Nachwort
Michael Nagula
Unser Spiel ist Wirklichkeit
Von Formern, Mechanisten und Cyberpunks
Bruce Sterlings SF-Welten
»Eine Tasse film noire, eine Tasse Bester, zwei Eßlöffel Blade Runner, ein Eßlöffel James Bond, eine Prise Delany, ›einige tausend Mikrogramm‹ (für jene, die kein Cyberpunk sprechen, ein halbes Gramm) Dexedrin; sorgfältig mischen, mit einer dicken Schicht reaganesker Hypeness und ramboesker Aggressivität überziehen. Drei Jahre bei voller Hitze backen, dann gären lassen. Reicht für zwei gute Schriftsteller und mehrere Nachzieher.«
Kim Stanley Robinson, Cyberpunk Cake
Die Postmoderne - unendliche Weiten. Was Robinson im obigen Zitat leicht infam, leicht verschmitzt, allemal aber hämisch, zum besten gibt, ist eine durchaus korrekte Beschreibung, deckt gleichzeitig jedoch nur die oberste Erscheinungsebene jenes Phänomens ab, das seit Anfang der achtziger Jahre die amerikanische SF-Gemeinde in Atem hält und derzeit im Begriff ist, wieder auf die allgemeinkünstlerischen Bereiche überzuspringen, aus denen es sich mit Autoren wie Thomas Pynchon und Filmemachern wie Ridley Scott speiste: der Cyberpunk. Dieses Wort, einst von dem Kritiker und Herausgeber Gardner Dozois geprägt, um den Schreibstil von William Gibson zu charakterisieren, der 1985 mit seinem Roman Neuromancer (dt. Neuromancer, Heyne SF & Fantasy 06/4400, München 1987) alle einschlägigen SF-Preise einstrich, hat sich längst als Markenzeichen einer neuen Bewegung erwiesen, die wechselseitig die Grenzen des Genres sprengt und als Bezeichnung geradezu perfekt ist. Cyberpunk - das ist einerseits die pure Negation: der Sitten, der Geschichte, der Philosophie, der Politik, des Körpers, des Willens, der Affekte, von allem, was durch das kulturelle Gedächtnis vorgegeben ist; andererseits ist es die reine Attitüde: Alles ist Macht, und Subkultur wie die Grazie der Hipness leugnen das Auseinandergischten des Bewußtseins, wenn es gegen die chromglänzenden oder mattschwarzen Panele einer technifizierten Zukunft brandet, einer Zukunft der immanenten Künstlichkeit, in der jedwede Natur erst durch technische Mittel simuliert und erarbeitet werden muß. Das sich daraus ergebende Weltkonstrukt ist weit entfernt von den Sektionen der Geschichte‹, so weit wie der gegenwärtige SF-Mischmasch von den jämmerlichen Phantasien der Vergangenheit, die versuchten, dem Leser eine Vorstellung von der Zukunft zu vermitteln. Heutige Tendenzen koppeln sich von jeder Geschicklichkeit ab. Das Konzept des Cyberpunk ist so aalglatt und umfassend, daß es das Hohe mit dem Niedrigen verschmilzt, das Komplizierte mit dem Einfachen, das Beherrschende mit dem Beherrschten, die Technikdiffizilität mit den Niederungen des Rock & Roll. Damit gleicht es einer Verherrlichung dessen, was so oft Zeitgeist oder - gebildet - Postmoderne genannt wird, wohinter sich nichts anderes verbirgt als der Strom der Zeit, die ewige Bewegung, in der die höchste Abstraktion auf einer Welle ohne Untergrund gleitet und Konkretheit niemals tiefer reicht als bis zum Verständnis ihrer Anwendung. Was im Cyberpunk zum Tragen kommt, ist das Fehlen eines Ortes, an dem sich der einzelne niederlassen und zur Ruhe kommen kann. Gemäß dem Tempo unserer längst weltumspannenden Zivilisation heißt es, sich bewegen, immer nur bewegen. Das sind Behauptungen; erheblich schwieriger ist es zu sagen, worauf sich der Begriff ›Cyberpunk‹ konkret, nämlich über das Verständnis seiner Anwendung hinaus, bezieht. Eine erste Antwort darauf gibt das wohl bekannteste Manifest dieser Bewegung, die Einleitung zu der von Bruce Sterling herausgegebenen Sammlung Mirrorshades (dt. Spiegelschatten, Heyne SF & Fantasy 06/4544, München 1988). Als Streben der Bewegung wird hier nicht etwa die Erreichung eines konkreten Ziels oder gar die Einlösung bestimmter Entwürfe beschrieben, sondern die Widerspiegelung einer neuen kulturellen Synthese, die sich aus dem Umstand ergibt, in den achtziger Jahren zu leben, und im wesentlichen eine paradoxe Form des Realismus nötig macht. Cyberpunk, sagt Sterling, ist »eine neue Art der Integration. Das Überlappen von Welten, die vorher getrennt waren: das Reich der High Tech und des modernen Pop-Untergrundes. Diese Integration ist die entscheidende Quelle der kulturellen Energie unseres Jahrzehnts geworden. Das Werk der Cyberpunks findet seine Parallele in der Popkultur der achtziger Jahre: im Rockvideo; im Hacker-Untergrund; im kreischenden Street Tech von Hip-hop und Scratch Music; im Synthesizer-Rock von London und Tokio. Dieses Phänomen, diese Dynamik, hat globale Reichweite; der Cyberpunk ist seine literarische Verkörperung.« Gleichzeitig verweist Sterling auch auf eine neue politische Haltung gegenüber dem technischen Know-how und den etablierten Machtstrukturen, eine Haltung, die er als ›Allianz‹ bezeichnet: »Plötzlich wird eine neue Allianz offensichtlich: eine Integration von Technologie und Gegenkultur der achtziger Jahre. Eine unheilige Allianz der technischen Welt und der Welt des organisierten Abweichlertums - der Untergrundwelt von Pop, visionärer Beweglichkeit und Street-Level-Anarchie.« Was ins Auge springt, ist das Moment der Integration. Es ist nicht ganz einsichtig, wie die integrierte Subkultur aus politisch-ästhetischen Beweggründen das High-Tech-Spielzeug des Establishment für ihre Zwecke übernommen haben soll, wo sie doch ihrerseits vermutlich nur das Ergebnis der Entfremdung von eben diesem Establishment ist. Eine Erklärung könnte Sterlings Äußerung geben, die er einmal in einem Interview machte, wonach die beste Science Fiction die sei, die sich nicht als eine Literatur der Ideen verstehe, sondern als eine Literatur über Ideen. Sie bilde nicht einfach Tendenzen der Gegenwart ab, sondern befasse sich mit den Strukturen, auf denen diese Tendenzen beruhen, Strukturen, die heutzutage überall auf der Welt die gleichen sind.
