10. Kapitel
DEMBOWSKA CARTEL: 21-2-'01
Trotz der Schlüsselrolle, die sie beim Entstehen des Czarina-Klusters gespielt hatte, war Kitsune niemals in Person hier aufgetaucht. In den Pioniertagen des C.-K. hatte Kitsune, genau wie Wellspring, eine große Macht und starken Einfluß ausgeübt; aber im Gegensatz zu ihm hatte sie sich keineswegs elegant diese Macht aus den Fingern gleiten lassen wollen. Wellspring hatte sich aus der Tagespolitik auf die Direktion ä la mode aus dem Hintergrund zurückgezogen. Kitsune dagegen hatte den Kronrat der Queen unverhohlen herausgefordert.
In den Jahren der Rekonvaleszenz von Lindsay war ihr damit einiger Erfolg beschieden. Sie kündigte Pläne an, in das C.-K. zu ziehen, aber je mehr die Jahre verstrichen, desto weniger neigte sie dazu, ihre Routinegeschäfte durcheinanderbringen zu lassen, und so schwand ihre Macht. Das hatte zu einem Split geführt, und von da an hatten sich die Geschicke des Czarina-Klusters und Dembowskas auf einschneidende Weise divergent gestaltet.
Im C.-K. waren beunruhigende Gerüchte über Kitsunes Transformationen zu Lindsay gedrungen. So etwa, daß sie sich neuen Technologien zugewandt habe und Gewinn aus der Laschheit ziehe, die sich im Gefolge der Detente eingestellt hatte. Dembowska war immer noch Mitgliedstaat der MAC (Mechanistischen Union der Cartelle), waberte jedoch beständig auf der Kippe her und hin, von der Gefahr des Ausschlusses bedroht, und im Grunde nur toleriert als eine Art Kläranlage und Zollstation, ein Umschlagplatz für Überläufer aus dem Ring Council.
Aber auch das Ring Council war bestürzt über die hochstrebende Fleischtechnologie in Dembowska. Der Rat der Ringe, der fest in den Händen der Zen-Serotoniker war, bemühte sich verzweifelt um Stabilität; ein Resultat davon war, daß das System den Anschluß verlor. Die wildäugigen schwarzen Säblerchirurgen hatten sich der kühnen Neuerungen der Gentechnologie bemächtigt, blitzschnelle Leute auf den Kometarien und an den Uranusringen, die in posthumanen Kladen oder wie Myzele aus den Habitatsböden wucherten: die Metropolarity, die Blood-Bathers, die Endosymbiotiker. Alle diese Typen hatten ihre Menschhaftigkeit abgestreift wie eine Eihaut. Mikrogruppierungen, vom Prozeß der Desintegration ergriffen, umgaben die Schismatrix wie Nebulare ein überhitztes Plasma.
Der geruhsame Fortschritt der Wissenschaft hatte sich in die kopf- und hirnlose Flucht einer Viehherde verwandelt, die panisch losraste. Eine stampeda. Mechanisten und Shaper waren grotesk zu zwei einander feindlich gegenüberstehenden Heeren degeneriert, deren »Kämpfende Truppen« sich in Sümpfe und Dschungel zu Guerilla-Aktionen zerstreuen und den Befehlen ihrer sich der Senilität nähernden Generäle nicht mehr gehorchen. Die wuchernden ideologisch-philosophischen Modeströmungen der Zeit - Posthumanismus, Zen-Serotonismus, Galaktizismus - waren wie Signalfeuer, um möglichst viele Schiffbrüchige anzulocken. Die übliche Politstrategie von Kneifärschen.
Aber Lindsays persönlicher Scheiterhaufen brannte hell, und sein Schein lockte viele an. Man bezeichnete seine »Gruppe« bald als die »Clique der Lebenspartisanen«.
Die Cliquen im Czarina-Kluster genossen einen starken Einfluß, quasi wie eigenständige Parteien. Sie bildeten eine Art von Schattenregierung, eine moralische Parallele zu der erhabenmenschenfernen Herrschaft des Kabinetts der Kronräte der Queen. Elitekader der Cliquen strickten eifrig hinter den Kulissen, als getreuliche Imitationen ihres Vorbildes und Musters Wellspring, an gutdurchdachten selbstgesponnenen Netzwerken des Obskurantismus. Die äußeren Erscheinungsformen der Macht und die Realitäten der Macht waren behutsam voneinander gelöst worden. Die Sozialauguren und Trendsetter der Polycarbon Clique, der Lifesiders oder der Grünen Camarilla vermochten mittels einer beiläufigen Bemerkung oder einer hochgezogenen Augenbraue Wunder zu bewirken.
Daraus folgte, daß Gruppen, die in den C.-K. überzulaufen gedachten, zunächst Konsultationen mit den Zikadencliquen pflegten, ehe sie formell um den Status als Asylanten ansuchten. Normalerweise war hier das Spielfeld Wellsprings.
Beim jüngsten Fall allerdings war Wellspring wieder einmal wegen eines seiner zahlreichen Rekrutierungstrips unterwegs und nicht greifbar. Da Lindsay mit der Materie des Falls vertraut war, hatte er sich bereiterklärt, sich mit dem Repräsentanten der Überläufergruppe auf neutralem Gebiet in Dembowska zu treffen.
Sein Gefolge setzte sich aus folgenden Personen zusammen: Gomez, sein Chefadjutant; drei seiner Doktorabsolventen; ein Diplomatischer Beobachter des Königinrates.
Dembowska hatte sich verändert. Als sie im spärlichen Strom der Passagiere aus dem Linienschiff in den Einreise- und Zollbereich gelangten, fiel Lindsay zunächst die Wärme auf. Die Luft war blutwarm, und sie roch schwach wie Kitsunes Haut. Der Geruch brachte flüchtige Erinnerungen zurück. Lindsay lächelte, es war ein melancholisches Lächeln. Die Erinnerungen waren fünfundachtzig Jahre alt und papierdünn; als wären sie die eines ihm ganz fremden Mannes.
Lindsays Lifesiders nahmen ihr Gepäck in Empfang. Zwei der Graduierten, Mechanotypen, murmelten »erste Eindrücke« in die Lippenmikros. Andere Passagiere mußten an den Scannerboxen warten.
Zwei Dembowska-Agenten näherten sich Lindsays Gruppe. Er trat vor (die Schwerkraft war schwach) und fragte: »Harems-Polizei?«
»Wandkinder«, sagte der Anführer des Teams, offensichtlich männlich. Er trug einen dünnen ärmellosen Kimono, die nackten Arme waren mit Autoritäts- und Rangtätowierungen bedeckt. Das Gesicht kam Lindsay bekannt vor, bis er die spezifische Genstruktur des Michael Carnassus ausmachte. Er wandte sich dem zweiten Agenten zu, einer Frau, und erblickte Kitsune, verjüngt, den Schädel kahlgeschoren, die dunklen Arme mit weißer Tusche graviert.
»Ich bin Oberst Martin Dembowska, dies ist meine Wandschwester, Hauptmann Murasaki Dembowska.«
»Ich bin Kanzler Lindsay. Die da sind Clique-Angehörige: Abélard Gomez, Jane Murray, Glen Szilard, Colin Szilard, Emma Meyer und Unterstaatssekretär Fidel Nakamura, unser Diplomatischer Beobachter.« Die Zikaden verneigten sich nacheinander.
