janey, wie kommt's, daß dich der Wagen Juanita nennt?« wunderte sich Alex.
»Vergiß es. Ist 'ne lange Geschichte.« Sie packte ihn bei der Schulter. »Bist du gut angeschnallt? Du hast doch Lust, oder? Dir ist doch nicht etwa übel oder so?«
Alex tätschelte das smarte Polster. »Wie soll das gehen auf so 'nem reaktiven Sitz? Eher würde mir auf 'ner Wohnzimmercouch schlecht werden.«
»Also gut, dann zeig ich dir mal, warum wir diese Art Sitze hier eingebaut haben.« Juanita beugte sich zu Alex hinüber, nahm ihm die Müslitüte vom Schoß, sah, daß sie leer war, dann faltete sie sie säuberlich zusammen und steckte sie sich hinter den Gürtel ihrer Baumwollshorts. »Charlie, ich brauche eine Geländekarte.«
Eine biegsame Zunge streckte sich aus dem Armaturenbrett hervor, die sich als Bildschirm entpuppte. Auf dem Monitor erschien eine Detailkarte im Metermaßstab. Kurz hintereinander leuchteten mehrere hochauflösende Satellitenbilder auf. Juanita nahm das Ende der Karte sanft in die Hand und betrachtete die flackernde Darstellung, dann tippte sie mit dem Finger darauf. »Charlie, siehst du diesen kleinen Hügel?«
»Zweitausenddreihundertundzwölf Meter in nördlicher Richtung«, antwortete der Wagen und umrahmte die Hügelkuppe orange.
»Charlie, bring uns dorthin, und zwar schnell.«
Der Wagen wurde langsamer und hielt am Straßenrand, mit der Schnauze zum Hügel.
»Halt dich fest«, sagte Juanita. Dann sprang der Wagen in die Luft.
Hüpfend nahm er auf den ersten paar Metern Geschwindigkeit auf, dann stieg er bis über die Wipfel der Mesquitbäume auf. Der Wagen schnellte sich, begleitet von einem Zischen, voran; es war, als würde man von Düsentriebwerken durch die Luft katapultiert. Alex spürte, wie die Stützzellen des Sitzes ihn wiederholt packten, wobei sie sich bewegten wie das Fleisch eines laufenden Tieres.
»Guck dir jetzt mal die Räder an!« jauchzte Juanita und zeigte darauf. »Siehst du, sie rollen nicht mal. Mann, das sind überhaupt keine Räder. Die Speichen sind smarte Kolben. Fühlt sich an wie in 'nem Hovercraft, findest du nicht?«
Alex nickte benommen.
»Alles wird genau vorausberechnet. Der größte Energieverbraucher in diesem Wagen ist nicht der Motor. Sondern die
Sensoren und die Schaltungen, die verhindern, daß wir bei unseren Sprüngen irgendwo gegen krachen!« Juanita jauchzte vor Begeisterung. »Ist das nicht stark? Gott segne das Militär!«
Sie sprangen über den letzten großen Busch, dann glitt der Wagen unbeirrt den geborstenen Hang empor, wobei die Speichen kaum Staub aufwirbelten. Aus der unheimlich ruhigen Fahrt konnte Alex schließen, daß der Wagen niemals ins Kippen oder Rutschen geriet. Die smarten Kissen an den Speichenenden stellten mit äußerster Behutsamkeit den Kontakt mit dem Boden her. Dann setzten die Speichen fest auf und wuchteten die diamantene Nabe hoch, hoben den Wagen in einem nahezu geräuschlosen Stakkato an, in zu rascher Folge, als daß Auge oder Ohr dem Vorgang hätten folgen können. Es war, als ritte man auf dem Rücken eines verflüssigten Geparden.
Auf der Kuppe des Hügels kam der Wagen so sanft zum Stillstand, als sänke er in flüssigen Teer ein. »Wird allmählich mal Zeit, die Glieder zu lockern«, verkündete Juanita mit leuchtenden Augen. Sie fuhr das Stoffdach ein, und die Morgenbrise wehte in den wieder lautlosen Wagen. »Komm, steigen wir aus.«
»Ich habe keine Schuhe«, sagte Alex.
»Mist, daran hab ich nicht gedacht… Na gut.« Sie rammte die mit Socken bekleideten Füße in die unverschnürten Geländestiefel, öffnete die Tür und stieg alleine aus. Sie schüttelte sich vergnügt und machte ein paar Lockerungsübungen, wobei sie aussah wie ein Sacagawea aus der Unterliga. Alex fand die Aussicht von der Hügelkuppe höchst unerfreulich; Gruppen von Mesquitbäumen und Zedern, spärliches, ledriges Gras und in der Ferne drei gedrungene kleine Hügel. Die ganze Gegend hier war ehemaliger Meeresboden und so flach wie der Grund eines geleerten Fischteichs.
»Du hast bestimmt ganz schön geblecht für den Wagen«, sagte Alex.