Bruce Sterlings Auffassung von Science Fiction spiegelt unmittelbar die rasanten Veränderungen wider, denen die Gesellschaftssysteme der Welt derzeit unterworfen sind. Dabei ist er ebenso Abbild und Phänomen wie treibende Kraft innerhalb des Genres, zu dem er ein einigermaßen zwiespältiges Verhältnis aufweist. Einerseits ist er in ihren Traditionen gefangen, ein großer Verehrer von Autoren wie Arthur C. Clarke, den er für seine Fähigkeit bewundert, es sich in einem Bereich zwischen Kunst und Wissenschaft heimisch gemacht zu haben, andererseits drängt es ihn, das alte Inventar der Science Fiction mit ihren Kernenergiewundern, Robotergesetzen und breitschultrigen Raumschiffkapitänen hinter sich zu lassen und die Grenze zur allgemeinen Literatur niederzureißen, deren Stelle die SF einzunehmen habe - eine Forderung, die er als Vincent Omniaveritas jahrelang laut tönend verkündete. So heißt es in seinem Artikel »The New Science Fiction«: »Die objektive Weltsicht der Wissenschaften hat keine moralische Komponente. Sie wird dich rösten oder deinen Stereo zum Laufen bringen, das macht keinen Unterschied. Und Mainstream-Literatur hat dabei versagt, die Bedingungen dieser neuen Epoche anzunehmen. Die moderne Welt definiert sich durch ihre Technologie. Aber eine Literatur, die Technologie verachtet und ignoriert, läuft ins Leere. Jene, die den überwältigenden Einfluß der Technologie nicht begreifen können, sind wahrhaft hilflos. Mainstream-Literatur spiegelt diese Hilflosigkeit und die Anomie, die damit einhergeht, wider. Mainstream-Literatur ist machtlos geworden.« Und als Bruce Sterling erklärte er in einem biografischen Entwurf unter dem Titel »Twisted for a Living«: »Ich war immer der Meinung, daß SF Dinge tun und können sollte, zu denen andere Formen des Schreibens nicht in der Lage sind. Ich halte SF für eine populäre Kunstform mit großem subversivem Potential, ganz ähnlich der Pop-Musik. Indem sie sich wie eine unsichtbare Strahlung durch unsere Kultur stiehlt, ist der Einfluß der SF nicht spürbar, nicht sichtbar und doch profund. SF ist ein kulturelles Mutagen. Sie ist mehr als eine psychedelische Lichtshow; in ihren besten Augenblicken gibt sie Schüsse genzertrümmernder kosmischer Strahlen ab.« All dies und mehr soll der Cyberpunk erfüllen, zu dessen Markenzeichen Sterling/Omniaveritas zufolge technologische Bildung und imaginative Konzentration gehören, visionäre Intensität, ein weltumspannender Blick auf das einundzwanzigste Jahrhundert und - eine fiktionale Technik, die die Fortschritte der New Wave in der SF als gegeben ansieht und die volle Bandbreite ihres literarischen Könnens nutzt, dabei jedoch dem Inhalt den Vorrang über Stil und der Bedeutung den Vorrang über Manieriertheit einräumt.«
Cyberpunk ist die ›hard sf‹ unserer Tage, und Sterling steht in der Tradition beider Auslegungen dieses Begriffes, sowohl jener, die das wissenschaftlich-technizistische Anliegen der Science Fiction in den Vordergrund stellt, als auch der, die den berühmten ›sense of wonder‹ propagiert, dieses kaum näher zu beschreibende emphatische Gefühl der Verklärung und des Aufbruchs zu neuen Ufern, das besonders die Gründerväter der SF so gerne beschworen haben. Bereits sein Werdegang läßt darauf schließen. Sterling, ein eingeschworener Leser der Zeitschrift Scientific American (dt. Spektrum der Wissenschaft), wurde am 14. April 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Im gleichen Jahr, in dem er sein vierjähriges Studium des Journalismus an der Universität von Austin mit dem Magistergrad abschloß, 1976, erschien seine erste Veröffentlichung, die Kurzgeschichte »Man-Made Self«, und zwar in der texanischen SF-Autoren vorbehaltenen und in geringer Auflage erschienenen Sammlung Lone Star Universe. Dabei hatte er schon mehrere Jahre zuvor mit »Living Inside« seine erste Kurzgeschichte an Harlan Ellisons SF-Anthologie Last Dangerous Visions verkauft, die jedoch bis heute noch nicht erschienen ist (und in SF-Kreisen mittlerweile den Rang eines Mythos einnimmt). Ellison war es auch, der Sterling dazu riet, seine Erzählung »Involution Ocean«, die in dessen Autorenwerkstatt entstanden war, zu einem Roman auszubauen, der 1977 unter gleichem Titel als Band der Harlan Ellison Discovery Series herauskam. Zwar möchte der Autor dieses Frühwerk, wie er es nennt, inzwischen lieber feierlich im (damals noch unentdeckten) Wrack der Titanic begraben sehen, doch nimmt es schon viele Aspekte seines späteren Schaffens vorweg, so etwa die Ausgefeiltheit des Stils und die Zeichnung der Charaktere, die bald zu Sterlings besonderen Stärken gezählt werden sollten.
