SECHSTES KAPITEL

 

»Nachdem der Anspruch des Designs, eine bessere Welt zu schaffen, gescheitert ist«, sagte April Logan verächtlich, »muß es sich notwendigerweise dafür hergeben, die Barbarei zu bemänteln.« April Logans edler Raubvogelkopf mit der einzelnen, sorgsam gekämmten Stirnlocke weißen Haars, ging auseinander, ganz behutsam zunächst, dann mit größerem Nachdruck. Etwa wie ein schmelzendes Sahnebonbon. »Die von den modernen technischen Geräten verkörperte Informationsdichte erzeugt einen tiefgreifenden konzeptionellen Stress, der im Interface Mensch-Maschine implodiert… Kein Wunder, daß gegenwärtig ein heftiger, reaktionärer Luddismus, eine moderne Form der Maschinenstürmerei, en vogue ist, während die Primaten, deklassiert von ihrer eigenen Umwelt, wie wild auf eine postnaturale Welt einprügeln.«

Der Kopf der Kritikerin zog sich auf der schlanken Säule ihres sonnengebräunten, eleganten Halses auseinander wie ein Zaunpfosten. »Die gleiche Technologie, die unsere Designerwerkzeuge immer komplexer werden läßt, steigert die Anzahl der Optionen, wie ein Gegenstand aussehen und funktionieren könnte, ins Unermeßliche. Wenn man mit bloßem Auge keine Funktionselemente mehr erkennen kann, dann entzieht sich die Technik und wird amorph. Der Beinahezusammenbruch der Republik Amerika war die unabdingbare Voraussetzung dafür, der langwährenden, bedenklichen Vorliebe für das Hüpfen von Kanal zu Kanal und dem ironischen Nebeneinanderstellen endlich ein Ende zu setzen…« April Logans Kopf stülpte sich allmählich von innen nach außen, in voller, feinkörnig gepixelter Farbe. Sogar ihre Stimme veränderte sich; ein akustisches Sampling, das die Verwandlung eines weiblichen Kehlkopfs in eine Helix oder eine Klein-Flasche imitierte.

Janes Gürteltelefon summte. Im selben Moment erschien zu Janes Rechten mitten in der Luft ein klassisches Telefon aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Ein von einem gewissen Henry Dreyfuss entworfenes Telefon, wie Jane sich erinnerte. Professor Logan sprach häufig über Henry Dreyfuss.

Jane stoppte die Vorlesung der Kritikerin mit einer raschen Bewegung des Handschuhs, dann nahm sie den VR-Helm ab. Sie löste das kleine Telefon vom Gürtel und nahm den Anruf entgegen. »Hier Jane.«

»Janey, ich bin's, Alex. Ich bin draußen bei den Ziegen.«

»Und?«

»Kannst du mir eine Frage beantworten? Ich habe hier einen Laptop und versuche eine Detailaufnahme der Gegend aufzurufen, hab auch ein paar Satellitenfotos in großem Maßstab bekommen, aber ich finde einfach kein Koordinatennetz.«

»Oh«, sagte Jane. Es freute sie, daß Alex so ernst und interessiert klang. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Alex sie zum letztenmal offen um einen Gefallen gebeten hatte, daß er sie einfach gebeten hatte, ihm zu helfen. »Nach welcher Länge und Breite suchst du eigentlich?«

»100° 22' 39" Länge, 34° 07' 25" Breite.«

»Das ist ganz nahe beim Camp.«

»Yeah, hab ich mir gedacht.«

»Müßte etwa dreihundert Meter östlich der Kommandojurte liegen.« Jerry baute die Kommandojurte möglichst immer unmittelbar auf einer Koordinatenlinie auf. Das erleichterte die Funkortung, die Doppler-Dreiecksberechnung und ähnliche Verfahren.

»Yeah, das ist ungefähr da, wo ich jetzt mit den Ziegen bin, ich wollte es bloß genau wissen, Danke. Bye.« Er unterbrach die Verbindung.

Jane dachte einen Moment über das Gespräch nach, dann seufzte sie und legte den Helm weg.

Sie kam an Rick und Mickey vorbei, die über dem System brüteten, und am behelmten Jerry, der wie üblich auf und ab tigerte. Der Teppich zeigte allmählich schon Abnutzungserscheinungen. Jane setzte die Sonnenbrille auf und verließ das Camp.

Ein wundervoller Frühlingshimmel. Liebliche, flaumige Altokumuluswolken. Man mochte meinen, dieser Himmel könne gar nichts Arges im Schilde führen.

Sie traf Alex im Schneidersitz im Schatten eines Mesquitbaums an. Im Schatten der winzigen, gefiederten Blätter Schutz vor der Sonne zu suchen, das war, als wollte man Wasser mit einem Sieb auffangen, allerdings trug Alex auch noch den schon häufig mit Klebstoff ausgebesserten Sombrero. Und er hatte die Atemmaske aufgesetzt.

Er spielte müßig mit dem schlaffen, schwarzen smarten Seil herum. Es überraschte Jane, das Seil wiederzusehen, und es gefiel ihr gar nicht. Das primitive, benutzerfeindliche Interface war ein einziger Witz. Als sie es zum erstenmal verwendet hatte, war das boshafte Seil wie ein plötzlich reißender gespannter Stacheldrahtzaun zurückgeschnappt, und sie hatte am Schienbein einen dicken Striemen zurückbehalten.

Sie ging näher heran, und ihre Stiefel knirschten im scharfen Gras. Alex drehte sich abrupt herum.

»Hi«, sagte sie.

»Hola, hermana.«

»Weißt du, wenn ich ein Cojote wär, würd ich mir einfach eine von diesen Ziegen schnappen.«

»Bitte, bedien dich.« Alex zog die Maske herunter und gähnte. »Wenn du eins von diesen Ortungshalsbändern wegschleppst, kommt Rick mit seinem Gewehr und knallt dich ab.«

»Was machst du hier draußen?«

»Ich aale mich bloß in meinem Ruhm als Held des Tages«, scherzte Alex. »Siehst du die Menge begeisterter Bewunderer?« Das smarte Seil zuckte unbeholfen, als er es erfolglos nach den Ziegen zu werfen versuchte. »Ich wünschte bloß, ihr hätte die Texas Ranger nicht gerufen. Mit diesen Typen will ich nichts zu tun haben.«

»Die Ranger bleiben niemals lange. Was hast du vor?«

Alex antwortete nicht. Er klappte den Laptop auf, sah nach, wie spät es war, dann erhob er sich theatralisch und blickte gen Süden.

Sie wandte sich um und schaute in die gleiche Richtung. Merkwürdig buckelförmige, mit vereinzelten Wacholderbüschen und Mesquitbäumen bestandene Hügel zogen sich endlos bis zum Horizont, und hier und da sah man in der Ferne tropfenförmige grüne Feigenkakteen und die gelb aufleuchtenden Blüten hoher, schwankender Kegelblumen. Weit im Süden sah man den zerwehten Kondensstreifen eines Jets.

»Wow«, sagte er. »Da kommt er endlich. Er ist da. Verdammt noch mal.« Er lachte. »Genau zum richtigen Zeitpunkt! Mann, es ist schon erstaunlich, was man mit ein paar freundlichen Worten und einer Kreditkarte alles erreichen kann.«

Jane sank der Mut. Sie wußte zwar nicht, was da im Schwange war, doch es gefiel ihr bereits nicht. Alex blickte mit einer Miene zum Horizont, die nichts Gutes verhieß.

Sie stellte sich hinter ihn und musterte die Landschaft.

Dann sah sie es ebenfalls. Eine hüpfende Maschine. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem tarnfarbenen Känguruh.

Das Gerät überquerte die Hügel mit weiten, unfehlbaren Zwanzig-Meter-Sätzen. Eine gedrungene Metallkugel, mit unregelmäßig geformten graubraunen und olivfarbenen Flecken. Sie bewegte sich mit Hilfe eines einzelnen dicken Metallbeins mit Kolbenventilen. Der Springroboter benutzte es mit beeindruckender, unfehlbarer Präzision, wie ein einbeiniger Pirat aus einem Alptraum. Er rammte den komplizierten Metallfuß in die Erde wie ein Spieler seinen Queue gegen eine Billardkugel und stieß sich augenblicklich energisch wieder ab. Das Ding flog die meiste Zeit durch die Luft, eine fleckige Kanonenkugel, die um ihre eigene Achse rotierte und wie eine Fliege gegen den texanischen Boden trat. Auf diese Weise schaffte es gute achtzig Stundenkilometer. Als es näher kam, bemerkte Jane, daß die Unterseite mit gittergeschützten Sensoren vollgestopft war.

Es setzte zu einem letzten Sprung an und vollführte dabei tatsächlich einen geschickten kleinen Salto, dann landete es auf dem Boden und zischte kurz, als es die Wucht des Aufpralls abdämpfte. Aus der Unterseite wurde sogleich ein stählernes Dreibein ausgefahren, das an mit Gelenken versehene Schnappmesser erinnerte.

Und dann hockte es in weniger als zehn Metern Entfernung so reglos da wie ein Kaffeetisch.

»Na schon«, sagte Jane. »Und was ist das?«

»Das ist ein Dope-Esel. Von meinen Freunden in Matamoros.«

»Allmächtiger.«

»Also, jetzt beruhig dich mal«, sagte er. »Das ist bloß eine billige Straßenversion von Charlie, deinem Wagen! Charlie ist ein Schmugglerfahrzeug, und das ist auch ein Schmugglergerät. Anstatt zweihundert smarter Speichen und Sitze und Überrollbügel, wie sie dein protziger Wagen hat, besitzt es nur eine Speiche. Eine Speiche, ein eingebautes Gyroskop und ein Satelliten-Navigationssystem.« Alex zuckte die Achseln. »Und so einen Megachip, damit es nicht irgendwo dagegenstößt und keinem Bullen über den Weg läuft.«

»Oh, je«, stöhnte Jane. »Yeah, das ist Klasse, Alex.«

»Es trägt, ich weiß nicht, etwa vierzig Kilo Handelsware. Keine große Sache. Die Dope-Leute haben jetzt Hunderte von diesen Dingern. Sie kosten nicht viel, daher ist das für sie mehr so ein Spielzeug.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Du machst wohl Scherze. Seit wann muß ich dich denn vorher um Erlaubnis fragen?« Er ging zum Packesel hinüber.