»Hoffentlich hat euch der Bakterienwechsel an Bord nicht zu schaffen gemacht«, sagte Murasaki. Es war die Stimme von Kitsune.
»Eine geringfügige Unpäßlichkeit.«
»Wir sind leider gezwungen, den Bakterienpopulationen auf der Haut unserer Wandmutter höchste Aufmerksamkeit zu widmen«, sagte der Oberst erklärend. »Es geht immerhin um ein beträchtliches Areal dabei. Ich bin sicher, ihr habt dafür Verständnis.«
»Könntest du uns da exakte Zahlen nennen?« fragte einer der Szilardbrüder mit der trockenen Wißbegier des Mechanisten nach exakten Daten. »Die Berichte bei uns im Czarina-Kluster sind etwas nebulös.«
»Gemäß dem jüngsten Report betrug die Masse der Wandmutter vierhunderttausendachthundertundzwölf Tonnen.« Der Oberst klang stolz. »Habt ihr irgend etwas Zollpflichtiges anzugeben? Nein? Dann folgt mir bitte.«
Sie folgten dem Dembowskaner in ein Clearance-Büro für VIPs, wo sie ihre Gepäckstücke deponierten und wo man ihnen sterilisierte Gästekimonos aufzwang. Dann schwebten sie barfuß in die heiße Luft der ersten Arkaden-Galerie Dembowskas hinaus.
Der höhlenartige Duty-free-Shopping-Bezirk hatte Böden, Wände und Decken aus Fleisch. Die Zikaden patschten nur zögernd voran, ihre Zehen berührten kaum die federnde Haut. Mit verhohlenem Verlangen blickten sie auf die Ladengeschäfte, diese Inseln der Sicherheit aus Stein und Metall. Lindsay hatte ihnen ein gutes Training angedeihen lassen, um ihren Takt zu garantieren, und nun war er stolz darauf, wie gut sie ihre Reaktionen zu maskieren verstanden.
Aber auch er selbst empfand Unbehagen, als sie den ersten langen Tunnel betraten, dessen rundliche, kanalisationsröhrenhafte Ausformung einen Quell des urtiefen Unsicherheitsgefühls emporsteigen ließ. Die Gruppe bestieg sodann einen offenen Kastenschlitten, der durch peristaltische Zuckungen der darunterliegenden sehnendurchzogenen Gleitfurchen vorwärtsbewegt wurde.
Die glatte Wandung war in Abständen von pfropfenartigen Sphinktern für vorverdauten Nährbrei durchsetzt. Aus durchscheinenden, von Phosphoreszenz prallen Blasen glühte sanftes Licht. Gomez, der neben Lindsay saß, studierte die Architektur mit trancehafter Intensität. Sein Aufmerksamkeitspegel war noch durch eine Droge bis aufs äußerste hochgetrieben, die in Zikadenkreisen als »Grünes Entzücken« bekannt war.
»Die sind auf 'ne Katastrophe aus«, sagte Gomez flüsternd. »Ist es denn vorstellbar, daß hinter dem Ganzen sowas wie eine Persönlichkeit steckt? Man braucht ja mindestens schon eine halbe Tonne Hinterbrägen, um diese ganzen Fleischmassen in Gang zu halten.«
Seine Augen verengten sich. »Stell dir bloß vor, wie das Ding fühlt.«
Der Carnassus-Klon im vorderen Schlittenabteil berührte irgendwelche Kontrollknöpfe. Im Boden klaffte ein feuchter Saum auseinander, und der Schlitten kippte vornüber und fiel freischwebend vertikal nach unten. Sie schossen einen MehrkanalAufzugsschacht abwärts, der in Abständen sich zu atemberaubenden Aussichten auf Plätze und Unterstädte öffnete.
Geschäfte und Büros rauschten blitzartig vorbei, allesamt eingebettet in wogendes dunkelseidiges Fleisch. Die Wärmestrahlung und der Geruch parfümierten Fleisches durchdrangen alles. Hautnaheste Intimität von industrialem Ausmaß. Von der Population sah man nur wenig. Vielfach waren es kleine Kinder, die nackt herumwuselten.
Der Schlitten bremste und hielt. Die Passagiere stiegen auf eine fellbedeckte Landebühne. Gomez stupste Lindsay mit dem Ellbogen an, als der leere Schlitten die Gleisgruben wieder nach oben glitt. »Die Wände haben hier Ohren, Kanzler.«
Und die hatten sie - und Augen gleichfalls.
In diesem tiefen Stockwerk hing etwas Merkwürdiges in der Luft. Der Parfümgestank war hier besonders penetrant. Gomez bekam plötzlich schwere dicke Lider, und die Slizardbrüder, die sich mit Kopfbandkameras ausgerüstet hatten, zogen sie von der Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen. Jane Murray und Emma Meyer waren verwirrt von diesem Etwas, das sie nicht einzugrenzen vermochten, und spähten argwöhnisch umher. Aber während die beiden Dembowska-Eskorten dann den Trupp vom Haltesteg weg und tiefer in die Fleischestiefen hineingeleiteten, vermochte Lindsay plötzlich eine Sachbestimmung vorzunehmen: Es handelte sich um Sexualpheromone; die gesamte Architektur befand sich in sexuellem Erregungszustand.
Man ging über einen Fußpfad mit geringer G-Wertigkeit: verhärtete Haut, gezeichnet von endlosen Schleifenwirbeln massiver Fingerabdrücke. Die Decke über ihren Köpfen war ein gewellter Teppich üppiger schwarzer Haare, so daß man sich auch an ihnen vorwärtshangeln konnte.
Dieses Stockwerk war offensichtlich das Parade- und Ausstellungsstück; die früheren Bauten waren ausgeschlachtet worden, so daß da nur noch das Konstruktionsskelett als Rabattenstruktur für das FLEISCH übrig war. Überall erhoben sich üppige Organizele und Vakuolen, euklidische Cornichen, blankgeschabt zu glatten Matemalkurven. Vom Boden strebten Gebilde in die Höhe und verschmolzen in schwanenhälsiger Biegung mit der schimmernden Decke. Bauten wiesen Grübchen auf, Höhlungen, das glatte Rosa ringförmiger Sphinkteraltüren ging unmerklich in Hautbereiche über, die dünn mit Flaum punktiert waren.
Sie hielten auf dem pelzigen Sodenrasen eines komplizierten massiven Gebäudes, dessen dunkle Wände mit schimmernden Elfenbeinmosaiken verziert waren. »Eure Herberge«, verkündete der Oberst. Die Doppeltüren des Baus standen, an muskulären kieferartigen Kardinalangeln sitzend, gähnend weit offen.
Während die übrigen eintraten, zauderte Jane Murray und ergriff Lindsay am Arm. »Dieses Elfenbein da in der Wand - das sind Zähne!« Unter der kühlen blauen und aquamaringrünen ZikadenGesichtsbemalung war sie bleich geworden.