Im wesentlich ist Involution Ocean (dt. Der Staubplanet, Knaur SF 5727, München 1980) ein farbiges SF-Abenteuer in der Tradition der Seefahrerromane. Ganz nach Art von Philip Jose Farmers The Wind Whales of Ishmael (dt. Ismaels fliegende Wale, Moewig SF 3508, München 1980), das bereits 1971 erschien und so etwas wie eine Fortsetzung zu Hermann Melvilles symbolistischem Roman Moby Dick darstellt, in der sich der Walfänger Ismael in einer fast wasserlosen Erde der Zukunft wiederfindet und von fliegenden Schiffen aus gegen mörderische Haie und geflügelte Wale kämpfen muß, malt auch Sterling in seinem ungewöhnlich ideenreichen Roman das Bild einer Welt, deren Staubmeere phantastische Lebensformen hervorgebracht haben, darunter Staubwale, die zu jagen eine der Existenzgrundlagen der Kolonisten darstellt. Das neu hinzutretende Element, das Sterling als künftigen CyberpunkAutoren aufweist, ist jedoch der Nutzen, der von einer Gruppe drogenabhängiger Touristen aus diesen Umständen gezogen wird. Teile der Wale dienen nämlich dazu, eine begehrte Substanz zu gewinnen, die den Motor für die gesamte Handlung abgibt.
Eingebunden in den Versuch, größere Mengen davon zu bekommen, ist die Suche nach den intelligenten Ureinwohnern dieser Welt und die Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einer Außerirdischen, die seitens der Frau nach jedem Liebesakt mit schmerzhaften Entzündungen bezahlt werden muß. Der Roman erregte bei seinem Erscheinen zwar Aufsehen, war kommerziell gesehen jedoch ein Mißerfolg.
Nach Abschluß seines Studiums reiste Sterling erst einmal zweieinhalb Jahre durch Europa und kehrte völlig abgebrannt wieder nach Texas zurück. Er heiratete und veröffentlichte 1980 seinen zweiten Roman, The Artificial Kid (dt. Video-Kid, Ullstein SF 31090, Berlin 1984), der Aspekte wieder aufnimmt, wie sie schon in Norman Spinrads Ende der sechziger Jahre zur Hochzeit der New Wave entstandenem Bug Jack Barron (dt. Champion Jack Barron, Moewig SF 3562, München 1982) angelegt sind, einem Buch, das wegen seiner schnoddrigen Sprache und der an Rocksongs ausgerichteten Diktion einiges Aufsehen erregte. Allerdings verquickt Sterling diese Aspekte hier mit seinem Talent im Ausmalen farbenprächtiger Welten und einem auktorialen Ich-Erzählton, der Christopher Priest zu der Bemerkung veranlaßte: »Man spürt, daß es bald zu spektakulären Gewaltausbrüchen kommen wird, und vom Leser wird erwartet, das zu verzeihen.« Ganz so schlimm geht es in dem Roman zwar nicht zu, aber deutlich tritt bereits der Punk-Aspekt im Stil des Autors zutage, der - später auch unter Bezug auf John Shirley - charakteristisch für die gesamte Cyberpunk-Bewegung werden sollte.
Wie Teile von Spinrads und Ellisons Schaffen trägt auch The Artificial Kid das Stigma des zornigen jungen Mannes: Träumerei, die Heimatwelt des Künstlichen Kids, eines Klons, wird von einer Wolke aus Orbitalstädten umgeben und von den blasierten Nachkommen der visionären Gründer bewohnt, die ein Jahrhundert damit verbracht haben, systematisch Raubbau an einem Nachbarplaneten zu treiben, um sich so die Rechte an Träumerei zu sichern. Träumerei ist ein idyllischer Ort, aber der Großteil der Bevölkerung lebt im Orbit und zieht es vor, sich über Video an den Schönheiten des Planeten zu erfreuen, eine Vorliebe, den die traditionell eingestellten ›Kampfkünstler‹ - eine Art ästhetischer Gladiatoren der Zukunft - fleißig zu ihrem Vorteil nutzen.
Künstlicher Kid, jung und aufstrebend, berichtet selbstbewußt von seinen Abenteuern, die ihn mit einer Anzahl seltsamer Typen, verfolgt von den Häschern des legendären Gründers von Träumerei, der aus einem Jahrhunderte dauernden Tiefschlaf wiedererwacht ist, durch das farbenprächtige Ökosystem der Welt führen. »Der Schwung, mit dem Sterling die Story erzählt«, meint Gregory Feeley in einer Besprechung, »ist ihr attraktivster Zug, aber die Hintergrundelemente des Romans, von denen keines ursprünglich von Sterling stammt, sondern die aus grundverschiedenen Quellen herangezogen werden, die von O'Neills Weltraumkolonisierungstechnologie bis zur Punk-Ikonographie reichen, werden mit bemerkenswerter Erfindungsgabe kombiniert.« Das für den Cyberpunk wichtigste Moment ist jedoch die Auseinandersetzung mit der Computertechnologie. Erst führt der Roman den Gedanken ein, daß die Künstliche Intelligenz-Forschung als reizlos und unheilvoll abzulehnen sei, dann setzte er sich für die Entwicklung sich selbst reproduzierender Arbeitsmaschinen ein, um Wohlstand herbeizuführen und das menschliche Potential freizusetzen. Künstlicher Kid wird damit zum prototypischen Cyberpunk, der - wie Timothy Leary kürzlich schrieb - »jeden verfügbaren Dateninput dazu verwendet, um für ihn zu denken«.