Jane eilte ihm nach. »Das hättest du aber besser tun sollen.«

»Mach, daß du wegkommst!« schrie er. »Die sind scharf!« Jane zuckte zusammen und sprang zurück, während Alex vergnügt in sich hineinkicherte. »Idiotensicher! Das falsche Paßwort, und das Ding explodiert auf der Stelle und vernichtet sämtliche Beweise! Und außerdem - wenn du nun nicht zu ihren Freunden gehörst? Wenn du ihnen lästig geworden bist? Dann machen sie eben manchmal eine Bombe draus und lassen dich in dem Moment in die Luft fliegen, wo du das Touchpad berührst.«

Er lachte. »Guck nicht so finster. Das ist doch alles bloß Legende. Doper-Geschwätz. Die Dope-Vaqueros lassen so schnell keinen in die Luft fliegen. Wir beide wissen doch, daß die Grenze nicht mehr viel bedeutet. Es gibt keine Grenzen mehr! Bloß noch offene und freie Märkte!« Er kicherte glücklich in sich hinein. »Man kann damit alles mögliche transportieren. Dope, Strengstoff, tiefgefrorene Menschenherzen, ganz egal. Die sind auch bloß so ein Transportunternehmen.«

Alex tippte mit übertriebener Sorgfalt eine lange Zahlenreihe in ein Tastenfeld an der Oberseite des Packesels. Es dauerte eine Weile, bis der Roboter den Code verarbeitet hatte, dann klappte er an Scharnieren aus rostfreiem Stahl zischend auf und enthüllte das um seine Taille laufende Frachtabteil aus Gummi.

Alex holte die darin befindlichen Gegenstände heraus. Eine Menge plastikverschweißte Klamotten. Ein Paar Cowboystiefel. Eine gelbe, zylinderförmige Gasflasche. Eine Plastikkanne. Eine Designersonnenbrille in einem stoßfesten Etui. Eine Handfeuerwaffe.

Alex probierte die Sonnenbrille sogleich an; die Freude darüber war ihm anzusehen. »Hier, das ist für dich«, sagte er und warf Jane die Waffe zu. »Ich kann damit nichts anfangen.«

Jane fing sie japsend auf. Die Waffe war aus Keramik und Spritzguß-Plastik, ein kurzläufiger, sechsschüssiger Revolver. Er fühlte sich steinhart und absolut tödlich an. Er wog etwa soviel wie eine Teetasse. Er würde an jedem Metalldetektor vorbeikommen und hatte in der Herstellung wahrscheinlich keine zwei Dollar gekostet.

»Du bist ein Arschloch!« sagte sie. »Wenn die Ranger den finden, drehen sie durch.«

»Yeah, und den Cops von Houston würde es auch nicht gefallen, wenn die Vaqueros so blöd wären, einen Packesel durch die Straßen von Houston hüpfen zu lassen, aber das werden sie wohl kaum tun, oder? So dämlich ist niemand. Nur wir beide wissen davon. Das heißt, Carol weiß auch Bescheid.« Alex holte ein funkelndes Metallarmband aus dem Fach. »Diese Barometeruhr ist für Carol! Sie hat keine Ahnung, daß ich ihr die gekauft hab, aber ich glaube, sie wird ihr gefallen, was meinst du? Paßt bestimmt prima zu ihrem Trouper-Armband.« Er schob sich den wabbligen Papiersombrero in die Stirn zurück. »Carol ist die einzige, die sich mir gegenüber wirklich anständig verhalten hat.«

»Carol wird das nicht gefallen…«

»Ach, komm schon!« fauchte Alex. »Carol ist ganz wild drauf! Sie mag das!« Er grinste unter seiner goldgerahmten neuen Sonnenbrille. »Mein Gott, Carol war doch mal bei den Häusersprengern. Und sie vögelt mit Greg, und Greg ist so 'ne Art Sondereinsatz-Sprengfreak, ein grusliger, düsterer Typ. Ich bin echt froh, daß die jetzt Stürme jagen, anstatt Brücken in die Luft zu sprengen, aber Carol und Greg sind trotzdem zwei irre Typen. Mit Eia-popeia haben die nichts am Hut.«

»Mir gegenüber haben weder Carol noch Greg etwas von Vandalismus erwähnt«, erwiderte Jane würdevoll.

»Yeah«, meinte er spöttisch. »Abgesehen davon, daß sie dir dabei helfen, in mexikanische Krankenhäuser einzubrechen.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist ja bloß sauer, weil ich dir nichts besorgt hab. Also, da hast du einen netten Revolver! Wenn dein Macker fremdgeht, knall ihn einfach ab!« Er lachte.

Jane starrte ihn an. »Du findest das doch nicht etwa lustig, oder?«

»Janey, das ist lustig.« Er packte ein handbesticktes Baumwollhemd aus. Dann schälte er sich aus dem Papieranzug. Er stand nackt vor ihr, nur mit Papierhut und Sonnenbrille bekleidet, den Papieranzug um die Knöchel, und stopfte seine mageren Arme in die Ärmel des teuren blauen Hemds. »Wenn du möchtest, kannst du dir wegen der möglichen Folgen und der Moral und dem ganzen Scheiß die Hölle heiß machen. Oder du probierst es einfach und lebst in der modernen Welt! Irgendeinen Unterschied macht das sowieso nicht!«

Er strampelte den Papieranzug weg, dann stellte er sich auf das Papier und zog den rechten Schuh aus. »Die Grenze ist am Arsch, und die Regierung ist am Arsch!« Er zog den linken Schuh aus und schleuderte ihn weg. »Und die Gesellschaft ist am Arsch, und das Klima ist erst richtig am Arsch. Und die Medien sind am Arsch, und die Wirtschaft ist am Arsch, und die begabtesten Leute der Welt leben wie Flüchtlinge und Kriminelle!« Er riß die Plastikverpackung von einem Paar seidener Boxershorts herunter und zog sie an. »Und niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wie alles besser werden könnte, und das geht auch gar nicht und wird nicht gehen, und wir haben überhaupt keinen Einfluß auf irgend etwas in unserem Leben, das von Bedeutung wäre!« Er lachte kreischend. »Das ist wahnsinnig komisch! Und wenn du das nicht kapierst, dann verdienst du es einfach nicht, in den 2030em zu leben.«

Alex schlüpfte in ein Paar brauner, seidig glänzender Jeans und stopfte sorgsam die Hemdzipfel hinein. »Aber was viel wichtiger ist, jetzt habe ich endlich ein ordentliches Hemd. Und ordentliche Unterhosen. Und Stiefel, guck mal, die wurden aus mexikanischem Leder handgefertigt, die sind wirklich hübsch.«

»Das wird bei der Truppe schlecht ankommen. Die stehen nämlich nicht auf Spielzeug-Cowboy-Klamotten, weißt du.«

»Janey, es ist mir scheißegal, was deine Freunde von meinen gottverdammten Klamotten halten.« Er streifte die Socken über, steckte die Füße in die Stiefel, dann ging er zum Robotpackesel hinüber, schaute ein letztes Mal in das leere Fach und klappte es zu.

Nach drei Sekunden Pause zog der Packesel ruckartig das Dreibein ein und katapultierte sich in die Luft. »Wenn's nach dir und unseren Freunden ginge«, meinte Alex und schaute zu, wie das Gerät in wilden Sprüngen davonhüpfte, »würde ich für den Rest meines Lebens Klopapier tragen. Ich bin kein Unwetterflüchtling, und ich hab auch nicht vor, so zu tun als ob. Und wenn's denen nicht paßt, wie ich rumlaufe, dann sollen sie mich nur wieder auf Eskorte schicken, wenn sie selbst zuviel Schiß dazu haben.« Er beobachtete, wie das Gerät gen Süden hüpfte, und knöpfte sich sorgfältig die Hemdärmel zu. »Ich bin, wie ich bin. Wenn's euch nicht paßt, dann erschießt mich.«

 

Das Ranger-Aufgebot tauchte gegen drei Uhr nachmittags auf. Jane war über ihre Ankunft wenig erfreut. Sie war niemals erfreut, die Ranger zu sehen, außerdem hatte sie eine Hefepilzinfektion und leicht erhöhte Temperatur.

Die Pilzinfektion hatte sie nicht zum ersten Mal. Pilze waren weit verbreitet. Die Luftverschmutzung infolge des übermäßigen Gebrauchs von Breitbandantibiotika hatte die Hefepilze widerstandsfähiger und gefährlicher gemacht, so wie sie unter anderem auch supervirulente Staphylokokken, Grippe- und TBC-Erreger hervorgebracht hatte. Die Pilze hatten sich noch nicht so weit emporgearbeitet, daß sie eine tödliche Bedrohung dargestellt hätten wie beispielsweise die Bengalische Cholera, aber sie waren erheblich ansteckender geworden, und heutzutage traten sie auf in Form einer Genitalinfektion, die man sich auf einem Toilettensitz holen konnte.

Ein paar diskrete Erkundigungen im Umkreis des Camps ergaben, daß keine der anderen Trouper-Frauen Pilze hatte, daher handelte es sich um ein Wiederaufleben ihres alten Leidens, nämlich der Pilzinfektion, die sie sich 2027 zugezogen hatte. Von Zeit zu Zeit war sie dann für jeweils etwa sechs Monate wieder aufgeflackert, bis sich ihr Immunsystem schließlich durchgesetzt hatte. Jane hatte gehofft, sie hätte die Hefepilze endgültig besiegt, aber Pilze waren mit Staphylokokken oder Herpes nicht zu vergleichen, sie lauerten immer irgendwo im Hintergrund und flippten aus, wenn sich ihnen nur ein entsprechender Anlaß bot.