»Nein, eigentlich war er sogar recht billig! Die Regierung hält sie trotzdem eher unter Verschluß, wegen des Sicherheitsrisikos.« Das klare Morgenlicht ergoß sich über die Landschaft, und die orangegelbe Sonne war zu hell, als daß man sie hätte anschauen können. »So ein Wagen steuert auf Befehl jedes beliebige Ziel mit Höchstgeschwindigkeit an. Und sie sind schwer auszumachen, weil sie kreuz und quer durch die Gegend springen und nicht auf Straßen angewiesen sind. Mit einer großen Wagenbombe an Bord kann man damit Anschläge machen wie nichts.« Sie lächelte vergnügt. »Das wurde beim Malayischen Wiederbesiedlungskrieg häufig so gemacht - das ist ein malayisches Angriffsfahrzeug. Ein Kriegsrelikt. Heutzutage sind sie natürlich bei den Schmugglern sehr beliebt.« Juanita wandte das Gesicht in den Wind und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Ich glaube, die Benutzung ist Zivilisten in Amerika immer noch untersagt. Jedenfalls in manchen Staaten.«
»Und in Texas?«
»Texas? - Da ist doch heutzutage alles erlaubt… Die Texas Ranger lieben jedenfalls diesen Wagen. Billig, schnell, straßenunabhängig - wieso auch nicht. Das einzige Problem dabei sind die Batterien. Das sind Supraleiter.«
»Supraleiter sind bestimmt nicht billig.«
»Nein, und sie verschleißen auch schnell. Aber sie werden allmählich besser… Irgendwann wird es nur noch solche Autos geben. Die machen einfach einen Mordsspaß. Ein Auto nur zum Spaß, wär das nicht stark?« Sie stolzierte beinahe auf Zehenspitzen in ihren großen, aber leichten Geländestiefeln um den Wagen herum. »Das Design ist einfach supergut. Findest du ihn nicht auch klasse?« Sie tätschelte den mit Gelenken versehenen Rand des Hinterrads. »Auf ein so elegantes Design kommen die Leute nur, wenn sie sich gegenseitig umbringen wollen.«
Sie öffnete einen kleinen metallenen Werkzeugkasten hinter der Passagierzelle und fischte eine Sonnenbrille heraus. Die selbsttönenden Gläser verdunkelten sich in dem Moment, als sie die Brille aufsetzte. »Charlie ist meine fliegende Teufelsspinne… Eine richtige Schönheit, findest du nicht? Ich liebe ihn, wirklich… Abgesehen von der gottverdammten, hoffnungslosen militärischen Schnittstelle!«
»Gehört der Wagen dir, Janey?«
»Irgendwie schon«, sagte sie. »Nein. Nicht wirklich. Ich will ihn nicht auf meinen Namen registrieren lassen.«
»Wem gehört er dann?«
»Der Truppe.« Sie klappte den Werkzeugkasten zu, dann öffnete sie die Tür und kletterte wieder auf den Fahrersitz.
Alex zögerte. »Weißt du, ich mag den Wagen irgendwie auch. Ich glaube, ich steh drauf.«
Sie grinste. »Das glaub ich dir gern… Charlie, auf geht's!«
Der Wagen fuhr behutsam den Hang hinunter.
Alex betrachtete aufmerksam einen großen Büschel ausgerupften gelben Grases, das in der Nabe des rechten Vorderrads steckte. »Man sollte eigentlich meinen, es würde einem schlecht bei der ganzen Akrobatik, aber er fährt wirklich ganz sanft. Shit, ich hab schon in Rollstühlen gesessen, die schlimmer waren als das hier.«
»Ach, ja? Nun, er wurde speziell so konstruiert. Damit man bei Höchstgeschwindigkeit mit den Automatikwaffen in der Stoßstange losballern kann. Charlie hat mal zu 'nem Kommandotrupp gehört, Tiger-Teams, der Tod kommt bei Nacht, militärische Sprengstoffanschläge und diese ganze widerliche Kacke… Auch im Zivilleben hat er jedenfalls immer noch gewisse Killerqualitäten.« Juanita duckte sich, als ein langer Mesquitzweig über die Windschutzscheibe peitschte, dann schloß sie mit einem Daumendruck wieder das Dach. »Die Truppe hat früher mal Stürme in alten Strandbuggies gejagt. Aber einmal haben wir bei 'nem F-4 den Kern angebohrt, und überall hat es gehagelt, und die Hagelkörner haben sie einfach kaputtgeschlagen, die Kühlerhauben und das Dach, alles war hin… Über Hagelkörner kann Charlie bloß lachen.«
»Auf Hagelkörnern stehst du wohl.«
»Die Hagelkörner stehen auf mich, Alex. Letztes Frühjahr in Oklahoma hat's mich im Freien erwischt. Davon kriegt man faustgroße Blutergüsse.«
»Das meinst du also damit, wenn du sagst, ihr hättet ›den Kern angebohrt‹?«
Juanita machte ein verdutztes Gesicht. »Na ja, hm… das bedeutet, daß man mit den Drohnen den Vortex durchknallt.«
»Ach«, meinte Alex.