In den folgenden Jahren veröffentlichte Sterling eine Reihe von Erzählungen, die einleiteten, was man die zweite Phase im Werk des Autors nennen könnte. Es handelte sich um eine ›future history‹, entstanden zwischen 1982 und 1985 und aus insgesamt sechs Texten bestehend, die im sogenannten Mechanisten/Former-Universum angesiedelt sind, wo autonome Orbitalstädte alle Beziehungen mit einer erschöpften Erde abgebrochen haben und überall im Sonnensystem menschliche Siedlungen entstanden sind, die im Kampf um die Vorherrschaft zwischen den genetisch maßgeschneiderten Formern und den kybernetisch aufgerüsteten Mechanisten gezwungen werden, Partei zu ergreifen. Während keines seiner bisher entstandenen Werke große Aufmerksamkeit erregte, wurde dieser Zyklus überaus positiv aufgenommen. »Swarm«, »Spider Rose«, »Cicada Queen« und »Sunken Gardens« zeigten größere Präzision und Kontrolle als Sterlings vorangegangene Arbeiten und wurden alle für Preise nominiert. »Twenty Evocations: Life in the Mechanist/Shaper Era«, die letzte Erzählung aus dem Zyklus, hat überdies den Aufbau mit Sterlings drittem Roman gemeinsam, dem vorliegenden Titel Schismatrix, der den Höhepunkt und krönenden Abschluß des Zyklus bildet.
Tom Maddox, selbst zu den Cyberpunk-Autoren gehörig, bemerkte über diese neue Phase in Sterlings Schaffen, daß sie wohl eher die biologischen als die ästhetischen Aspekte von dessen Visionen hervorhebe, die auf nachdarwinistischen Konzepten des Lebens als Information beruhten, welche sich zu immer höheren Ebenen der Komplexität weiterentwickelten. Dabei erfolge das Auftreten dieser neuen Ebenen in Form einer Reihe von Brüchen der gegenwärtigen Ordnung, von Sterling dargestellt als Übergriffe durch bisher unbekannte Arten und Weisen des Lebens. Die Bestange paßten des Informationszeitalters, das sind - wenigstens in Sterlings Cyberpunk-Universum - die Former und Mechanisten. Wie zwei verschiedene Spezies, die die gleiche ökologische Nische ausfüllen wollen, kämpfen sie darum, die Zukunft zu beherrschen. »Die Former«, heißt es in der Erzählung »Sunken Gardens« (1984), »hatten die Kontrolle über ihre eigene Genetik an sich gerissen und überließen die Menschheit einem Ausbruch künstlicher Evolution. Ihre Rivalen, die Mechanisten, hatten das Fleisch durch fortgeschrittene Prothesen ersetzt.« Anders als bei einigen von Arthur C. Clarkes oder Olaf Stapledons Romanen, die sich ebenfalls mit der Umwandlung der Menschheit und ihrem letztlich doch merkwürdigen Schicksal befassen, sind Sterlings Visionen dabei von einer Intensität und Klarheit, wie man sie in letzter Zeit selten gekannt hat. Der sorgfältig recherchierte Hintergrund des wissenschaftlich Machbaren versieht sie mit einer Authentizität, die ein übriges dazu beiträgt, den extrapolierten Zukunftskosmos mit Glaubwürdigkeit zu versehen. Freilich macht das bestimmte Einwände gegen ein solches Konzept von unverhohlenem Darwinismus nur um so naheliegender.
In einem Interview antwortete Sterling auf die Frage, ob er glaube, daß heutzutage ein starker evolutionärer Druck auf der Menschheit laste: »›Evolution‹ ist ein kompliziertes Konzept. Evolution, wie man sie klassischerweise definiert, operiert nicht auf der gleichen Zeitskala wie technologischer Fortschritt. Die Former-Serie postuliert eine Zukunft, in der die technischen Fortschritte die menschliche Rasse in Untergruppen zersplittern, die man nicht mehr als menschlich klassifizieren kann. In einem Sinne sind diese ›posthumanen‹ Gruppen neue Arten, aber in einem anderen und wahreren Sinne sind sie technologische Artefakte, industrielle Produkte. Es ist eine Frage der Definition. Augenscheinlich ändert sich der Genpool der modernen Bevölkerung drastisch, großteils dank der Geburtenkontrolle und Gesundheitsfortschritte in der Dritten Welt. Dies ist unser bestes Beispiel für klassischen evolutionären Druck‹. Das hat wenig zu tun mit den gernsbackschen Sci-fi-Phantasien ›höherentwickelter‹ Lebewesen mit sechs Fingern und geschwollenen Stirnen; der Art von Gecken, die in weißen Gewändern und durchsichtigen Sandalen herumlatschen. Ich sehe andere und vergleichsweise bizarrere Effekte für die Bevölkerung voraus, darunter etwa: Prothesen, Lebensverlängerung, Neurotechnologie und vorbehaltlose genetische Manipulation. Wir brechen die Gesetze der Evolution, und vielleicht verändern wir schon bald ihren Aufbau.« Man muß an dieser Stelle festhalten, daß Sterling sich durch seine Ausführungen einer gesteuerten Evolution des Vorwurfs eines Neodarwinismus' aussetzt, wie er schon mehr als einmal zu den schrecklichsten Auswüchsen der Menschenverachtung geführt hat. Wer dermaßen freimütig mit Begriffen wie ›posthuman‹ und evolutionärem Druck‹ hantiert, begibt sich in bedrohliche Nähe zu einer von Wissenschaft und bloßer ›Machbarkeit‹ genährten Politik, die sich für faschistoide Strukturen in der modernen Informationsgesellschaft von morgen ausspricht - gerade weil, um mit Sterling zu sprechen, Evolution nicht auf der gleichen Zeitskala abläuft wie technischer Fortschritt.