Und Jane mußte zugeben, daß es im Moment an Anlässen nicht mangelte. Sie hatte soviel Sex gehabt, daß es schon weh getan hatte. Sonderlich vernünftig war das nicht gerade, aber wenn Sex vernünftig war, machte sie sich nichts daraus. Eigentlich hatte Jane sich in Wirklichkeit gar nicht soviel aus Sex gemacht, bis sie eine volle Dosis leidenschaftlichen Sex abbekommen hatte. Harten, krallenden, lauten Sex, der erst aufhörte, wenn man schweißüberströmt und wundgescheuert war. Sex auf einem behaglichen Lager aus steinharter texanischer Erde, mit einem Mann in körperlicher Höchstform, der erheblich größer war als sie und etwa zwanzig Kilo schwerer. Das war, als entdeckte man auf einmal den Geschmack von richtig gutem Essen. Oder den Geschmack von Whiskey. Abgesehen davon, daß Whiskey ein Gift war, von dem man einen Kater bekam, während die wirklich leidenschaftliche körperliche Affäre eine Labsal für sie gewesen war, die sie nicht einen Moment lang bedauert hatte.

Die Affäre hatte sie verändert. In erstaunlich vielfältiger Weise. Sogar körperlich. Es war schon seltsam und klang unwahrscheinlich, aber sie hätte schwören können, daß ihr Becken im Laufe des letzten Jahres die Form verändert hatte. Daß ihre Beckenknochen einen anderen Winkel bildeten und daß sie jetzt tatsächlich anders ging. Anders und besser, mit geradem Rücken und erhobenem Kopf. Aber sie war nur ein Wesen aus Fleisch und Blut. Der Geist war willig, und das Fleisch war mehr als willig, aber der Körper vermochte nur ein bestimmtes Maß zu ertragen. Sie hatte zuviel von ihrem Körper verlangt. Und nun bekam sie dafür die Quittung.

Und dann war da noch dieses viel lästigere Ärgernis, die Bullen. Die Ranger. Zu sechst kamen sie mit drei 08-15-Verfolgungsfahrzeugen der US Army stolz ins Lager gefahren. Sie rollten in einer gelben Staubwolke ohne anzuhalten an den Begrenzungspfosten des Lagers vorbei, die sogleich in Panik gerieten, zu heulen und zu blinken anfingen und harmlose, knisternde Stromschläge auszuteilen versuchten. Einer verfeuerte sogar einen Taserspeer an einer Leine, der sein Ziel allerdings verfehlte.

Greg rannte in die Kommandojurte und stellte die Warnsysteme ab, während die Ranger langsam aus den tiefgeschnittenen, karbonverstärkten Geländewagen kletterten und mit ihren Hüten, verspiegelten Sonnenbrillen und Gewehren abwarteten, bis der Staub sich gesetzt hatte.

Früher einmal waren die Texas Ranger nichts weiter als Vigilantenhaufen gewesen, die an der Grenze so ziemlich alles in die Schranken verwiesen hatten, was sich bewegte. Hundert Jahre später war Texas besiedelt und zivilisiert, und die Texas Ranger waren vorbildliche Vertreter des Gesetzes. Und dann, wiederum ein Jahrhundert später, war alles mehr oder weniger zum Teufel gegangen. Daher waren die Texas Ranger jetzt wieder das, was sie vor zweihundert Jahren gewesen waren.

Eine Ranger-Tradition war über die Zeitläufe hinweg jedoch unverändert geblieben. Texas Ranger waren immer bis an die Zähne bewaffnet. Wenn ein Bösewicht einen sechsschüssigen Revolver hatte, dann hatte der Ranger zwei, und außerdem noch ein Gewehr und ein Bowiemesser. Wenn die Schurken Gewehre hatten, dann hatten die Ranger Maschinenpistolen. Heutzutage hatten die Schurken so verrücktes Zeug wie Plastiksprengstoff, smarte Landminen und elektrische Gewehre, daher hatten die Ranger Pistolen mit Giftpfeilen, fest montierte Maschinengewehre, Gewehre mit Infrarotzielfernrohr und Raketengeschossen und sensorgesteuerte Luftdrohnen. Außerdem noch Satellitenunterstützung und eigene Kommunikationskanäle .

Der Anführer der Ranger war ein gewisser Captain Gault, der aus den Überresten von Amarillo stammte. Captain Gault trug einen weißen Cowboyhut, hatte einen ordentlichen, mit Silberband eingefaßten graugesträhnten Pferdeschwanz, dazu eine smarte Sonnenbrille und einen herabhängenden schwarzen Schnurrbart. Captain Gault war mit zerknitterten Khakihosen und einem langärmligen Khakihemd mit ausgebeulten Taschen und einem Silberstern auf der Brust bekleidet. Er trug ein akkurat geknotetes schwarzes Halstuch und zwei breite, mit Silberknöpfen besetzte schwarze Ledergürtel, der eine für die Khakihose, der andere für seine zwei Pistolen mit Perlmuttgriffen. Die Pistolen waren wunderschöne, polierte Nadler, die in kunstvoll gearbeiteten schwarzen Lederholstern steckten. Von den funkelnden Waffen des Captains strahlte soviel düstere Polizeiautorität aus, daß sie beinahe greifbar schien.

Die vier einfachen Ranger waren mit schokoladebraunen US-Wüstentarnuniformen bekleidet. Sie trugen braune Cowboyhüte, braune Lederholster mit eingeprägtem Stern, Geländestiefel mit dem Stern auf dem Oberleder, und einer der beiden hatte sich sogar einen kleinen Silberstern in einen Schneidezahn einarbeiten lassen. Sie waren bärtig, langhaarig, schmallippig und staubig, und sie starrten vor Waffen und Handys und wirkten äußerst hart.

Und dann war da noch der vierte im Bunde. Er trug ein khakifarbenes T-Shirt, Uniformshorts und Laufschuhe, und er hatte ein lädiertes Stoffkäppi auf und ein von häufigem Gebrauch mitgenommenes Gewehr über den Rücken geschnallt.

Dieser letzte Typ war schwarz. Sein Haar war verstrubbelt wie das eines irren Büffel-Soldaten. Jane bedeutete die Hautfarbe eines Menschen nicht viel. Menschen, die feine ethnische Unterscheidungen machten, hatten für sie immer einen Beigeschmack von rassistischen Wahnideen, und angesichts ihres eigenen ethnischen Hintergrunds nahm Jane an, daß sie das Recht dazu hatte, gegenüber derartigen Haarspaltereien ein wenig auf der Hut zu sein. Carol war schwarz, und niemand scherte sich darum. Rudy Martinez sah aus, als wäre ein Großelternteil von ihm schwarz gewesen. Dieser Ranger jedoch war richtig schwarz, von einem geradezu übernatürlichen, seidigen Schwarz. Manche Leute stellten heutzutage seltsame Dinge mit ihrer Haut an, besonders, wenn sie sich oft im Freien aufhielten und sich Gedanken über das Ozonloch machten.

Gefolgt von dem widerwillig hinterdreinschlurfen Alex und flankiert von Greg und Joe Brasseur, kam Jerry aus der Kommandojurte hervor, um die Ranger zu begrüßen. Jerry hatte den gewohnten schäbigen Papieranzug gegen saubere Freizeithosen, ein ordentliches geknöpftes Hemd und einen weißen Mantel eingetauscht. Joe Brasseur trug Hemd, Krawatte und Brille, hatte ein Clipboard in der Hand und wirkte ausgesprochen geschäftsmäßig. Greg wirkte so wie immer: Jeans, Armeehemd, Sonnenbrille, Muskeln. Alex trug sein neues Hemd, braune Jeans und sah aus, als wäre er am liebsten ganz woanders.

Die Männer versammelten sich um die Geländewagen der Ranger und begannen sich mit tiefer Stimme zu unterhalten. Das war auch wieder etwas, das Jane an den Rangern nicht gefiel. Sie waren unglaubliche Chauvis. Jane wußte, daß sich vor einigen Jahrzehnten ein paar texanische Polizistinnen den Rangern angeschlossen hatten, doch als die Ranger damit begonnen hatten, routinemäßig und in großer Zahl Leute abzuknallen, war es mit der ganzen Geschlechterintegration bald wieder vorbei gewesen. Jetzt war sie ebenso tot wie die Durchsetzung der Drogengesetze, die Rassenintegration, das öffentliche Gesundheitssystem und andere auf der Strecke gebliebene Nettigkeiten jener Zeit. Weder bei den Texas Rangern noch bei der Nationalgarde oder der US-Army wurden noch irgendwelche Frauen zu Kampfeinsätzen hinzugezogen. Und die Männer in diesen kleinen, frauenlosen Enklaven waren daran nicht unschuldig.

Alex ließ sich von Captain Gault kurz befragen, dann eilte er erleichtert davon.

Der tiefschwarze Typ bemerkte, daß Jane aus der Nähe zuschaute. Er trottete zu ihr hinüber und grinste sie an. »Könnte ich 'n bißchen Wasser kriegen? Und Salz?«

»Klar, Officer.« Jane rief Ellen Mae ans Telefon.

Der schwarze Ranger nickte friedfertig, holte etwas aus der ausgebeulten Tasche seiner Shorts und drehte sich eine Marihuana-Zigarette. Die Schienbeine und Unterarme des Mannes waren über und über mit schmalen Narben übersät. Seitlich am Hals hatte er einen Narbenkrater, in den das Endglied von Janes Daumen hineingepaßt hätte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ein Vollstreckungsbeamter im Dienst Marihuana rauchen sollte«, sagte Jane.

Der Ranger schnippte mit seinem stumpfen Daumennagel ein Streichholz an, zündete den Joint an und inhalierte gierig. »Hör auf zu träumen, Mädchen«, sagte er.