»Die Luft schwirrt von weiblichen Pheromonen«, sagte Lindsay. »Dadurch wirst du so unruhig. Eine Großhirnreaktion, Doktor.«
»Eifersüchtig auf eine Wand!« Die Postanthropologin lächelte. »Aber der Ort hier gibt mir das Gefühl, in einem riesenhaften Privatraum zu sein.«
Aber Lindsay erkannte hinter der flapsigen Kühnheit die echte starke Furcht. Sie würde sicherlich die allerberüchtigtesten ZikadenPrivatclubs, nebst all den heimlichen Spielchen dort, dieser zweifelhaften Unterkunft hier vorgezogen haben. Dann traten sie ebenfalls ein.
Murasaki wandte sich an die Gruppe. »Ihr werdet die Herberge mit zwei Reisegruppen von Geschäftsleuten aus Diotima und Themis teilen müssen, aber ihr habt einen Flügel ganz für euch allein. Bitte hier entlang!«
Sie folgten ihr über einen Steig flacher Elfenbeinimplantate. Eines unter dem Myriaden Herzen Dembowskas, eine fabrikgroße Blutpumpstation, pochte hinter den Deckenrippen. Der doppelte Schlag unterlegte ein leises musikalisches Gurgeln aus einem in die Wand eingelassenen Kehlkopf mit Rhythmus.
Die Unterkünfte waren eine biomechanistische Mischung. Marktmonitoren glommen in den Wänden und verkündeten das Steigen oder Fallen marktbeherrschender mechanistischer Aktien. Die Einrichtung bestand aus einer Reihe geschmackvoller Höcker und Hängematten: kurvenfreundliche Fleischbetten, die bescheiden mit irisbedrucktem Bettzeug bezogen waren.
Die weiträumige Suite war durch tätowierungsartig verzierte Hautschirme unterteilt. Der Oberst tippte gegen einen der membranhaften Raumteiler; er glitt wie ein Augenlid nach oben zur Decke hin. Er deutete höflich auf eines der Betten. »Diese Einrichtungsgegenstände sind exemplarisch für die Erototechnologie unserer Wandmutter. Sie sollen eurem Wohlbefinden und eurer Lust dienen. Allerdings obliegt es mir, euch zu informieren, daß unsere Wandmutter sich das Privileg auf Befruchtung vorbehält.«
Emma Meyer, die sich vorsichtig auf einem der Betten niedergelassen hatte, erhob sich abrupt. »Wie bitte?«
Der Oberst runzelte die Stirn. »Männliche Samenejakulate gehen in den Besitz der Empfängerin über. Das ist ein altehrwürdiges weibliches Prinzip.«
»Ach, verstehe.«
Murasaki kräuselte die Lippen. »Du findest das seltsam, Doktor?«
»Aber nicht im geringsten«, sagte Meyer bereitwillig. »Es erscheint mir absolut sinnvoll.«
Die Dembowskanerin fuhr unbeirrt fort: »Alle von euren Männern hier gezeugten Kinder werden Vollbürger von Dembowska. ALLE Wandkinder werden gleichermaßen geliebt und geschätzt. Ich bin zufällig ein perfekter Klon, aber ich habe mir meine Stellung durch Verdienst erworben, in der Liebe der MUTTER. Ist es nicht so, Martin?«
Der Oberst verstand wohl etwas mehr von diplomatischen Höflichkeiten. Er nickte kurz. »Das Badewasser ist steril und enthält nur ein Minimum an Organismen in gelöster Form. Man kann es ohne weiteres trinken. Die Wasserversorgung ist genito-urinale Technik, aber es handelt sich nicht um Abfallprodukte.«
Gomez verdunstete Charme. »Als Biotekt bin ich begeistert von eurer einfallsreichen Architektur. Nicht bloß von der technischen Funktionabilität, sondern auch von der raffinierten Ästhetik.« Er hielt inne. »Bleibt uns Zeit genug für ein Bad, ehe das Gepäck eintrifft?«
Die Zikader brauchten ihr Bad. Die bakterielle Umstrukturierung hatte noch nicht gänzlich Fuß gefaßt, und die blutwarme
Dembowska-Luft erzeugte ihnen Juckreiz auf der Haut.
Lindsay zog sich in seinen Bereich der Suite zurück und ließ die Membranwand herab.
Sogleich veränderte sich sein Tempo. Ohne sein jugendliches Gefolge bewegte er sich in dem ihm angemessenen Rhythmus.
Er hatte das Bad nicht nötig. Seine gealterte Haut vermochte einer größeren Bakterienpopulation nicht mehr genug Lebensraum zu bieten.
Er setzte sich auf die Bettkante. Er war müde. Unwillkürlich wurden seine Augen glasig. Lange Zeit verging, in der er einfach nur leer war und überhaupt nichts dachte.
Schließlich kam er blinzelnd wieder zu sich. Reflexhaft griff er in die Jackentasche und zog einen emaillierten Inhalator hervor. Zwei tiefe Züge von dem Grünen Entzücken, und die Welt war wieder interessant. Er sah sich gemächlich um und erblickte mit Erstaunen einen blauen Kimono vor der Wand. Murasaki trug ihn. Ihr Leib verschwand durch die Tarnung fast völlig vor dem Hauthintergrund.
»Captain Murasaki«, sagte er. »Ich habe dich nicht bemerkt. Verzeihung.«
»Ich habe ...« Sie hatte in höflichem Schweigen wartend dagestanden. Lindsays Rang verwirrte sie. »Ich habe den Befehl, dich ...« Sie zeigte zur Tür, einer Fleischfalte in der Wand.
»Du möchtest mich irgendwohin bringen?« fragte er. »Meine Begleitung kann ohne mich zurechtkommen. Ich stehe dir zu Diensten.«
Er folgte dem Mädchen in den elfenbeinweißen pelzigen Korridor hinaus.
Dort hielt sie inne und fuhr mit der Hand über das glatte Fleisch der Wand. Neben ihren Füßen öffnete sich der Ringmuskel eines Loches, und zu zweit sanken sie sacht ein Stockwerk tiefer.
Unterhalb des Gästehauses befand sich ein technischer und Wirtschaftstrakt. Er hörte arterielles Rauschen und gelegentlich ein eingeweidehaftes Gurgeln aus den nackten Wänden. In pustelförmigen Fleischfalten flackerten Biomonitore.
»Hier ist ein Gesundheitscenter«, erklärte Murasaki. »Für die Gesundheit der Wandmutter, meine ich. Sie hat eine Bewußtseinsleitung hierher. Und sie kann hier zu dir sprechen. Durch mich. Bitte sei nicht erschrocken.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und hob die dunklen Haarfransen aus dem Nacken, wodurch das punktierte Zwischenglied an der Schädelbasis sichtbar wurde.
Grünes Entzücken strömte hinreißend grün und wohlig über Lindsay, eine kitzelnde Welle der Neugier. Grünes Entzücken war die superneueste Droge gegen Langeweile, das biochemische Fundament des Erstaunens, bis in seine komplexe Essenz feindestilliert. Mit einer ausreichend starken Dosis konnte man in den Linien der eigenen Hand unendlich erregende Schätze entdecken. Lindsay lächelte in ungespieltem Entzücken. »Wunderschön!« sagte er.
Murasaki zögerte und blickte ihn fragend an.