Ungeachtet dieses Einwandes sind Sterlings Former/MechanistenTexte faszinierende Extrapolationen heutiger Zustände, und »Swarm« (1982), die erste Erzählung des Zyklus, enthält bereits viele charakteristische Themen der nachfolgenden Arbeiten: Kämpfe zwischen den Gruppen als hauptsächliche Form der Auseinandersetzung, der dabei aufgebotene große Fanatismus, der hohe evolutionäre Einsatz und vor allem die dem Former-Universum innewohnende Dynamik, die als Ausgleich zu den oben angenommenen Gefahren betrachtet werden kann. »Dieser Drang, zu expandieren, zu erforschen, zu entwickeln, ist es, der euch auslöschen wird«, erklärt der Agent des Schwarms, ein Vertreter einer Art Bienenstockorganismus. »Ihr nehmt naiv an, daß ihr ewig damit weitermachen könnt, eure Neugier zu befriedigen. Es ist eine alte Geschichte, die unzähligen Rassen vor euch durchgemacht haben. Innerhalb von tausend Jahren - vielleicht ein wenig länger - wird eure Spezies verschwunden sein ... Wissen ist Macht! Nehmt ihr an, daß eure zerbrechlichen kleinen Gestalten - eure primitiven Beine, eure lächerlichen Arme und Hände, euer winziges, kaum gefaltetes Gehirn - all diese Macht aufnehmen kann? Schon zerbirst doch eure Rasse unter dem Anprall eurer eigenen Sachkenntnis.« Während »Swarm« (1982) schließlich damit endet, daß die irdische Hauptfigur als Beweis für die Überlebenskraft der Menschheit beim Schwarm bleibt, der künftig bestrebt sein wird, sie in seinen Organismus aufzunehmen, steht im Zentrum von »Spider Rose« (1982) die Sehnsucht nach menschlichen Gefühlen, die eine isoliert lebende Mechanistenfrau fast in den Wahnsinn treibt, würden nicht biochemische Mittel in der sie umgebenden Nährflüssigkeit ihre geistige Gesundheit aufrechterhalten. Sie verliebt sich in ein außerirdisches Wesen, das sie jedoch in der Folge eines Angriffs durch einen Former verzehren muß, um am Leben zu bleiben. Am Ende der Erzählung wird sie in insektenhafter Form aus einem Kokon wiedergeboren - mit den Fähigkeiten des Wesens, das sie verzehrte.
Bewegten sich die beiden ersten Erzählungen des Zyklus noch auf durchaus vertrautem Boden der Science Fiction, so erkundete »Cicada Queen« (1983) schon eher die symbolischen Tiefen dessen, was Sterling den Posthumanismus nennt. Unter Berufung auf den Nobelpreisträger Ilya Prigogine, einen belgischen Physikochemiker, der sich unter anderem mit der statistischen Mechanik irreversibler Prozesse befaßt, entwickelt er im Gewand einer Erzählung die von ihm so bezeichneten ›Prigoginischen Ebenen der Komplexität. Jede Ebene beruht auf einem autonomen generativen Katalysator, der sich selbst antreibt und neu erzeugt. Die erste Ebene ist der Urkosmos, die zweite Ebene das Universum in Raum und Zeit, die dritte Ebene das Leben, die vierte Ebene die Intelligenz und die fünfte Ebene bloß noch das Postulat, »sie sei so sehr von der Intelligenz entfernt wie diese vom amöbischen Leben oder das Leben von inaktiver Materie«. Die Geschichte macht vor komplizierten Zusammenhängen und Worten mit spezieller Bedeutung nicht halt, und entsprechend schwierig ist sie auch zu lesen, doch Sterling, der seine Schreibtechnik hier wohl den Romanen von William Gaddis entlehnt, erwartet vom Leser ohnehin, daß er aktiv an der Entschlüsselung des Textes teilnimmt. »Sunken Gardens« (1984) widmet sich schließlich dem größten Thema im Mechanisten/Former-Universum: daß die Zweckfreiheit so absolut wie die Freiheit sei und allumfassend. In der Erzählung beobachteten die sogenannten Regalier des Terraform-Clusters aus einem Orbit die Umwandlung des Mars in einen bewohnbaren Planeten. Die Regalier sind eine Gruppe Herrschender, die sich aus den Siegern in Konkurrenzkämpfen zwischen Formern und Mechanisten auf dem Mars zusammensetzt. Nur wer technische Neuerungen entwickelt, kann selbst den begehrten Posten eines Regaliers einnehmen. Als ein Former namens Mirasol auf eine Gruppe primitiver Menschen stößt, die zur Strafe dafür, daß sie fast die Technik des Raumflugs wiederentdeckt hätten, so gut wie ausgelöscht wurden, hat der Oberste Regalier keine Probleme, das umgehend zuzugeben. Mirasol wendet ein: »›Aber denken Sie doch an die Leute. Stellen Sie sich vor, wie sie ihre Technologie verlieren und zu Menschen degenerieren, einer Handvoll Wilder, die Vogelfleisch ißt.‹ ›Unser Spiel ist Wirklichkeit, sagte der Regalier. ›Sie können die wilde Schönheit der Zerstörung nicht leugnen.‹ ›Sie verteidigen diese Katastrophe?‹ Der Regalier zuckte mit den Achseln. ›Wenn das Leben perfekt funktionieren würde, wie könnten sich Dinge entwickeln? Sind wir nicht posthuman? Dinge wachsen; Dinge sterben. Mit der Zeit tötet der Kosmos uns alle. Der Kosmos hat keine Bedeutung, und seine Leere ist absolut. Das ist reiner Terror, aber es ist auch reine Freiheit. Nur unser Ehrgeiz und unsere Schöpfungen können ihn ausfüllen.‹ ›Und das rechtfertigt Ihre Handlungen?‹ ›Wir handeln im Namen des Lebens‹«