Der junge Jeff Lowe kam mit einer Kanne, einem antiseptischen Pappbecher, zwei Salztabletten und ein paar Streifen Dörrfleisch von der Küchenjurte herbeigetrabt. Er reichte alles schüchtern dem Ranger.

»Rauchen Sie da Dope?« fragte Jeff und machte große Augen.

»Ich hab grünen Star«, meinte der Ranger. Er schluckte die Salztabletten, spülte mit drei Bechern Wasser nach, nahm zwei tiefe Züge vom Joint, dann trat er ihn aus und machte sich gierig über das Dörrfleisch her.

»Gutes Fleisch«, sagte er mit vollem Mund. »Heutzutage gibt's nicht mehr viele, die Rehfleisch richtig zubereiten können.« Er wandte sich zum Wagen um.

»Warten Sie einen Moment«, sagte Jane. »Bitte.«

Der Ranger hob die Brauen.

»Worum geht es da eigentlich?«

»Tierschmuggel«, antwortete der Ranger. »Die programmieren diese Pharmaziegen jetzt auf allen möglichen Scheiß… Treiben sie nachts über Nebenstraßen und mischen sie mit

Fleischziegen, und ohne DNA-Analyse merkt man keinen Unterschied. Da seid ihr auf ein paar richtig harte Burschen gestoßen, wir beobachten sie schon 'ne Weile. Da habt ihr richtig Schwein gehabt.«

»Für was für 'nen Scheiß sind die illegalen Ziegen denn gut?« fragte Jeff.

»Zum Beispiel für Plastiksprengstoff. Den filtert man aus der Milch, macht Käse draus, steckt einen Zünder rein und jagt irgendwas damit in die Luft.«

»Explosive Ziegenmilch«, sagte Jane gedehnt.

»Sie verarschen mich doch, oder?« meinte Jeff.

Der Ranger lächelte breit. »Klar, Leute, ich wollte euch verarschen, tut mir leid.«

Jane starrte ihn an. Der Ranger erwiderte ihren Blick. Die verspiegelten Gläser der Sonnenbrille waren ausdruckslos. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte Jane.

»Den Kontaktpunkt finden, sie querfeldein verfolgen… Bis morgen früh haben wir sie geschnappt. Vielleicht auch erst gegen Mittag. Capt'n Gault nimmt's sehr genau mit den Vorschriften, er wird sie auffordern, die Waffen wegzuschmeißen und sich freiwillig festnehmen zu lassen. Danke fürs Wasser, Ma'am. Und passen Sie gut auf sich auf.« Der Ranger trottete davon.

Jeff wartete, bis der Ranger außer Hörweite war. Dann meinte er mit einer Mischung aus gedämpftem Respekt und Verwunderung: »Janey, die werden sie alle umbringen.«

»Yeah«, sagte Jane. »Ich weiß.«

 

In den letzten beiden Maiwochen des Jahres 2031 gab es heftige, tödliche Unwetter in Hülle und Fülle. Bedauerlicherweise nur in Kansas, Iowa, Missouri, Nebraska und Arkansas. Am 27. Mai fegte eine kleinere Schlechtwetterfront über die Tornadostraße hinweg und wurde von der Truppe eifrig verfolgt, erbrachte jedoch keinerlei Ausbeute an Zacken.

Statistisch betrachtet war das nicht ungewöhnlich. Seit einiger Zeit war auf die Statistik allerdings auch kein Verlaß mehr. Vor den Schwerwetterzeiten hatte es in den Vereinigten Staaten alljährlich etwa neunhundert Tornados gegeben. Vor den Schlechtwetterzeiten hatten die Tornados eines Jahre etwa einhundert Todesfälle und einen Schaden von 200 Millionen Dollars (auf der Basis von 1975) verursacht. Trotz erheblich verbesserter Frühwarnsysteme forderten Tornados mittlerweile tausend Todesopfer pro Jahr, und der Schaden ließ sich nicht mehr genau schätzen, weil die grundlegenden ökonomischen Begriffe ›Wert‹ und ›Währung‹ nichtlinear geworden waren.

Tornados traten heutzutage aus naheliegenden Gründen viel häufiger auf. Die meisten Unwetter, selbst Stürme mit guten Indikatoren, brachten jedoch keine Tornados hervor. Daher waren viele Jagden trotz exzellenter Wetterüberwachung und rascher Verteilung der Bodenkräfte von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und selbst in der am häufigsten von Unwettern heimgesuchten Gegend von Oklahoma und Texas, der Tornadostraße, dem fruchtbarsten Entstehungsgebiet für Wirbelstürme, ging es bisweilen ruhig und friedlich zu.

Die Dürreperiode zog die Truppenmoral merklich in Mitleidenschaft. Alex fiel auf, daß die Trouper sich immer noch von der besten Seite zeigten, solange Mulcahey in der Nähe war, doch Mulcahey selbst wurde immer verschlossener und zog sich zu endlosen Simulationssessions zurück. Die Truppe begann sich erst zu langweilen, dann machte sich allgemeine Reizbarkeit breit. Carol und Greg, deren Beziehung früher bestenfalls instabil gewesen war, machten sich in aller Öffentlichkeit gegenseitig runter. Peter und Rick fuhren mit dem Beiwagenmotorrad nach Amarillo, um ›einen draufzumachen‹, und kehrten anschließend zerschlagen und verkatert zurück. Rudy Martinez fuhr für eine Woche nach San Antonio, um seine geschiedene Frau und seine Kinder zu besuchen. Martha und Bussard, die sich gegenseitig körperlich abstoßend fanden, aber dennoch nicht voneinander lassen konnten, gerieten sich wegen eines unbedeutenden Schadens an einem Ultralight heftig in die Haare. Und Juanita verbrachte eine Menge Zeit damit, daß sie mit dem Strandbuggy ziellos in der Gegend herumfuhr, angeblich, um das neue, verbesserte Interface zu testen, wahrscheinlich jedoch eher, um ihre Nerven zu schonen, als um des Wagens willen, wie Alex vermutete.

Die High Plains rund um Big Spring und Odessa hatten dieses Jahr zwar reichlich Regen abbekommen, aber die Truppe war mittlerweile weit nach Norden vorgestoßen, bis zum Paolo Dura Canon. Dort oben hatte der Frühling für das Grasland zunächst gut begonnen, doch dann war es abgestorben. Der unnatürlich reichhaltige Treibhausregen hatte wieder der gewohnten windigen Trockenheit Platz gemacht, und das Wachstum der überreizten Vegetation war erst ins Stocken geraten und hatte dann aufgehört. Sie war nicht gerade verdorrt - Pflanzen wie behaartes Moskitogras, Krummbüsche und Büffelgras waren viel zu zäh und niederträchtig, um einfach zu ›verdorren‹ -, aber sie wurden gelb, dürr und stachelig. Und oben in Oklahoma hatte es seit vergangenem März nicht mehr geregnet.

Alex besaß eine hohe Toleranzschwelle für Langeweile. Wahre Rastlosigkeit erforderte ein gewisses Maß an animalischer Energie, die ihm einfach fehlte. Im Gegensatz zu den Troupern wurde er weder unruhig, noch beklagte er sich. Solange seine Lunge frei war und er einen Bildschirm zum Anschauen und einen Platz zum Schlafen hatte, war Alex im wesentlichen zufrieden. Er hatte nicht darum gebeten, sich einer Gruppe reizbarer Risikofreaks anschließen zu dürfen, um deren Ziegen zu hüten, doch im Grunde machte ihm das nichts aus. Das Wetter war wundervoll, die Luft war klar, ihm ging es gut, und man ließ ihn den ganzen Tag über mit ein paar Ziegen, der Kongreßbibliothek und einem smarten Seil in Ruhe.

Das gefiel ihm. Die Ziegen waren ein aufmerksames Publikum für sein wachsendes Repertoire an Seilkunststücken, und sie stellten ausgezeichnete Ziele dar für die tückische Schlinge, die er am Seilende festgeschweißt hatte. Außerdem brauchte Alex sich jetzt, wo er ja die hohen Lederstiefel aus Matamoros hatte, keine Sorgen mehr um Dornen, Stacheln, Brennesseln und große, sich windende, giftige Klapperschlangen zu machen. Am lästigsten waren ihm die täglichen drei Mahlzeiten, bei denen er den Troupern persönlich gegenübertreten mußte. Außerdem schmeckte das Essen furchtbar.

Daß man um der gemeinsamen Sache willen auf ihn geschossen hatte, war Alex' Ansehen im Camp sehr förderlich gewesen. Nicht viele Trouper waren schon beschossen worden, unter welchen Umständen auch immer. Bloß auf Ellen Mae war mehrfach geschossen worden, auf Peter einmal, auf Rudy ein paarmal im bürgerlichen Leben und auf Greg ›viele Male‹. Die Erfahrung, direkten Beschuß überlebt zu haben, stand bei den Troupern in hohem Ansehen, und im Dienste der Truppe beschossen worden zu sein, verlieh Alex ein gewisses Prestige. Die neuen Klamotten hatten ihm ein paar grummelnde, rotzige Bemerkungen eingebracht, doch dann hatte man sich daran gewöhnt. Alex wechselte sie niemals und wusch sie selten, außerdem hatte er aufgehört, sich zu rasieren. Die Jeans und das bestickte Hemd verdreckten rasch, und der Papiersombrero, den er niemals abnahm, wurde immer wabbliger und scheußlicher. Allmählich wuchs ihm ein unregelmäßiger blonder Bart. Irgendwann wurde er nicht mehr viel beachtet. Man erfüllte ihm seinen Wunsch und teilte ihm eine Ziffer zu.

Als jedoch die Spannung im Camp wuchs, kam Alex zu dem Schluß, daß sich die Situation genügend gefestigt habe, um ein paar nützliche Schritte zu unternehmen. Er wandte sich wegen seiner rechtlichen und finanziellen Situation an Joe Brasseur.