»Bitte störe dich nicht daran, wenn ich dich so anstarre. Du erinnerst mich so stark an deine Mutter.«
»Und du bist es wirklich, Kanzler? Abélard Lindsay, der Geliebte meiner Mutter?«
»Kitsune und ich waren immer Freunde.«
»Und - ich sehe ihr ziemlich ähnlich? So, wie sie damals war?«
»Klone sind etwas Eigenständiges.« Er sprach beschwichtigend. »Im Ring Council hatte ich einmal eine Familie. Meine Congeneten - meine Kinder - waren Klone. Und ich liebte sie.«
»Du darfst nicht denken, daß ich nur ein Stück von der Wand bin«, sagte Murasaki. »Die Wandzellen sind chromosomisch geschwächt. Chimärenblastome. Die Wand ist nicht in so vollem Ausmaß menschlich wie das ursprüngliche Fleisch Kitsunes. Oder wie meines.« Sie blickte ihm forschend in die Augen. »Es macht dir doch nichts aus, zuerst mit mir zu sprechen? Ich gehe dir doch nicht auf die Nerven?«
»Ganz unmöglich, daß du das könntest.«
»Wir Wandkinder hatten früher bereits Ärger. Manche Fremde behandeln uns, als wären wir Ungeheuer.« Sie entspannte sich mit einem Seufzer der Erleichterung. »Um die Wahrheit zu gestehen, wir sind wirklich ziemlich trübselig hier.«
Er zeigte seine Sympathie. »Findest du das?«
»Ach, es ist eben nicht wie im Czarina-Kluster. Dort ist alles viel aufregender, nicht? Immer tut sich was. Piraten. Posthumanisten. Überläufer. Investoren. Ich seh manchmal Bänder von dort. Ich würde so gern auch Kleider haben, wie man sie dort trägt.«
Lindsay lächelte. »Kleider sehen immer besser aus der Entfernung aus, wenn man sie nicht selbst tragen muß, meine Liebe. Wir Zikader treiben den Kleideraufwand wegen des Gesellschaftsstatus. Das dauert manchmal Stunden mit dem Anziehen.«
»Auch, aus dir spricht ja nur das Vorurteil, Kanzler Lindsay. Schließlich bist du ja der Erfinder des öffentlichen Stripping!«
Lindsay zuckte zusammen. Würde ihm dieses Cliche denn ewig anhängen?
»Ich hab das in einem Theaterstück gesehen«, bekannte das Mädchen. »Goldreich Intrasolar kam auf einer Tournee hier durch. Und die brachten Fernand Vetterlings Pity For the Vermin{15}. Und da zieht sich der Held auf dem Höhepunkt nackt aus.«
Lindsay empfand Verdruß. Seit Vetterling sich zum ZenSerotonismus bekehrt hatte, waren seine Stücke immer kraftloser und lahmer geworden. Lindsay hätte dem Mädchenkind das erklären können, aber er empfand eine zu dichte schattenhafte Mitschuld an dem tragischen Verlauf, den Vetterlings Karriere genommen hatte. Wegen seiner politischen Einstellung hatte Vetterling Jahre als UnPerson verbringen müssen. Und Lindsay konnte es dem Dramatiker nicht verübeln, daß er sich für den Frieden um jeden Preis entschieden hatte. »Stripping, das ist heutzutage einfach mieser Stil«, sagte er. »Es hat jegliche Bedeutung verloren. Heutzutage machen Leute das, bloß um ein bißchen frischen Wind in eine langweilige Diskussion zu bringen.«
»Also, ich fand das wundervoll. Obwohl, Nacktsein, das bedeutet ja in Dembowska weiter nicht viel... Aber ich sollte nicht grad dir gegenüber von Theater sprechen. Hast nicht du Kabuki Intrasolar gegründet?«
»Nein, das war Fyodor Ryumin«, sagte Lindsay.
»Wer ist denn das?«
»Ein brillanter Dramatiker. Er ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»War er sehr alt?«
»Extrem alt. Noch älter sogar als ich.«
»Oh. Tut mir leid.« Er hatte sie in Verlegenheit gebracht. »Ich werde dann jetzt gehen. Du und die Wandmutter, ihr müßt eine Menge zu bereden haben.« Sie drückte die Hand gegen die Wand in ihrem Rücken, drehte sich ihm aber dann noch einmal zu. »Danke, daß du mit mir gesprochen hast. So geduldig. Es ist eine große Auszeichnung für mich.« Aus der Wand hinter ihr stülpte sich ein fleischiger Tentakel vor. Der vorgewölbte Klumpen an seinem Ende griff nach ihrem Nacken. Sie hob die Haare beiseite und fügte den Stecker ein. Ihr Gesicht wurde schlaff.
Die Knie sackten unter ihr weg, und sie sank langsam in der geringen Schwerkraft nach unten. Kitsune war online und fing sie auf, ehe sie den Boden berührte. Eine kurze Schüttellähmung von dem Feedback ließ den Körper kurz erbeben; dann streckte Kitsune den Körper aus und fuhr mit den Händen über die Arme. Das Gesicht gewann wieder Form; der Leib war ganz geschmeidige Grazie, elektrisch geladen mit einer alten wilden Lebendigkeit. Nur die Augen waren tot.
»Hallo, Kitsune.«
»Magst du diesen Körper, Darling?« Sie räkelte sich wohllüstig. »Nichts bringt einem die Erinnerungen angenehmer zurück, wie wenn man sich im Leib einer jungen Frau befindet. Wie nennst du dich denn gerade mal?«
»Ich heiße Abélard Lindsay und bin Kanzler der Czarina-Kluster Kosmosity-Metasysteme, Abteilung Jupiter-Systeme.«
»Und die Autorität der Lifesiders-Clique?«
Lindsay lächelte. »Positionen in Privatclubs der Gesellschaft sind doch ohne rechtliche Bedeutung, Kitsune.«
»Ach, die Position ist immerhin so mächtig, daß sie eine Abtrünnige und Überläuferin den ganzen weiten Weg von der Skimmers Union bis hierher zieht... Sie gibt an, ihr Name sei Vera Constantine. Und dieser Name bedeutet dir immerhin soviel, daß du dich herschleppst?«
Lindsay zuckte die Achseln. »Du siehst doch, wie ich bin, Kitsune.«
»Die Tochter deines alten Feindes? Und eine Congenetin einer schon ewig toten Frau, deren Namen mir grad nicht einfallen will?«
»Vera Kelland.«
»Wie gut du dich erinnerst. Genauer vielleicht gar als an unsere Beziehung?«
»Wir hatten mehr als nur eine Beziehung, Kitsune. Ich erinnere mich an unsere Jugend im Zaibatsu, wenn auch leider nicht ganz so ausführlich, wie ich das gern möchte. Und ich kann mich an meine dreißig Jahre hier in Dembowska erinnern, als ich dich mir vom Leib gehalten habe, weil mich deine Art abstieß und ich mich nach meiner ehelichen Frau sehnte.«
»Du hättest mir in keiner Gestalt und Form widerstehen können, wenn ich etwas mehr Druck dahintergesetzt hätte. In diesen Jahren damals, da trieb ich nur ein neckisches Spiel mit dir.«
»Ich habe mich seither verändert. Heutzutage bedrängen mich ganz andere Probleme.«
»Aber ich habe inzwischen eine bessere Gestalt. Ganz so wie die ursprüngliche.« Sie schüttelte den Mädchenkörper von dem Kimono frei. »Wollen wir - um der guten alten Zeiten willen - mal wieder eine Nummer schieben?«
Lindsay trat zu dem Körper und strich mit seiner runzeligen Hand langsam und zögernd über die lange Flanke. »Das Ding ist sehr schön«, sagte er.