Es ist diese Philosophie der Bedeutungslosigkeit menschlichen Handelns und die daraus folgende absolute Freiheit, die Sterlings Former/Mechanisten-Zyklus ihren Stempel aufdrückt. Seine Bewohner eines in Republiken unterteilten Sonnensystems, die sich mit Hilfe biogenetischer Techniken einerseits und computerelektronischer Cyborgverfahren andererseits verändern und in zahlreiche Unterarten aufspalten, versuchen Antworten auf die Frage zu finden, was Menschsein eigentlich ausmacht - wobei sie in einem eleganten Kunstgriff keine körperliche Ähnlichkeit mehr mit ihren unmodifizierten Vorfahren aufweisen, ein äußerliches Zeichen dafür, daß sich mit diesen Modifikationen auch ihr Bewußtseinsfokus verschoben hat. Deutlicher noch als in den vorangegangenen Geschichten wird die Frage nach verbleibenden Glaubenswerten und deren gleichzeitige Auflösung in der kurzen programmatischen Erzählung »Twenty Evocations: Life in the Mechanist/Shaper-Era« thematisiert, doch erfährt sie ihre endgültige Ausarbeitung erst in dem vorliegenden Roman, der im wesentlichen dem Handlungsaufbau dieser Erzählung folgt. Wenn man so will, kann man Schismatrix (1985) als einen Vorschlag sehen, was wir von einer Zukunft erwarten können, in der die Gentechnik zunehmend die traditionelleren Methoden der Fortpflanzung und des Gesundheitswesens ersetzt hat. Dabei ist der neue Mensch gar nicht so verschieden vom alten. Die ewigen Themen der Politik, die Klanrivalitäten, Liebe und Trennung, Degeneration und die Suche nach einem Grund, für den es sich lohnt zu sterben, alles findet seinen Platz in dieser futuristischen Umgebung, einschließlich eines gewaltigen Konkurrenzstrebens. Einige der künstlichen oder auf Asteroiden ansässigen Republiken, die das gewaltige Netz der Schismatrix bilden, sind bereits zerfallen und quellen von biologischer Korruption über, und der Einfluß diverser außerirdischer Rassen, von denen die aus »Cicada Queen« und »Sunken Gardens« bekannten Investoren, deren Name allein ihre Ziele schon hinreichend erklärt, die Hauptsorge der Menschen sind, scheint nicht gerade geeignet zu sein, um daran etwas zu ändern. Ein entsprechendes Abbild der Gegenwart bietet auch Abélard Lindsay, der Protagonist des Romans, der mit seinem künstlichen rechten Arm ein nur teilweise neugeschaffener Mensch ist. Er wird im Verlauf der Handlung zwar weiter rekonstruiert, doch wiederholt brechen seine menschlichen Gefühle durch. Alles in allem bleiben die Dinge merkwürdig unverändert, wie in einem Kreislauf geschlossen. Lindsay findet sich nach etlichen Gefechten, durchstandener Liebe und Ehe und dem Kampf gegen einen früheren Freund und Verbündeten als alter Mann neuerlich in der Rolle des Abenteurers, und der Roman endet mit der Aussicht auf ein Paradies, das auf der Erde mit Hilfe von Wesen aus den Tiefen des Ozeans geschaffen wird; dort ruht ein genetischer Schatz, der für die Bedingungen auf dem Jupitermond Europa umgebaut wird. Aber welchen Grund gibt es zu der Annahme, daß Europas ökologisches Schicksal schließlich ein anderes sein wird als das der übrigen manipulierten Umwelten?
Schismatrix, der Höhepunkt der Mechanisten/Former-Serie, besitzt eine Dichte und Komplexität, wie man sie in der Science Fiction der achtziger Jahre selten antrifft und die bei Sterling ihren bisher deutlichsten Vorläufer in der Erzählung »Cicada Queen« hat. Als wesentliches Mittel hierzu dienen ihm die Former und Mechanisten selbst, die er auf dialektische Weise dazu verwendet, um auf der Handlungsebene immer neue Ideen und Spannungssituationen einzuführen. Durch die ständige Hinterfragung seitens einer der Gruppierungen (was durch ihr bloßes Vorhandensein geschehen kann, das Reaktionen fordert) zeigt sich inhaltlich eine grenzenlose Schachtelung seiner Philosophie des Posthumanismus, ein Verfahren, dem auf der Ausdrucksebene Sterlings detailreicher Stil entspricht, der immer möglichst viele Seiten einer Sache gleichzeitig in Augenschein zu nehmen versucht. Das führt zwangsläufig zu Erklärungsleerstellen im Text, die - gemäß den ›Prigoginischen Ebenen der Komplexität - ein Vorher und Nachher erlauben, aber keinen Übergang erkennen lassen. Tom Maddox weiß zu berichten, daß sich ein bekannter SF-Herausgeber einmal dahingehend über Sterlings dritten Roman äußerte, daß die Handlung bedauerlicherweise keine Übergänge zwischen den Episoden aufweise; ein anderer Leser erklärte, es gebe zu viele sich bewegende Teile. Beide Aussagen deuten, um mit Maddox zu sprechen, auf den Umstand hin, daß in Sterlings Werk ein Überfluß an Organischem herrscht. Die Mechanisten/Former-Texte sind so reichhaltig an Details und Konzepten, »daß man an ihnen würgen ... oder einen Geschmack für sie entwickeln kann. Wie bei lebenden Wesen kann man über die Chancen dieser Geschichten auf Dauer nur Vermutungen anstellen. Kompliziertheit, die einen in der Gegenwart erschreckt, beweist auf lange Sicht recht häufig anhaltende Wirkung. Für Sterling diente das Mechanisten/FormerUniversum als ästhetisches und philosophisches Labor, wo er seine Fertigkeit geschliffen und die Themen aufgegriffen hat, die er für entscheidend für die Entwicklung der Menschheit hielt. Wie die sich rasch vermehrenden Organismen der Mechanisten/Former-Erzählungen stellen seine bisherigen Texte eine Reihe von Anwendungen auf ein Universum der ständigen Veränderung dar: somit bietet er nicht nur Stil und eine Anzahl von Themen, sondern gleich eine Vielfalt davon, die sich dynamisch weiterentwickelt.«