Alex war den Umgang mit Rechtsanwälten gewohnt. Er war in Gesellschaft der zahlreichen Anwälte seines Vaters aufgewachsen. Brasseur war ein seltsamer Typ; einer der wenigen Anwälte, die es nicht zu persönlichem Wohlstand gebracht hatten. Alex hegte den starken Verdacht, daß Brasseur während des Ausnahmezustands politisch auf der falschen Seite gestanden hatte.

Die meisten Leute hatten diese Geschichtsperiode längst abgehakt und ihr besonderes Verhalten während dieser Zeit vergessen, aber Joe Brasseur war, wie andere Trouper auch, anders als die meisten Leute.

Alex wußte, daß es sinnlos war, mit einem Anwalt zu sprechen, solange man nicht zu peinlichen Geständnissen bereit war. Da er sich ziemlich sicher war, daß Brasseur weder mit dem Rauschgiftdezernat unter einer Decke steckte, noch ein Bullenspitzel war, erzählte Alex ihm von den finanziellen Vereinbarungen, die er mit der clínica in Nuevo Laredo getroffen hatte.

Die meisten Menschen gingen durchs Leben, ohne jemals eine Privatwährung zu benutzen. Schließlich waren die meisten Menschen auch arm. Sie waren nicht wohlhabend genug, um sich in das private Geldsystem einkaufen zu können, oder es fehlte ihnen an Kontakten oder Marktkenntnis, um Privatwährungen effektiv nutzen zu können. Abgesehen natürlich von der Zeit des Ausnahmezustands, als alle Amerikaner, ob reich oder arm, gezwungen gewesen waren, Privatwährungen zu benutzen, weil das Regime den US-Dollar privatisiert hatte.

Alex war sich nicht ganz sicher, wie die ›Währungsprivatisierung‹ damals vonstatten gegangen war. Gleichermaßen vage waren seine Vorstellungen von der ›Verstaatlichung der Daten‹, die das Regime in großem Umfang durchgeführt hatte. Joe Brasseur jedenfalls schien sich mit diesen Dingen hervorragend auszukennen. Brasseur erledigte die Buchführung der Truppe, und dabei hatte er es mit einem ganzen Haufen von Privatwährungen zu tun.

Alex war wohlhabend und hatte ein paar unmögliche Freunde, darum kannte er sich mit den Grundlagen recht gut aus. Es ging dabei um nicht zu knackende Verschlüsselung, um digitale Echtheitsprüfung, anonymes Remailing und das Verwischen von Spuren im Netz. Diese Netztechniken hatte man früher als höchst ausgefallen und ungehörig betrachtet, doch inzwischen waren sie so weit verbreitet, daß sie nicht mehr rückgängig zu machen waren, ohne daß das ganze Netz zusammengebrochen wäre.

Waren diese Techniken erst einmal implementiert, machten sie es den Regierungen natürlich unmöglich, den elektronischen Datenfluß zu kontrollieren, wo, wann und zu welchem Zweck auch immer. Im Verlauf dieses Prozesses hatte sich die moderne elektronische Wirtschaft jeglichem menschlichem Einfluß weitgehend entzogen. Als man dahinterkam, daß die wilde, nichtlineare Anarchie den Betroffenen nicht unbedingt zum Vorteil gereichte, war es bereits zu spät gewesen. Sämtliche praktikablen Vermögensstandards hatten sich verflüchtigt, waren digitalisiert worden und in einem Hurrikan aus dünner elektronischer Luft verschwunden. Selbst wenn man die Glasfaserkabel tatsächlich wieder aus dem Boden gerissen hätte, würde sich dadurch nichts geändert haben; Regierungen, die das versuchten, stellten fest, daß der ganze Verschlüsselungswirrwarr alsbald auf die Voice Mail und selbst Faxgeräte übergriff.

Infolge der Währungsprivatisierung waren auf einmal zahlreiche Schwarzmarktvermögen aufgetaucht. Das war offenbar auch so beabsichtigt gewesen - während die Regierung ihre eigene Fähigkeit, erfolgreich Einkommenssteuer einzutreiben, sabotierte, hielt sie sich andererseits dadurch schadlos, daß sie die ehemals verborgenen Schwarzmarkttransaktionen mit Strafsteuern belegte.

Schon bald stellte sich heraus, daß das Schwarzgeld einen gewaltigen Umfang hatte. Das Schwarzmarktvermögen, das sich aufgrund von Steuerhinterziehung, Schmiergeldzahlungen, amtlich geduldeter Korruption, Betrug, Unterschlagung, Waffen- und Drogenhandel, Prostitution, Hehlerei und Schwarzarbeit gebildet hatte, war weitaus größer, als sich die konventionellen Ökonomen je hatten träumen lassen. Augenblicklich wurde klar: Der globale Ozean des Schwarzmarktgeldes hatte so gewaltige Ausmaße, daß die gewohnten Doktrinen des konventionellen Finanzsystems mit der Realität kaum noch etwas zu tun hatten. Die Ökonomen, die gemeint hatten, sie verstünden die Grundlagen des modernen Finanzwesens, hatten in einem dogmatischen Wolkenkuckucksheim gelebt, das ebenso irrelevant war wie der Marxismus. Infolge dieser furchtbaren Erkenntnis waren die meisten nationalen Währungen stark unter Druck geraten, und die Währungsmärkte waren zusammengebrochen.

Als der Notstand immer schlimmer wurde, hatte das Regime in Panik die Datenverstaatlichung durch den Kongress gedrückt und das Wesen des Geldes und der Informationen mit dieser Zwangsmaßnahme unwiederbringlich verändert.

Das daraus resultierende Chaos war die Basis, auf der sich Alex einen Begriff von der modernen Normalität gebildet hatte.

Alex wunderte es nicht, daß Leute wie die chinesischen Triaden oder die korsische Schwarze Hand ihr eigenes elektronisches Geld prägten. Das nahm er einfach als selbstverständlich hin: privates elektronisches Geld ohne amtliche Rückendeckung, nicht zu verfolgen, vollkommen anonym, weltweit zugänglich, blitzschnell übertragbar, allgegenwärtig - effektiv, und im allgemeinen höchst flüchtig. Natürlich posaunte derartiges Kapital auf dem Transaktionsbildschirm nicht hinaus, daß es der ›sizilianischen Mafia‹ gehörte; normalerweise führte es eine bombastische, offiziell klingende Bezeichnung, wie ›Banco Ambrosiano ATM EuroDigiLira‹, doch die privaten Währungsspekulanten vermochten die Solvenz der Emittenten im allgemeinen recht gut einzuschätzen.

Nicht selten brachen diese Privatwährungen aufgrund von schierer Gier oder Mißmanagement zusammen, und manchmal war es auch bloß Pech. Die unerbittlichen Kräfte des freien Marktes hatten allerdings eine gewisse Ordnung in das Kuddelmuddel gebracht. Viele Leute kannten heutzutage einfach nichts anderes als Privatwährungen mehr und glaubten, es müsse so sein.

Wenn man privates digitales Geld benutzte, kannten nicht einmal die Geldverkäufer die Identität ihres Kunden. Wahrscheinlich hatte man als Käufer ebenfalls keine Ahnung, mit wem man es zu tun hatte, sondern kannte bloß den Kurs, die Marktkennung und die Performance. Abgesehen von einem nicht zu knackenden, verschlüsselten Paßwort hatte man selbst keine Identität. Wenn man unbedingt wollte, konnte man immer noch Regierungswährungen benutzen, und die meisten Leute taten das auch, entweder, weil es so für sie einfacher war, oder weil es ihnen an Alternativen mangelte. Die meisten Leute hatten in der Beziehung keine Wahl, denn der größte Teil der Weltbevölkerung war halt arm.

Wegen des katastrophalen Verlusts an Kontrolle über die Grundlagen der Wirtschaft litten auch die meisten Regierungen. Von Regierungsseite emittierte Währungen waren kaum stabiler als die privaten. Die Regierungen, selbst diejenigen mächtiger, fortgeschrittener Länder, hatten die Kontrolle über ihre Währungen bereits Anfang der neunziger Jahre an die hin und her schwappenden Fluten des Währungshandels abgegeben. Das war der Hauptgrund, warum das Regime darauf verzichtet hatte, den US-Dollar zu stützen.

Joe Brasseurs Privatwährungsnode im System der Truppe war in dem Geschäft keine Seltenheit: es war das digitale Äquivalent eines ganzen Bankenkonglomerats des zwanzigsten Jahrhunderts, konzentriert in ein paar Sektoren auf einer Festplatte.

Um in der clínica von Nuevo Laredo aufgenommen zu werden, hatte Alex einen hübschen Batzen Privatgeld bei einer dritten Partei deponiert. Er hatte das Geld nicht zurückbekommen und hatte eigentlich auch keine Ahnung, wie er an das Geld herankommen könnte, meinte aber, Brasseur werde vielleicht eine Möglichkeit finden, das Geld aufzuspüren und es irgendwie wieder loszueisen. Falls er das schaffte, sollte die Truppe frei darüber verfügen können.

Brasseur nahm Alex' Geständnis mit priesterlicher Gelassenheit auf, dabei ernst über den Brillenrand blickend, schließlich nickte er und machte sich an die Arbeit, und Alex hörte nie wieder von der Angelegenheit. Bloß daß sich die Lage für die Truppe anderthalb Wochen später merklich aufhellte. Ein Konvoi ehemaliger Trouper, Fred, Jose, Maureen, Palaniappan und Kenny, brachte einen Haufen Konservennahrung und ein Faß Bier mit. Die Kommandojurte erhielt einen neuen Teppich. Ein neuer Luftkondenser traf ein, der weniger wog als der alte, weniger Energie verbrauchte und mehr Wasser lieferte. Man veranstaltete eine Party, und ein paar Tage lang hatten alle bessere Laune.