»Es gehört dir«, sagte sie. »Hab deinen Spaß dran!«
Lindsay seufzte. Er streifte mit den Fingern über den gegabelten Tentakelklumpen im Nacken des Mädchens. »Bei dem Duell mit Constantine hatte ich etwas wie das da implantiert. Bei der Übertragung durch die Drähte geht eine Menge verloren. Du kannst es gar nicht so fühlen, Kitsune. Nicht, wie du es damals gefühlt hast.«
»Damals?« Sie lachte laut. Der Mund klappte auf, doch das Gesicht zeigte kaum Bewegung. »Ich habe diese Grenzen dermaßen lang hinter mir gelassen, daß ich sie vergessen habe.«
»Schon gut, Kitsune. Auch ich kann nicht mehr auf die gleiche Weise fühlen.« Er trat zurück und setzte sich auf den Fußboden. »Falls es dich irgendwie tröstet, ich empfinde noch immer etwas für dich. Trotz der vielen Zeit und der vielen Wandlungen. Ich könnte es nicht mit einem Namen bezeichnen. Aber schließlich, das zwischen uns beiden brauchte ja nie einen Namen und hatte auch nie einen.«
Sie hob den ärmellosen Kimono auf. »Leute, die ihre Zeit damit vergeuden, Dinge zu benennen, haben nie Zeit genug zum Leben.«
Dann vergingen ein paar Augenblicke in freundschaftlichem Schweigen. Sie zog das Gewand an und setzte sich ihm gegenüber. »Wie geht es Michael Carnassus?« fragte er schließlich.
»Ach, Michael befindet sich wohl. Bei jeder neuen Verjüngung reparieren wir ein bißchen mehr von den Shatter-Schäden. In diesen Tagen kann er sein Extraterrarium für immer längere Perioden verlassen. Er fühlt sich in meinen Korridoren sicher. Und er kann jetzt sprechen.«
»Das freut mich.«
»Er liebt mich - glaube ich.«
»Nun, dafür sollte man dankbar sein.«
»Wenn ich mir manchmal so überlege, wieviel ich von ihm profitiert habe, bekomme ich so ein seltsames Gefühl der Wärme. Ich hab niemals ein besseres Geschäft gemacht. Und er war so wunderbar gefügig... Obwohl, jetzt ist er natürlich zu nichts mehr zu gebrauchen. Aber ich empfinde noch immer echte Zufriedenheit mit ihm, wenn ich ihn mir so anschaue. Ich habe beschlossen, daß ich ihn nie wegwerfen werde.«
»Sehr nobel.«
»Für einen Mechanisten war er helle, als er jünger war. Als Botschafter bei den Aliens mußte er ja auch einer der Besten sein. Er hat jetzt hier viele Kinder - Congeneten, natürlich -, und sie haben sich allesamt zufriedenstellend entwickelt.«
»Ja, es ist mir aufgefallen, als ich Oberst Martin Dembowska traf. Ein sehr fähiger Offizier.«
»Und du meinst das im Ernst?«
Lindsay nickte abwägend mit dem Kopf. »Nun ja, sehr jung noch, natürlich. Aber das läßt sich eben nicht ändern.«
»Nein. Und die da, diese Quasseltrine ...« - der Körper zeigte mit dem Finger auf die eigene Brust -, »die ist sogar noch jünger. Gerade neunzehn. Aber meine Wandkinder müssen rasch heranwachsen. Ich beabsichtige, Dembowska zu meinem genetischen Nest zu machen. Alle anderen müssen raus hier. Und darunter fällt auch deine Shaperfreundin aus der Skimmers Union.«
»Ich werde dich von ihr entlasten, wann immer es dir genehm sein wird.«
»Das ist eine Falle, Abélard. Constantines Kinder haben keinerlei Anlaß, dich zu lieben. Trau der Person nicht. Wie mein Carnassus hat sie sich mit Ausländern rumgetrieben. Und die haben ihre Spuren bei ihr hinterlassen.«
»Ich muß gestehen, ich bin neugierig auf sie.« Er lächelte. »Das kommt wahrscheinlich von den Drogen.«
»Drogen? Also, Vasopressin, dein alter Lieblingsstoff, kann es ja wohl kaum sein, sonst wäre dein Gedächtnis besser.«
»Grünes Entzücken, Kitsune. Ich habe da bestimmte langfristige Pläne ... Und Grünes Entzücken hält mein Interesse daran wach.«
»Du betreibst Terraformung.«
»Ja. Es ist ein Problem von Zeit und Ausmaß, verstehst du. Langzeit-Fanatismus ist Schwerstarbeit. Ohne mein Grünes Entzücken knabbert mein Hirn so unablässig am Phantastischen herum, bis dieses zur Alltäglichkeit verödet.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Deine phantastische Hirnwelt und meine ekstatische ... Geburt und Gebären ist etwas Wundervolles.«
»Neues Leben in die Welt zu bringen - das ist das Mysterium. Wahrhaftig ein Prigogin'sches Ereignis.«
»Du mußt sehr müde sein, Darling. Wenn ich dich schon auf das Niveau zikadischer Platitüden reduziere.«
»Verzeih.« Lindsay lächelte. »Das ergibt sich leider so aus dem Fachbereich.«
»Du und Wellspring, ihr habt euch da eine clevere Front aufgebaut. Alle beide seid ihr große Redner. Ich bin sicher, ihr könnt stundenlang Vorträge halten. Oder tagelang. Aber könnt ihr jahrhundertelang predigen?«
Lindsay lachte. »Manchmal kommt es einem wie ein Witz vor, nicht wahr? Zwei Sundogs ziehen sich das Unendliche an die Brust und fordern den Kosmos heraus: Wellspring tief - glaubend, ich - denkend. Nun, was mich betrifft, ich tue mein Bestes.«
»Aber vielleicht meint ja er, daß du der Glaubende bist.«
»Vielleicht tut er das. Und vielleicht bin ich das.« Lindsay ließ eine lange Haarlocke durch die Eisenfinger gleiten. »Und was Träume angeht, so hat der Posthumanismus da gewisse Meriten. Die Existenz der Vier Komplexitätsebenen ist mathematisch bewiesen. Ich habe mir die Gleichungen angesehen.«
»Verschone mich damit, Liebster. Wir sind doch beide wahrhaftig noch nicht dermaßen alt, daß wir auf die Diskussion mathematischer Gleichungen zurückgreifen müßten.«
Die Worte rauschten an ihm vorbei. Dank des segensreichen Einflusses von Grünem Entzücken ergab sich sein Gehirn für den Augenblick der Verführung der Mathematik, jener reinsten aller zerebralen Wonnen. Im gewohnten Geisteszustand empfand er - trotz jahrelangen Studiums - die Formeln als eine schmerzliche, hirnbetäubende Masse von Symbolen. Hatte er aber Grünes Entzücken genommen, dann vermochte er sie zu erfassen, obwohl ihm hinterher nur die Erinnerung an die weiße Lust des Begreifens übrigblieb. Dieses Gefühl kam einem Glaubenserlebnis recht nahe.