Mit seinem sechsteiligen Zyklus hat Sterling eine ›future history‹ verfaßt, eine lockere Folge von Erzählungen und Romanen, wie sie seit den fünfziger Jahren von SF-Autoren wie Asimov, Blish, Heinlein und Niven immer wieder vorgelegt wurden, doch seit etwa 1982 eine regelrechte Renaissance erlebt haben, außer bei Bruce Sterling am interessantesten bei William Gibson und Kim Stanley Robinson, der mit seinem Roman The Memory of Whiteness (1984; dt. Sphärenklänge, Science Fiction Special 24098, Bergisch Gladbach 1987) ein interessantes Gegenstück zu Sterlings Roman schrieb, in dem sich nicht die Menschen den Welten anpassen, sondern die Welten entsprechend den Bedürfnissen der Menschen umgeformt werden. Mit Schismatrix soll jedoch laut dessen Autor der endgültige Schlußpunkt unter den Mechanisten/Former-Zyklus gesetzt sein, und wie zur Bestätigung hat sich Sterling im Anschluß daran gleich einer ganzen Reihe verschiedener Projekte gewidmet, die mit jenem Universum nicht mehr viel gemeinsam haben. Auch das, was leichthin als Cyberpunk bezeichnet wurde, scheint damit - wenigstens was die Generation der Gründerväter anbelangt - endgültig zum Abschluß gekommen zu sein. Science Fiction, deren Fragen gewisse Traditionen hat, welche die Gesellschaft umstrukturiert und eine kommende globale Kultur und Ökonomie voraussieht, die auf einem Informationsnetzwerk beruht, hatte es geschafft, die meisten früheren Zukunftsentwürfe des Genres zur Unscheinbarkeit zu degradieren, und auch der Cyberpunk, einst so glücklich von Sterling und Gibson entworfen, war mittlerweile zu einem formelhaften Gebilde erstarrt, in dem sich eine Vielzahl phantasieloser Nachahmer tummelte.
Freilich war Sterlings politischer Anspruch mit Beendigung seiner ›future history‹ nicht erloschen. In seinem jüngst erschienenen vierten Roman Island in the Net (1988), dessen Titel offenkundig eine Hommage an Ernest Hemingways Island in the Stream (dt. Inseln im Strom) ist, schildert er eine Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in der die Abrüstung zur Realität geworden ist, die Kriege jedoch auf anderem Wege, nämlich über Computervernetzungen, ausgetragen werden. Mit Episoden, die in der Karibik spielen, und hochkarätigen Abenteuerszenen auf hoher See (insofern eine Reminiszenz an Sterlings Erstlingswerk), ist es ein äußerst lyrisches, tiefsinniges Buch, das sich aber durch das völlige Fehlen moralisierender Passagen auszeichnet. Laura und David, die beiden Protagonisten, sind die Entsprechungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zum Yuppi, dem Young Urban Professional, dessen einziges Interesse seine selbstsüchtige Loyalität zur Gesellschaft ist, in ihrem Fall einem Konzern, der sich nach japanischem Vorbild vertraulich und väterlich um seine Angestellten bemüht. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Vernichtung der nuklearen Waffenlager unterliegt das einundzwanzigste Jahrhundert nicht länger der apokalyptischen Drohung des globalen Holocaust. Diese grundlegende Veränderung, einhergehend mit der Allgegenwart des Kommunikationsnetzes, führt zur reihenweisen Produktion von unmündigen und naiven Mitgliedern der Gesellschaft, die natürlich schlecht darauf vorbereitet sind, sich der gesetzlosen Welt von Datenpiraten und Revolutionären zu stellen, wie Laura und David schnell feststellen. Die Konzernspitze sendet das Paar (mit einem Baby an Bord) in die neue, durchtechnisierte Voodoo-Welt Grenadas, und von dort bricht Laura zu weiteren Abenteuern auf, die ihr eine Reife verleihen, welche das alte, sichere Leben im Schoß des Konzerns ihr niemals ermöglicht hätte. Das ist das bloße Skelett der Handlung, aber Sterlings Größe liegt, wie schon im vorliegenden Roman, vor allem in der sorgfältigen Ausarbeitung bedeutsamer Details, der kleinen Dinge, die das künftige Gesellschaftssystem einerseits glaubwürdig und andererseits fremdartig erscheinen lassen. Neue Moden, neue Technologien, ja sogar neue Denkweisen liegen überall wie, exotisches Garn verstreut umher, während die ewigen Gefahren der Unterwelt ebenso für Spannung wie für gültige Einsichten sorgen.
Island in the Net führt die Komplexität des Menschen, die das durchgängige Thema von Sterlings bisherigem Schaffen war, und das Motiv des ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ noch weiter aus, rekonstruiert die Welt auf eine Weise, daß die Merkwürdigkeiten der zusammenphantasierten Zukunft und ihr blinder Tatendurst unserer eigenen Zeit in nichts nachstehen. Bemerkenswert ist dabei, wie Heiko Langhans in einem Kommentar über diesen Roman anmerkt, daß sich darin starke Spuren humanistischen Gedankenguts finden, einer Bewegung, zu der auch Kim Stanley Robinson und Connie Willis zählen, mit denen sich die Cyberpunks seit Anfang der achtziger Jahre verbittert in den Haaren gelegen hatten, nur um dann ineinander überzugehen und die neue treibende Kraft der Science Fiction zu bilden, die keine starken Trennstriche mehr zwischen den Vertretern bestimmter literarischer Richtungen zuläßt. (Humanisten könnte man ein wenig verkürzt als zeitgenössische SF-Autoren bezeichnen, die genauso ehrgeizig sind wie die einstigen Cyberpunks, aber weniger Gruppengeist und eine nicht so aufrührerische Rhetorik haben.) Diese Situation ist durchaus vergleichbar mit der New Wave der sechziger Jahre, die sich ebenfalls innerhalb kürzester Zeit selbst verzehrte, um einer neuen Richtung der Science Fiction den Weg zu ebnen, die man vielleicht gleichermaßen politisch wie stilistisch orientiert nennen könnte. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, daß die Vertreter des Cyberpunk sich von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik nicht im geringsten abgestoßen fühlen.