Niemand bedankte sich bei Alex dafür. Ihm sollte es recht sein, wenn kein großes Aufhebens um ihn oder seine Rolle gemacht wurde. Die, die davon wissen sollten, würden es auch erfahren. Alex hatte bereits herausgefunden, daß die meisten wichtigen Dinge bei der Truppe verdeckt abliefen. Es war beinahe wie das Leben in einer Baracke, in einem Schlafsaal oder einem Krankenzimmer für Tuberkulosekranke.

Einige Trouper, darunter Mulcahey, Brasseur, Carol und Greg, wußten ziemlich viel und erfuhren es auch rasch. Zur zweiten Garnitur gehörten die, welche von sich aus ziemlich rasch dahinterkamen. Dazu gehörten Ellen Mae, Rudy Martinez und Mickey Kiehl. Dann waren da noch diejenigen, die von jemand anderem die offizielle Version aufgetischt bekamen, darunter Peter, Rick, Martha und Sam. Und gewisse innig geliebte Personen wie Bussard, Joanne, Jeff und auf ihre einzigartige Weise auch Juanita, wurden vor der ganzen furchtbaren Wahrheit zu ihrem eigenen Vorteil verschont.

Den allerletzten und niedrigsten Rang nahmen die Kandidaten, die Freunde/Freundinnen aus der Stadt, die Ex-Ehemänner/Ex-Ehefrauen, die Besucher, Netzfreunde, Alex Unger selbst und die verschiedenen, nicht unmittelbar zur Truppe gehörenden Underdogs ein. Und so würde es bei der Storm Troupe auch solange bleiben, bis sie alle aufeinander losgingen, von Banditen erschossen oder von einem Blitz getroffen wurden oder bis sie den F-6 fanden.

Alex war sich nicht sicher, ob er an den F-6 glaubte. Er glaubte allerdings, daß die Truppe daran glaubte. Mit jedem Tag, der verstrich, wurden sie immer gieriger darauf, sich Hals über Kopf auf etwas wirklich Furchtbares einzulassen. Und das Schlimmste dabei war, daß er nicht fortgehen wollte - jedenfalls solange nicht, bis er wußte, worauf sie sich da eingelassen hatten und was es mit ihnen anstellen würde.

Am 31. Mai verlegte Mulcahey, als wollte er das Glück damit zwingen, das Camp willkürlich zwanzig Kilometer nach Nordwesten, ins Hall County hinein. Die plötzliche Betriebsamkeit half der Truppenmoral wieder etwas auf die Beine.

Am 2. Juni schlug das Wetter abermals zu. Der Zufall - falls man von Zufall überhaupt sprechen konnte, wenn es um Mulcaheys Anweisungen ging - wollte es so, daß Alex als ›Nachschubcrew‹ ins Camp eingeteilt war. Das war Alex ganz recht. Sollten die anderen ruhig ein bißchen Dampf ablassen.

Und dann war da noch ein anderer, weitaus ernsterer Umstand: er hatte wieder angefangen zu husten. Zunächst war es nur ein leichtes Räuspern gewesen, doch Alex kannte sich zu gut, als daß er sich darüber hätte hinwegtäuschen können, daß der blaue Schleim seine Wirkung verlor. Seine Lunge fühlte sich längst nicht mehr an wie in Öl getunktes Hochglanzpapier. Nach und nach, aber mit furchtbarer Unabänderlichkeit, begann sie sich wieder wie seine gewohnte Lunge anzufühlen. Er hatte die Atemmaske geduldig getragen, bis er in seinem braungebrannten Gesicht eine dreieckige weiße Schnauze hatte wie ein Waschbär, doch das hatte nicht ausgereicht. Er mußte irgend etwas unternehmen.

Die Jagd war in vollem Gange. Sie waren vor dem Morgengrauen aufgestanden, und diesmal war auch Mulcahey persönlich vor Ort. Nur Joe Brasseur, der die Navigation besorgte, Bussard als Netzwerkkoordinator und Sam Moncrieff als Nowcaster waren im Lager geblieben. Und natürlich Alex, der nominell das Sagen über die Nachschubjeeps hatte.

Das war kein sonderlich anstrengender Job. Die Nachschubjeeps waren unbemannt und sollten, gesteuert mittels Satellitennavigation, Nachschub vor Ort befördern. Auf Anforderung mußte Alex die Jeeps unverzüglich mit allem möglichen technischen Krimskrams beladen und sie ferngesteuert ans Ziel schicken.

Alex vermutete, daß diese Einteilung von Mulcahey als subtiler Hinweis auf Alex' klammheimlichen Einsatz eines DopeEsels gemeint war. Als dezenter Rüffel seitens des großen Zampanos. Zu Alex' großer Erleichterung nahm dieser kaum jemals Notiz von ihm, weder im Guten noch im Schlechten. Er hatte Alex noch nie zu einem der berüchtigten Vieraugengespräche einbestellt, nach denen die anderen Trouper immer so mitgenommen waren. Hin und wieder kam es zu solchen zweideutigen kleinen Sticheleien. Wohl mit der Absicht, ihn einzuschüchtern, ihm klarzumachen, daß Mulcahey ein Auge auf ihn hatte, damit er keine Dummheiten machte. Und wenn man's recht bedachte, funktionierte diese Taktik gar nicht mal schlecht.

In Wirklichkeit war Alex bei seinem Nachschubjob vor allem damit beschäftigt, Sam, Joe und Bussard mit Wildbretchili zu versorgen, denn die Männer konnten nicht von ihren Geräten weg. Für die Ziegen war gesorgt; die Truppe hatte einen Draht um die Außenpfosten gespannt und die Ziegen innerhalb des Camps eingesperrt. Die Ziegen fraßen nun das ganze Gras ab und schissen alles voll, aber am nächsten Tag würde das Lager sowieso abgebrochen werden, daher war das nicht weiter schlimm.

Sam Moncrieff war begeistert von seinem Nowcasterstatus. Bevor Mulcahey der akademischen Welt den Rücken gekehrt hatte (und dabei ein Trümmerfeld hinterlassen hatte), war er Mulcaheys Vorzeigestudent gewesen, und Sam nahm die wichtige Rolle des Nowcasters äußerst ernst. Den Kopf unter einem VR-Helm verborgen, stapfte er blind in der Kommandojurte umher und wühlte sich wie ein vernetzter Ziesel durch wissenschaftliche Darstellungen.

Joe Brasseur hatte sein Navigationssystem im linken Anbau der Kommandojurte aufgestellt.

Daher war Alex im rechten Anbau, dem Arbeitsplatz des Sysadministrators, allein mit Bussard.

Bussard war in einer eigenartigen Stimmung.

»Mann, ich find's zum Kotzen, was Jane mit dem System angestellt hat«, meinte Bussard und drehte sich unbeholfen eine Marihuana-Zigarette. »Es stürzt nicht mehr so häufig ab und sieht auch erheblich besser aus, aber damit zu arbeiten ist echt beschissen.«

Alex musterte die Anzeigen der Nachschubjeeps. Er wunderte sich jedesmal von neuem, wie viele verlassene kleine Geisterstädte es hier draußen in Westtexas gab. »Ich finde, du solltest dich lieber um deine VR-Thopter kümmern.«

»Shit, man kann sie halt nicht alle jagen«, erwiderte Bussard nachsichtig. »Soll Kiehl ruhig seine Chance bekommen, bei dieser beschissenen Schreibtischarbeit muß man ja einfach durchdrehen.« Er zündete den Joint mit einem mexikanischen Feuerzeug an und inhalierte. »Willste auch mal probieren?« ächzte er.

»Nein, danke.«

»Wenn die Katze weg ist, Mann.« Bussard zuckte die Achseln. »Jerry würde mir deswegen eins aufs Dach geben, aber glaub mir, wenn du vierzehn Stunden an einem Stück nur mit Icons jonglierst, dann gehst du echt auf dem Zahnfleisch.«

Alex schaute zu, wie Bussard ins Dickicht der Monitore und Menüs eintauchte. Anscheinend spielte er mit dem Datenfluß der weitentfernten Wetterinstrumente herum, doch wenn es nach Alex gegangen wäre, hätte er ebensogut nach digitalen Äpfeln haschen können.

Bussard arbeitete lange wie in Trance und mit glasigem Blick und legte zwischendrin zweimal eine Pause ein, um irgendeinen gräßlichen Kräuteraufguß in einen Pappbecher zu gießen.

Indem er die Grenzen seines Erfindungsreichtums testete, schaffte es Alex, auf einem unbenutzten Laptop einen der truppeneigenen Kommunikationskanäle zu öffnen. Rudy und Rick, die mit Baker irgendwo in Cimarron County unterwegs waren, gerieten ganz aus dem Häuschen wegen des Hagels. Weniger wegen dessen Größe, sondern wegen seiner Farbe. Der Hagel war schwarz.

»Schwarzer Hagel«, meinte Alex.

»Nichts besonderes«, sagte Bussard und zupfte an dem Metallklumpen, den er an einem Lederriemen um den Hals trug. »Das bedeutet bloß, daß Staub drin ist. In Colorado wird's richtig trocken. Viel Staub, viel Dunst… schwarzer Hagel. So was kommt vor.«

»Also, ich hab noch nie schwarzen Hagel gesehen«, meinte Alex. »Und die beiden anscheinend auch noch nicht.«

»Ich hab mal einen Stein vom Himmel fallen sehen«, sagte Bussard. »Hat mein Haus getroffen.«

»Wirklich?«

»Yeah. Und das ist er.« Bussard zerrte heftig an dem Metallklumpen. »Jedenfalls das größte Stück davon. Kam geradewegs durchs Dach von meinem Schlafzimmer. Damals war ich zehn.«

»Dein Haus wurde von einem Meteor getroffen?«

»Irgend jemand muß es schließlich treffen«, sagte Bussard. »Das beweist die Statistik.« Er zögerte, starrte abwesend auf den Bildschirm, dann sah er auf. »Das ist aber auch noch keine große Sache. Einmal hab ich erlebt, wie's Fleisch geregnet hat.«

»Was?«

»Das Fleisch fiel vom Himmel«, erklärte Bussard kategorisch. »Hab's mit eigenen Augen gesehn.« Er seufzte. »Du glaubst mir wohl nicht, was, Kleiner? Also, dann schau mal in die alten Aufzeichnungen rein und guck dir an, was in der Vergangenheit schon alles vom Himmel gefallen ist. Erstaunliches Zeug! Schwarzer Hagel. Schwarzer Regen. Roter Regen.