Es verging ein langer Augenblick. Dann kehrte er wieder ins Hier zurück. »Verzeih, Kitsune. Was sagtest du gerade?«
»Kannst du dich noch erinnern, Abélard? Einmal sagte ich zu dir, daß die Ekstase besser sei, als Gott zu sein.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich habe mich geirrt, Darling. Gott zu sein ist besser.«
Die Unterbringung Vera Constantines verdeutlichte recht genau, wie stark Kitsune ihr mißtraute. Die junge Shaper-Clanfrau hatte seit Wochen unter Hausarrest gestanden. Ihre Behausung war eine Tripelcella aus Stein und Eisen und lag außerhalb der weltverzehrenden Umwucherungen Kitsunes.
Sie saß vor einem wandplanen Market-Monitor und verfolgte eifrig auf einem dreidimensionalen Raster die Transaktionsströme. Sie hatte nie vorher Börsengeschäfte getätigt, aber Abélard Gomez, ein netter junger Zikader, hatte ihr einen finanziellen Einstieg ermöglicht, nur so zum Zeitvertreib. Und da sie keine Ahnung hatte, hatte sie auf das Börsengeschäft jene Grundsätze der atmosphärischen Dynamik angewandt, die sie auf Fomalhaut-IV gelernt hatte. Seltsamerweise schien das zu funktionieren, denn sie machte eindeutig Gewinn dabei.
Ihre Tür entriegelte sich und schob sich auf. Ein alter Mann kam herein; er war hochgewachsen und hager und trug gedämpfte Zikadensachen: langen Mantel, dunkle Paffenhosen, edelsteinbesetzte Ringe über weißen Handschuhen. Das gekerbte Gesicht war von einem Bart umrahmt, und ein versilbertes Krönchen aus stilisierten Blättern hob sich von den silbersträhnen-durchzogenen schulterlangen Haaren ab. Vera erhob sich aus dem Steigbügelsessel und verneigte sich in einer Nachahmung zikadischer Reverenz. »Sei gegrüßt und willkommen, Kanzler.«
Lindays Augen fuhren forschend durch die Zelle. Die straffe Stirn verknotete sich in leichter Verwirrung. Er wirkte auf der Hut, nicht vor ihr, sondern vor etwas anderem, das gleichfalls noch im Raum war. Und dann fühlte auch sie es, und sie wußte, daß das Numen, die göttliche Präsenz, wieder anwesend war. Und unwillkürlich, obwohl sie wußte, daß es sinnlos sein würde, blickte sie sich hastig danach um. Etwas zuckte aus dem äußeren Sichtbereich ihres Auges und entzog sich.
Lindsay lächelte sie an. Dann blickte er weiter prüfend durch den Raum. Sie wollte ihm nichts von der göttlichen »Nähe« sagen. Er würde nach einer Weile ganz von selbst aufhören, danach zu suchen, genau wie alle anderen auch. »Danke«, sagte er verspätet. »Ich darf doch annehmen, es geht dir gut, Captain-Doktor.«
»Deine Freunde, Doktor Gomez und Vizesekretär Nakamura, waren sehr aufmerksam. Ich bedanke mich für die Bänder und die Geschenke.«
»Eine Kleinigkeit«, sagte Lindsay.
Auf einmal hatte sie Furcht, ihn zu enttäuschen. Seit den fünfzehn Jahren, die seit dem Duell verflossen waren, hatte er sie nicht mehr gesehen. Damals war sie noch sehr jung gewesen - knapp zwanzig. Sie wies noch immer deutlich die für die Kellands charakteristischen Wangenbeine und das spitze Kinn auf, aber die Zeit hatte sie dennoch verändert, und überdies war sie genotypisch eben nicht rein. Sie war eben nicht der Klon von Vera Kelland.
Der ärmellose Kimono enthüllte unbarmherzig die Veränderungen, die ihr die Jahre als Gesandte bei den Aliens zugefügt hatten. Zwei Kreislaufdukte beulten das Fleisch an ihrem Hals ein, und ihre Haut hatte noch immer etwas seltsam Wachsartiges. In der Botschaft auf Fomalhaut hatte sie über Jahre hin im Wasser gelebt.
Lindsays, graue Augen wanderten unablässig umher. Sie war überzeugt, daß er das Numen spüren konnte, die unheimliche alles durchsetzende Gegenwart fühlte. Früher oder später würde er dieses Gefühl des Unbehagens ihr zur Last legen, und dann war ihre Chance, seine Gunst zu gewinnen, vertan. Er sprach unkonzentriert: »Ich bedaure, daß sich die Angelegenheit nicht rascher regeln läßt... Wo es sich um einen Systemübertritt handelt, empfiehlt es sich in der Regel, nichts zu überstürzen.«
Sie glaubte, darin eine verdeckte Anspielung auf das Schicksal von Nora Mavrides zu erkennen. Sie fröstelte. »Ich sehe, was du meinst, Kanzler.« Vera hatte keinen offiziellen Rückhalt beim Constantine-Clan, denn man konnte sich eine Denunziation innerhalb des Ring Councils nicht erlauben. Das Leben in Skimmers Union war hart in diesen Tagen: Mit dem Verlust des Status als Capitale waren ein gemeiner Kampf um die noch verbliebenen Fetzchen von Macht und die Jagd nach Sündenböcken einhergegangen. Und Angehörige des Constantinischen Clans waren bevorzugte Opfer dieser Entwicklung.
Einst war Vera der Liebling des Clansbegründers gewesen, sie war von Constantine mit Geschenken und einer etwas mühseligen Zuneigung überhäuft worden. Doch ihr Clan hatte zu viele zu schlechte Spiele gespielt. Philip Constantine hatte ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt - für die mögliche Chance, Lindsay zu töten. Und es war fehlgeschlagen. Der Clan hatte schwere Opfer gebracht, um Veras Diplomatenlaufbahn zu finanzieren, jedoch sie war ohne die Reichtümer, mit denen man gerechnet hatte, nach Hause zurückgekehrt. Überdies hatte sie sich in einer Weise verändert, von der ihr Clan bestürzt war. Also war sie inzwischen abgeschrieben und konnte geopfert werden.
Als die Macht der Familie zu schwinden begann, hatten sie in Furcht und Schrecken vor Lindsay gelebt. Er hatte das Duell überlebt, und nach seiner Wiederkunft war er noch mächtiger geworden als vordem. Nichts schien ihm Einhalt gebieten zu können; er war ein Heros, eine überlebensgroße Gestalt. Sein Angriff, mit dem sie gerechnet hatten, war jedoch nie erfolgt, und so gelangten sie zu der Überzeugung, daß auch Lindsay Schwächen aufweisen müsse. Und durch sie, durch die Versagerin Vera, gedachten sie, seine Gefühle auszuspionieren und sich die Liebe oder die Schuldgefühle, die er wegen Vera Kellands mit sich herumschleppte, zunutze zu machen. Dies war ihr jüngstes, ihr äußerst verzweifeltes Spiel. Wenn das Glück ihnen hold war, konnten sie Asyl und Immunität gewinnen. Oder Rache nehmen. Oder alles zusammen.