Kreativität ist ihr Schlagwort, Kreativität vor allem im Umgang mit den neuen Möglichkeiten, die uns die Informationsgesellschaft von heute in die Hand gibt. Das drückt sich außer in Sterlings Romanen und seinem Mechanisten/Former-Zyklus auch in einer Anzahl Erzählungen aus, die seit Mitte der achtziger Jahre erschienen sind und Sterling auf der Höhe seiner Schreibkunst zeigen. Herausragend unter ihnen ist »Flowers of Edo« (1987), eine in der frühen Meidschi-Periode Tokios vor der Jahrhundertwende angesiedelten Geschichte, deren Erstveröffentlichung konsequenterweise auch in einem japanischen SF-Magazin erfolgte. Die damals durchgeführten kaiserlichen Reformen sollten den Anschluß Japans an die Entwicklung der modernen europäischen Industrienationen sichern. Zu den Protagonisten zählen ein KabukiTheaterschauspieler, ein ehemaliger Samurai und Yoshitoshi Taiso, einer der besten japanischen Holzschnittkünstler, die gegen den Dämon des Fortschritts und der fremdländischen Invasion ankämpfen. Sterlings Wissen über die Herstellungsverfahren dieser Kunstform zu jener Zeit ist beeindruckend, ebenso wie die Vielzahl der Details über das Japan der Meidschi-Ära. Aber auch Texte wie »Green Days in Brunei« (1985), die Geschichte eines kanadischen Ingenieurs, der in den Sümpfen von Brunei darum kämpft, einen Vertrag zur Modernisierung einer Industrieanlage zu erfüllen, und »The Beautiful and the Sublime« (1986), die als viktorianische Liebesgeschichte angelegt und in Briefform verfaßt ist, zeigen Sterling als großartigen Stilisten mit der Neigung, ungewöhnliche Zutaten zu einer ausgefeilten Szenerie zu verbinden. Stets zeichnen sich seine Arbeiten dabei durch hervorragende Recherchen aus, ob in »Dinner in Audoghast« (1985), das von einem Gastmahl der sinnesfrohen Levantiner erzählt, der Bewohner der Länder des östlichen Mittelmeerraumes, denen ein blinder Seher ihren Untergang prophezeit, oder in »Our Neural Chernobyl« (1988), einer im Stil des von Sterling sehr verehrten Stanislaw Lern verfaßten fiktiven Buchkritik über eine Virenseuche, die von der Aids-Forschung ausgelöst wurde, wobei Tschernobyl dem Autor als Metapher für die »letztendliche Dummheitsbarriere« dient. In letzter Zeit, nach Abschluß seines Mechanisten/Former-Zyklus, kommt Sterling allerdings immer wieder - ähnlich wie William Gibson in seinem dritten Cyberspace-Roman Mona Lisa Overdrive (dt. Mona Lisa Overdrive, Heyne SF & Fantasy, in Vorb., München 1989) - auf viktorianische Weltentwürfe zurück, ein Umstand, den auch seine Kurzgeschichte »The Little Magic Shop« (1987) belegt. Überdies hat Sterling eine Schwäche dafür, mit anderen Autoren zusammenzuarbeiten. Dies zeigen nicht nur seine mit William Gibson beziehungsweise Rudy Rucker entstandenen Erzählungen »Red Star, Winter Orbit« (1983) und »Storming the Cosmos«, sondern auch seine Pläne für die Zukunft. Bereits abgeschlossen ist sein neuer Roman The Difference Engine (1989), der in gemeinsamer Arbeit mit Gibson entstand und einen dampfbetriebenen Computer zum Thema hat, der mitten im Viktorianischen England eine technische und soziale Revolution auslöst. Gespannt sein darf man auch auf ein unter dem Titel Amy Joyce angekündigtes Buch, das Sterling zusammen mit seiner Frau Nancy Baxter schreibt.
Bruce Sterling verkörpert wie niemand sonst den CyberpunkAutoren par excellence. Seine zahlreichen Manifeste und Artikel, die seit Anfang der achtziger Jahre vorwiegend unter dem Pseudonym Vincent Omniaveritas erschienen und neue Formen der Science Fiction forderten, wie er sie in den Arbeiten von William Gibson und einer Anzahl verwandter Geister gefunden zu haben glaubte, waren nur der Auftakt zu einem durchaus eigenständigen Erzählwerk, das so menschlich und umsichtig ist, wie es sich ein SF-Humanist nur wünschen kann. Alle seine Texte haben bisher die Fähigkeit bewiesen, mit erheblichem Gewinn für den Le ser historische Epochen unter einem neuartigen Blickwinkel zu betrachten, stets eingedenk der Tatsache, daß - was immer man auch von neuen Entwicklungen halten mag - eine Rücknahme des einmal Gedachten nicht möglich ist. Unter diesen Vorzeichen sieht Sterling die Science Fiction als Literatur mit einer Mission, die darin besteht, politisches Bewußtsein zu wecken, Vorgänge zu reflektieren, zu kommentieren und gegebenenfalls zu beeinflussen, eine Art Interface zwischen Technik und Gesellschaft. Nicht wenige Kritiker und Leser haben ihn bereits als eine der größten Hoffnungen der modernen Science Fiction bezeichnet, als Wegbereiter der SF in die neunziger Jahre. Sein Roman Schismatrix markiert nur den Abschluß seiner zweiten Schaffensperiode, die ihn mit dem nötigen ideellen und handwerklichen Rüstzeug versah, um das Ghetto der Science Fiction, in deren Rahmen er sich mit seinen ersten beiden Büchern immer noch hielt, hinter sich zu lassen. Sein künftiges Werk wird davon Zeugnis geben.