Große Steine. Frösche und Unmengen von Fischen. Schlangen. Quallen. Roter Schnee, schwarzer Schnee. Eisklumpen, so groß wie Elefanten. Mann, ich habe gesehn, wie Fleisch vom Himmel gefallen ist.«

»Was für Fleisch?« fragte Alex.

»Rasiertes Fleisch. Ohne ein Härchen dran. Sah aus wie… ich weiß nicht, wie geschnittene Pilze oder geschnittene Kartoffeln oder so, bloß daß es rot und blutig war, so mit kleinen Adern drin. Irgendwann im Sommer fiel es aus einem dunklen Wolkenhimmel, und zwar ziemlich langsam, als hätte jemand Kartoffelchips runtergeschmissen. Ein kleiner Hackfleischschauer. Etwa so breit wie ein ordentlicher Highway, und über eine Länge von ungefähr achtzehn Metern. Genug, um ein paar große Einkaufsbeutel damit zu füllen, wenn man's zusammengekratzt hätte.«

»Und - hast du's zusammengekratzt?«

»Shit, Mann, nein. Wir waren total entsetzt.«

»Haben das auch noch andere Leute gesehen?« fragte Alex verwundert. »Gab es Zeugen?«

»Aber ja! Mich, meinen Dad, meine Cousine Ellen und den Bewährungshelfer meines Cousins Elvin. Wir haben uns alle zu Tode geängstigt.« Bussards Pupillen waren geweitet, seine Augen glänzten. »Das war während des Ausnahmezustands… Der größte Teil des Mittelwestens war ein einziges Staubbecken. Ich lebte damals in einer Vorortsiedlung in Kentucky, und mittags wurde der Himmel immer schwarz, und man bekam eine Ladung aus Iowa oder Nebraska oder irgend so was mit, auf Türen und Fenster, fingerdicken braunen Dreck. Schwere Wetter, Mann. Die Leute glaubten, das Ende der Welt sei gekommen.«

»Von den großen Staubstürmen hab ich gehört. Aber noch nicht von rasiertem Fleisch.«

»Ich weiß nicht, Mann. Ich hab's selbst gesehn. Und ich hab's auch nicht vergessen. Ich glaube, mein Dad und Elvin schafften es nach ein paar Jahren, nicht mehr dran zu denken und die Erinnerung daran irgendwie zu verdrängen, aber bei mir war das anders. Manchmal meine ich, so ein Scheiß müßte ständig passieren. Aber die Leute haben immer zuviel Schiß, um es weiterzuerzählen. Niemand läßt sich gern für verrückt erklären… Zumal damals während des Ausnahmezustands, als es diese beschissenen ›demographischen Umsiedlungen‹ gab und die Leute Angst hatten, daß sie irgendwann in irgendwelchen Flüchtlingslagern landen würden. Das war megahart, megaschlimm…«

Bussard blickte auf seinen Monitor hinunter. »Was, zum Teufel, ist denn das?« Er tauchte in das Labyrinth der Bildschirme ein und stieß auf einen blinkenden Sicherheitsalarm. »Shit, draußen vorm Camp ist irgendein Bodenfahrzeug! Mann, lauf raus und sieh nach!«

Alex lief zwar nicht, verließ jedoch energischen Schritts die Jurte und ging nachsehen. Dem Camp näherte sich ein nahezu lautloser, brandneuer ziviler Truck, ein großer, cremefarbener Vierräder mit getönten Scheiben und einem klimatisierten Wohnwagenanhänger. Der Truck kam in einer Staubwolke in respektvollem Abstand von den Begrenzungspfosten zum Stehen und scheuchte die Ziegen auf, die verängstigt zwischen den Zelten umherrannten.

Alex verdrückte sich wieder in die Kommandojurte. »Da ist jemand, Mann! So ein teurer Truck mit 'ner großen Antenne.«

»Shit!« Bussard wirkte verärgert. »Sturmbeobachter, Kandidaten. Sag ihnen, sie sollen verschwinden, sag ihnen, hier läuft nichts. Falls du Hilfe brauchst, schrei, dann komme ich mit Joe und Sam raus.«

»Ist gut«, meinte Alex. »Schon kapiert. Kein Problem.«

Er trat vorsichtig ins Freie, winkte den Neuankömmlingen mit seinem Papierhut zu und wartete darauf, daß sie das Feuer auf ihn eröffneten.

Die Fremden schossen nicht. Zwei Männer kletterten friedlich aus dem hübschen Wagen und blieben abwartend stehen. Alex' Herzschlag beruhigte sich wieder. Das Leben ging weiter.

Alex empfand beinahe so etwas wie Sympathie für die beiden Männer. Es war ausgesprochen nett von ihnen, daß sie sich so normal verhielten, daß sie einfach zwei Typen in einem Truck waren und keine alptraumhaften, wahnsinnigen Vandalen, die wahllos das Camp zusammenschossen, während sich alle anderen in Oklahoma aufhielten. Alex setzte den Hut wieder auf und schlenderte langsam auf die Fremden zu, wobei er darauf achtete, daß seine leeren Hände zu sehen waren. Er hüpfte vorsichtig über den Draht, der zwischen den Begrenzungspfosten gespannt war.

Beim Näherkommen erkannte er einen der beiden Männer. Es war der schwarze Ranger, der zu der Gruppe gehört hatte, die vor ein paar Wochen im Camp gewesen war. Der Ranger trug Zivilkleidung, abgeschnittene, ausgebleichte Jeans und ein zerlumptes gelbes T-Shirt mit der Aufschrift NAVAJO NATION RODEO. Diesmal war er anscheinend unbewaffnet.

Zu Alex' Verblüffung kannte er den anderen Mann ebenfalls.

Die Erinnerung an die Umstände durchzuckte ihn wie ein Stromstoß.

Er hatte sich in einem Hinterzimmer des Gato Negro in Monterrey aufgehalten, zusammen mit vier Bekannten aus dem Umkreis der Dope-Vaqueros. Sie waren von Matamoros herübergekommen, wo Alex sich damals einer Behandlung unterzogen hatte. Die Vaqueros schlugen die Zeit tot, während sie auf das Erscheinen ihres Mannes aus Monterrey warteten, der ein paar benötigte Medikamente mitbringen sollte. Daher zogen sie Linien Koks von der Marmorfläche des Cafetischs, mit Don Aldos selbstgebrauten Erinnerungsstimulantien verschnittenes Kokain, eines dieser unglaublich wirksamen synthetischen Drogengebräus, welche die Funktionsweise von Regierung und Wirtschaft auf lange Sicht immer stärker beinträchtigen sollten.

Da sie nun mal Dope-Vaqueros waren, bestand ihre Vorstellung von Spaßhaben darin, sich erst mit diesem Teufelszeug zuzudröhnen und dann um hohen Einsatz die spanische Version von Trivial Pursuit zu spielen. Von Kokain bekam Alex Herzflimmern, er trank auch nicht, und aufgrund seiner gewaltigen Bildungslücken war er bei jeder Art von Trivial Pursuit hoffnungslos unterlegen, von der mexikanischen Version ganz zu schweigen. Don Aldo hatte ihm jedoch freundlicherweise eine Prise der synthetischen Droge überlassen, und Alex wagte es nicht, die Einladung des guten Don zurückzuweisen. Daher schniefte er das Zeug und begann im Verlauf des Spiels kleine Wetten zu plazieren. Alex war ein ausgezeichneter Verlierer. Das war auch der Grund für seine Beliebtheit in diesen Kreisen.

Nach etwa zwanzig Minuten hatte alles im Gato Negro eine zwar trügerische, aber ausstrahlende tiefe Bedeutung angenommen, wie sie stets mit der chemischen Gedächtnisverstärkung einherging, und dann waren diese anderen Typen aufgetaucht. Drei an der Zahl, sehr gut gekleidet. Sie stürmten am Rausschmeißer an der Tür vorbei, ohne daß sie nach Waffen abgetastet worden wären. Das machte Don Aldo, Juan, Paco und Snoopy sogleich mißtrauisch, denn Monterrey war nicht ihr Revier, und ihre eigenen Samstagabend-Keramikspielzeuge waren in Verwahrung.

Die drei Fremden übersahen die Vaqueros zunächst hochnäsig, nahmen in einem Winkel des Raumes Platz, bestellten cafe con leche und stürzten sich sogleich in eine leise, angeregte Unterhaltung.

Don Aldo winkte mit einer fremden, geknackten PlatinKreditkarte barsch den Kellner herbei und wechselte ein paar Worte mit ihm, in einem dermaßen mit Gaunerkauderwelsch durchsetzten Grenzspanisch, daß nicht einmal Alex, in diesen Dingen eine Art Kenner, ihnen folgen konnte. Und dann lächelte Don Aldo breit und gab dem Kellner ein Trinkgeld. Einer der drei Fremden war nämlich der Polizeichef des Bundesstaates Sinaloa. Und wer die beiden guten Freunde von El General waren, brauchte sie nicht zu kümmern.

Bloß daß einer der Freunde von El General genau der Herr war, der aus dem Truck geklettert war. Damals hatte er für Alex keine besondere Bedeutung gehabt, doch aufgrund der synthetischen Gedächtnisstütze hatten sich das Gesicht des Mannes und seine Art unauslöschlich in Alex' Hirn eingeprägt. Jetzt, da er ihn wiedersah, hatte er auf einmal einen solchen Flashback, daß er den Staub der Erinnerung am Gaumen zu schmecken meinte.