»Warum wendest du dich an mich?« fragte er. »Es gibt viele andere Orte. Ein Leben als Mechanist ist keineswegs so übel, wie der Ring Council es hinstellt.«
»Aber die Mechs würden uns gegen unsere eigenen Leute benutzen. Sie würden unseren Clan vernichten wollen. Nein, nein, der Czarina-Kluster ist schon am besten. Im Schatten eurer Königin ist Schutz und Heil. Allerdings natürlich nicht, wenn du deinen Einfluß gegen uns einsetzt.«
»Ich verstehe«, sagte Lindsay und lächelte. »Meine Freunde trauen euch nicht. Wir können recht wenig dabei gewinnen, begreifst du? C.-K. wimmelt jetzt schon von Überläufern. Und euer Clan teilt unsere posthumane Religionsideologie nicht. Und was noch schlimmer ist, es gibt zahlreiche Personen in C.-K., für die der Name Constantine ein Greuel ist. Frühere Detentisten, Kataklysmatiker und so ... Du verstehst, welche Schwierigkeiten sich da ergeben.«
»Diese Zeiten liegen hinter uns, Kanzler. Wir führen nichts Übles im Schilde, gegen keinen.«
Lindsay schloß die Augen. »Wir könnten einander hier mit Zusicherungen die Ohren vollplappern, bis die Sonne schwanger wird -« (anscheinend war das ein Zitat eines andern) - »und würden einander doch niemals überzeugen. Also müssen wir einander entweder vertrauen ... oder wir tun es eben nicht.«
Seine Unverblümtheit ließ düstere Erwartungen in ihr aufsteigen. Sie wußte nicht, was tun. Das Schweigen dehnte sich bis fast zur Peinlichkeit. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte sie schließlich. »Ein altes Familienstück.« Sie schritt durch die Zelle und hob einen rechteckigen Drahtkasten auf, über dem eine pfirsichfarbene Schutzdecke aus Samt lag. Sie zog die Decke von dem Käfig und zeigte ihm den Schatz ihres Clans: eine AlbinoLaboratoriumsratte. Das Tier rannte in bizarrer, stetig sich wiederholender Exaktheit in seiner Kammer auf und ab. »Das ist eines der frühesten Geschöpfe, denen jemals die körperliche Unsterblichkeit zuteil wurde. Ein antikes Exemplar aus dem Labor. Es ist über dreihundert Jahre alt.«
Lindsay sagte: »Ihr seid sehr großzügig.« Er hob den Käfig hoch und untersuchte ihn. Die darin befindliche Ratte, deren Lernkapazität durch Überalterung vollkommen erschöpft war, schien auf schlichtes rotationsmäßiges Repetitivverhalten reduziert zu sein. Das Zucken der Schnauze, selbst die Augenbewegung, alles war in höchstem Grade stereotypisiert.
Der alte Mann betrachtete das Tier mit suchendem Blick. Vera wußte, er würde keine Antwort erhalten. Da war nichts in den rosa Gallertaugen der Ratte, nicht einmal ein allerdumpfestes Aufflackern animalischer Wachsamkeit. »Hat man sie je aus dem Käfig herausgelassen?« fragte er.
»Seit Jahrhunderten nicht, Kanzler. Sie ist zu kostbar.«
Lindsay öffnete den Käfig. Die Ratte - abrupt aus der Stabilität ihrer Routineabläufe gerissen - kauerte sich neben das Stahlröhrchen ihres Trinkwassertropfs, und ihre sehnigen, pelzbedeckten Extremitäten bebten.
Lindsay bewegte die behandschuhten Finger vor der Käfigöffnung. »Aber, hab doch keine Angst«, sagte er sehr ernst zu der Ratte. »Da draußen liegt eine ganze Welt.«
Ein uralter, fast erloschener Reflex kippte im Hirn der Ratte. Mit einem scharfen Pfeifen katapultierte sich das Tier quer durch den Käfig auf Lindsays Hand zu und strampelte und biß in konvulsivischer Raserei auf sie ein. Vera stieß ein erschrockenes Keuchen aus und sprang gleichfalls vorwärts. Lindsays Verhalten hatte sie schockiert, und die Reaktion der Ratte hatte sie mit Entsetzen erfüllt. Lindsay winkte sie mit der anderen Hand beiseite, dann hob er die andere Hand und sah mitleidvoll zu, wie die Ratte ihn anzugreifen versuchte. Unter dem zerfetzten rechten Handschuh schimmerten starre Prothesenfinger in schwarzem und kupfernem Flechtwerk.
Er ergriff das zuckende Tier mit sanfter Festigkeit und achtete sorgsam darauf, daß es sich die Zähne nicht verletzte. »Das Gefangensein hat einen Hirnblock aufgebaut, ihr Hirn ist zementiert«, sagte er. »Es wird lange dauern, bis die Gitterstäbe hinter ihren Augen wegschmelzen werden.« Er lächelte. »Aber glücklicherweise gibt es Zeit im Übermaß.«
Die Ratte hörte auf, sich zu wehren. Sie lag keuchend in den ekstatischen Wonnen irgendeiner nagetierhaften Gottesbegegnung. Behutsam setzte Lindsay sie auf die Tischplatte neben den Börsenmonitor. Das Tier rappelte sich auf die rosa Füßchen und begann aufgeregt auf der eigenen Spur in den Begrenzungen seines vormaligen Käfigs auf und ab zu laufen.
»Sie kann ihre Routine nicht ändern«, sagte Vera heftig. »Ihre Kapazitäten sind erschöpft.«
»Unsinn«, fuhr Lindsay sie an. »Das Tier muß nur einen Prigogine-Sprung auf eine neue Verhaltensebene schaffen.« Die ruhige Sicherheit, mit der er seine Überzeugung hinstellte, erweckte Furcht in ihr. Etwas davon muß sich in ihrem Gesicht abgezeichnet haben. Er zog sich den zerfetzten Handschuh ab. »Hoffnung ist unsre Pflicht«, sagte er. »Du darfst nie aufhören zu hoffen.«
»Jahrelang hatten wir gehofft, daß wir Philip Constantine heilen könnten«, sagte Vera. »Jetzt wissen wir es besser. Wir sind bereit, ihn an dich auszu ... tauschen, gegen einen Schutzbrief und Sicherheit für uns selbst.«
Lindsay schaute sie ernst an. »Das ist Brutalität«, sagte er.
»Er war dein Feind«, sagte Vera. »Wir dachten, wir sollten Konzessionen machen, wiedergutmachen.«
»Für mich bist du die Chance einer Wiedergutmachung.«
Es funktionierte. Also dachte er immer noch an Vera Kelland.