»¿Que pasa?« fragte er.

»Hallo, guten Tag«, antwortete der Fremde höflich. »Ich bin Leo Mulcahey, und das ist mein Reisegefährte, Mr. Smithers.«

»Guten Tag, Mr. Smithers«, sagte Alex, unwillkürlich in die Parodie abgleitend. »Erfreut, Sie wiederzusehen.«

»Hallo«, brummte Smithers.

»Und wer bist du?« fragte Mulcahey.

Alex sah in die dünnen Rosenquarzgläser von Mulcaheys Sonnenbrille auf und wurde auf einmal von der tiefen, absoluten Überzeugung erfaßt, daß diese Begegnung weder in seinem, noch im Interesse der Gruppe lag. Vom hochgewachsenen, charmanten und distinguierten Leo Mulcahey ging ein so intensiver Drogengestank aus, daß Alex im Innersten erschauerte. Ranger waren schon schlimm genug, aber der gepflegte Gespensterfreund von El General war nicht der Typ, der das Camp der Storm Troupe jemals hätte betreten dürfen, egal aus welchem Grund und unter welchen Umständen.

»Mr. Leo Mulcahey«, sagte Alex. »Irgendwie verwandt?«

»Ich bin Jerrys großer Bruder«, antwortete Leo Mulcahey mit sanftem Lächeln.

»Muß ein komisches Gefühl sein, einen kleinen Bruder zu haben, der einem das Rückgrat brechen könnte, als wär's ein Streichholz.«

Mulcahey zuckte zusammen. Keine heftige Reaktion, bloß ein überraschtes Zusammenzucken. »Ist Jerry da? Kann ich mit Jerry sprechen?«

»Bedauerlicherweise hält sich Jerry gegenwärtig nicht im Camp auf, er ist auf Sturmjagd.«

»Ich dachte immer, Jerry würde die Verfolgungsjagden koordinieren. Daß er im Lager bleiben würde, als… Der Ausdruck fällt mir nicht ein.«

»Als Nowcaster. Yeah, das tut er auch meistens, aber im Moment ist Jerry gerade irgendwo in Oklahoma auf Tornadojagd, daher darf ich Ihnen den Zutritt zum Camp gegenwärtig nicht gestatten.«

»Ich verstehe«, sagte Leo.

»Was soll der ganze Scheiß eigentlich?« sagte auf einmal Smithers. »Hör mal, Kleiner, wir waren erst vor drei Wochen in eurem Camp, und ich freu mich schon auf noch 'ne Portion von dem Dörrfleisch.«

»No Problema«, meinte Alex. »Geben Sie mir Ihre Koordinaten, dann schickte ich Ihnen soviel Dörrfleisch, wie Sie wollen. Heute noch. Kostenlos.«

»Könnten wir vielleicht mit jemand anderem reden?« fragte Leo.

»Nein«, entgegnete Alex. Brasseur würde Zeit zu gewinnen versuchen. Bussard würde klein beigeben. Sam Moncrieff würde tun, was er für das Beste hielt. »Nein, das geht nicht.«

»Kleiner, sei doch nicht so«, sagte Smithers. »Ich bin das Gesetz.«

»Sie sind das Gesetz, wenn Sie als Ranger unterwegs sind. In Begleitung dieses Typs sind Sie nicht das Gesetz. Wenn Sie Cops sind, dann zeigen Sie mir irgendeine ID und einen amtlichen Ausweis.«

»Ich bin kein Police Officer, um Himmels willen«, meinte Leo vorwurfsvoll. »Zufällig bin ich Entwicklungsökonom.«

Smithers blickte Leo mit unverhohlenem Unglauben an, dann sah er wieder zu Alex. »Kleiner, da gehört aber schon 'ne gehörige Traute dazu, hier draußen so 'ne HalbwüchsigenScheiße abzuziehen. Wo ist denn deine gottverdammte ID?«

Alex brach der Schweiß aus. Die Angst machte ihn aber bloß wütend. »Hören Sie, Smithers oder wie Sie tatsächlich heißen mögen, ich habe Sie eigentlich für 'ne größere Nummer gehalten. Wie kommt's eigentlich, daß Sie mich wegen diesem Scheiß in die Mangel nehmen? Der Typ ist nicht mal ein Cop! Wieviel bezahlt er Ihnen eigentlich?«

»Das ist mein richtiger Name!« widersprach Smithers verletzt. »Nathan R. Smithers.«

»Ich verstehe nicht, warum das so eskaliert ist«, sagte Leo vernünftig.

»Vielleicht sollten Sie mal daran denken, wie Sie damals in Sinaloa Ihren guten Freund, den general de policia, behandelt haben.« Das war ein Schuß ins Dunkle, eine blindlings abgefeuerte Harpune, aber sie traf genau ins Schwarze. Leo zuckte so heftig zusammen, daß selbst Smithers beunruhigt schien.

»Sinaloa«, sagte Leo nachdenklich und faßte sich wieder. Er blickte durchdringend auf Alex hinunter. Er war sehr groß, und wenn es ihm auch an den Gewichthebermuskeln seines Bruders Jerry mangelte, wirkte er auf seine aalglatte Art doch wie jemand, mit dem nicht gut Kirschen essen war. »Natürlich«, sagte er auf einmal. »Du mußt Alex sein. Der kleine Alejandro Unger. Mein Gott.«

»Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte Alex. »Leute Ihres Schlages sind hier nicht erwünscht.«

»Du bist noch keinen Monat hier, Alejandro! Und schon führst du dich auf wie Jerrys Wachhund! Es ist schon erstaunlich, welche Loyalitätsgefühle dieser Mann auslöst.«

»Das können Sie sehen, wie Sie wollen, Leo«, sagte Alex. »Ich lasse Sie ins Camp, wenn Jerry sagt, daß Sie reinkommen können, wie gefällt Ihnen das?« Auf einmal spürte er bei seinem Gegenüber eine Schwäche und stieß unerbittlich nach. »Wie wär's, wenn Sie hier solange warten, bis ich mit Jerry gesprochen habe? Ich kann Jerry jederzeit erreichen, gar kein Problem. Warten wir mal ab, was Jerry dazu meint.«

»Ich habe einen Gegenvorschlag«, sagte Leo. »Wenn ich nun davon ausgehe, daß du überhaupt nichts zu sagen hast? Daß du dir einfach was zusammenreimst, weil du einen dummen, persönlichen Groll gegen mich hegst. Daß du ein unausgeglichener, kranker, verdorbener kleiner Luxuspunk bist, der völlig übergeschnappt ist, und daß wir einfach an dir vorbeigehen können.«

»Dann müssen Sie mich erst niederschlagen.«

»Das scheint nicht weiter schwierig zu sein, Alex. Du bist gerade erst aus diesem Schwarzmarktschuppen in Nuevo Laredo rausgekommen. Du wirkst ziemlich krank.«

»Und Sie Leo, werden ziemlich tot wirken, wenn der Typ, der Ihnen den Laserflecken auf die Stirn gesetzt hat, den Abzug drückt und Ihr Gehirn umherfliegt.«

Leo wandte sich an Smithers. »Mr. Smithers. Bitte sagen Sie mir, ob mich tatsächlich ein Lasergewehr im Visier hat.«

Smithers schüttelte den Kopf. »Soweit ich erkennen kann, nicht. Kleiner, mir auf die Tour kommen zu wollen, ist wirklich dämlich.«

Alex nahm erst die Sonnenbrille ab und dann den Hut. »Sehen Sie mich an«, meinte er zu Smithers. »Mache ich einen verängstigten Eindruck auf Sie? Wirke ich vielleicht eingeschüchtert?« Er wandte sich Leo zu. »Und was meinen Sie, Leo? Sehe ich so aus, als würde es mir was ausmachen, wenn wir aufeinander losgehen und Sie am Ende erschossen werden? Wollen Sie mich wirklich schlagen und dabei riskieren, sich eine höchst reale Kugel einzufangen, bloß damit Sie in ein paar leeren Papierzelten rumstöbern und Ihren Bruder überrumpeln können, wenn er zurückkommt - wahrscheinlich in Begleitung all seiner Freunde?«

»Nein«, sagte Leo entschlossen. »Für diesen ganzen Blödsinn besteht überhaupt kein Anlaß. Wir wollen doch Juanita nicht verärgern, oder? Janey?«

»Jane lassen Sie, verdammt noch mal, aus dem Spiel«, sagte Alex mit mühsam unterdrückter Wut. »Das ist ja wohl die Höhe! Lassen Sie mich und meine Schwester in Ruhe, lassen Sie uns alle in Ruhe, Sie Narko von einem Hurensohn. Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse und eine noch größere Dummheit mache, als überhaupt hierherzukommen.«

»Das hat so keinen Zweck«, sagte Leo. »Mir ist völlig schleierhaft, was du mit diesem lächerlichen Junkie-Starrsinn eigentlich erreichen willst. Wir kommen halt ein andermal wieder, wenn hier vernünftige Leute sind.«

Alex nickte und verschränkte die Arme. »Okay. Yeah. Es ist zwecklos. Kommen Sie nächste Weihnachten wieder, großer Bruder. Aber jetzt verschwinden Sie. Und zwar jetzt gleich.«

Leo und Smithers wechselten Blicke. Leo zuckte vielsagend die Achseln, hob die Schultern unter der wattierten brandneuen Safarijacke.

Die beiden Männer stiegen ohne Eile in den Truck. Smithers ließ den Motor an, wendete und fuhr los. Alex bemerkte, daß Leo das Camp systematisch mit einer Videokamera abfilmte.

Alex ging langsam zur Kommandojurte zurück. Bussard erwartete ihn an der Eingangsklappe. Sam hatte immer noch den Nowcasterhelm auf. Joe Brasseur war nirgendwo zu sehen.

»Wer waren die Typen?« fragte Bussard.

Alex zuckte die Achseln. »Kein Problem. Ich hab sie weggeschickt. Ein paar Bewerber.«