»Aber täuscht euch nicht«, sagte er. »Ich biete keine echte Gegenleistung. Czarina-Kluster muß eines Tages zugrundegehen. In dieser Ära können sich Nationen nicht mehr halten. Staaten können sich nicht halten. Nur die Menschen werden bleiben, ihre Pläne, ihre Hoffnungen ... Ich kann euch nur das anbieten, was ich habe. Ich habe keine Sicherheit. Ich habe Freiheit.«
»Das ist Posthumanismus«, sagte sie. »Eure Staatsreligion. Natürlich werden wir uns anpassen.«
»Ich hätte geglaubt, du hast deine ganz persönlichen Überzeugungen, Vera. Du bist doch Galaktizistin.«
Sie fuhr sich unbewußt sacht mit den Fingern über die Kiemensäume an ihrem Hals. »Meine Politausbildung fand in der Observationskugel statt. Auf Fomalhaut. In der Gesandtschaft.« Sie schwieg. »Das Leben dort hat mich stärker verändert, als du wissen könntest. Und es gibt da Dinge, die ich nicht erklären kann.«
»Irgend etwas ist hier in diesem Raum«, sagte er.
Sie war wie betäubt. »Das stimmt«, platzte sie heraus. »Kannst du es spüren? Das können nur wenige.«
»Was ist es? Irgendwas von den Fremden von Fomalhaut? Gasblasen?«
»Sie haben keine Ahnung davon.«
»Aber du! Also, sag mir, was es ist!«
Sie hatte sich zu weit vorgewagt, jetzt noch einen Rückzug versuchen zu können. Zaudernd begann sie zu reden. »Zuerst ist es mir in der Gesandtschaft aufgefallen. Die Botschaft schwebt in der Atmosphäre von Fomalhaut-Vier, einem planetarischen Gasriesen, so wie Jupiter... Wir mußten dort im Wasser leben, um die Schwerkraft zu überstehen. Man hat uns zusammengeschmissen, Mechanisten und Shapers; wir mußten uns in die Botschaftsräumlichkeiten teilen, weil es keine andere Möglichkeit gab. Und alles war verändert; auch wir veränderten uns... Die Investoren kamen und brachten ein Mechano-Kontingent in die Schismatrix zurück. Ich glaube, diese - Présence war an Bord des Investorenschiffs. Und seit damals ist sie, ist das immer um mich und bei mir.«
»Ist es etwas Körperliches?« fragte Lindsay.
»Ich glaube schon. Manchmal kann ich es fast sehen. Wie ein leichtes Flackern. Wie etwas in Spiegelfarben.«
»Was sagten die Investoren dazu?«
»Sie stritten alles ab. Sie haben behauptet, ich hätte Wahnvorstellungen.« Wieder zögerte sie. »Und damit waren sie keineswegs allein.« Sofort bereute sie dieses Eingeständnis. Aber die Last auf ihrer Seele war etwas erträglicher geworden. Sie schaute den alten Mann an. Sie wagte - beinahe - zu hoffen.
»Also ein Alien«, sagte Lindsay. »Und keines von den uns bekannten neunzehn Arten.«
»Du glaubst mir? Wirklich? Du glaubst also auch, daß es wirklich da ist?«
»Wir müssen einander glauben«, sagte Lindsay. »Das Leben wird anständiger auf diese Weise.« Er spähte scharf durch das enge Gemach, als wolle er die Fähigkeit seiner Augen erproben. »Ich würde das - Ding gern aus seinem Versteck locken.«
»Es wird nicht herauskommen«, sagte das Mädchen. »Glaub mir, ich habe es so oft darum gebeten.«
»Wir dürfen es nicht hier versuchen«, sagte Lindsay. »Jede Fremdmanifestation würde Kitsune in Alarm versetzen. Und sie fühlt sich in dieser Welt hier in Sicherheit. Wir müssen auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen.«
Seine Offenheit bestürzte sie. Ihr war es nicht in den Sinn gekommen, daß die Person, die sie hier gefangengesetzt hatte, Gefühle besitzen, oder daß irgendwer daran denken könnte, diese gigantische Masse Fleisch als eine »Person« zu respektieren.
Lindsay hob die Ratte auf, die lautstark zu quieken und verzweifelt zu protestieren begann. Lindsay untersuchte das Tier mit derart arglos sachlichem Interesse, daß Vera - ehe sie sich zur Raison rufen konnte - ein schneidendes Mitgefühl mit ihm empfand und den Drang, ihn zu beschützen. Diese Gefühlsaufwallung überraschte sie, aber sie empfand sie als warm und angenehm.
Er sagte: »Wir werden bald wieder abreisen. Du kommst mit uns.« Dann steckte er die Ratte in die Tasche seines Übermantels. Sie blieb dort ganz still und friedlich.
Die Geschichte der Schismatrix war eine lange Chronik qualvollen Wandels. Die Bevölkerung war auf neun Milliarden Personen angewachsen. Im Ring Council war die Macht den Zen-Serotonisten aus den narkotisierten Fingern geglitten. Nach vierzig Jahren ihrer Herrschaft traten jüngere Shaper-Ideologen auf, die sich den aggressiven Ausprägungen des visionären Galaktizismus verschrieben hatten.
Der neue Glaube war langsam gewachsen. Entstanden war er in den interstellaren Gesandtschaften, wo die Botschaftsangehörigen in ihrem Bemühen, die fremdartige Lebensart zu begreifen, über die Grenzen des Menschlichen hinaus vorstießen. Und inzwischen waren die Propheten des Galaktizismus bereit, die Menschlichkeit ganz und gar abzustreifen, um zu einem Galaktischen Bewußtsein vorzudringen, bei dem bloße Artentreue obsolet werden mußte.
Und wieder einmal war die Detente in Trümmer zerfallen. In erbitterter Rivalität um die Gunst der Aliens bekämpften Shaper und Mechanisten einander. Von den neunzehn außerirdischen Rassen hatten nur fünf ein höchst oberflächliches Interesse an engeren Beziehungen zur Menschheit erkennen lassen. Die Chondrulenwolken-Prozessoren waren zum Einstieg bereit, jedoch nur, falls man die Venus für ihre leichtere Verdauung atomisieren könne. Die Nervenkorallenaquatiker drückten gelindes Interesse an einer Invasion der Erde aus, was jedoch den Bruch des traditionellen geheiligten Interdikts bedeutet haben würde. Die Kulturgespenster waren bereit, sich mit jedem ins Bett zu legen, der sie ertragen konnte, jedoch hatte sie der abscheuliche Einfluß, den sie auf das Diplomatische Corps der Schismatrix ausgeübt hatten, zum Gegenstand allgemeinen Abscheus werden lassen.
Die »Gassäcke« von Fomalhaut boten am meisten. Es hatte viele Jahrzehnte gedauert, bis man die Sprache dieser »Schwätzer« beherrschen gelernt hatte, die sich am einfachsten als komplexe Instabilitätszustände atmosphärischer Dynamik definieren ließen. Sobald jedoch der Kontakt richtig aufgenommen war, zeigten sich rasche Fortschritte. Fomalhaut war ein Riesenstern mit gewaltigem Asteroidengürtel, der ungewöhnlich reich an Schwermetallen war.
Für die »Gassäcke« war der Asteroidengürtel von keinem Nutzen, da sie Weltraumreisen nicht mochten. Sie waren jedoch an Jupiter interessiert, den sie mit Aero-Krill zu besäen planten. Die Investoren waren bereit, den Transport zu übernehmen, obwohl auch ihre gewaltigen Schiffe pro Flug jeweils nur eine Handvoll operativ entleerter Gassäcke befördern konnten.
Die Kontroverse hatte jahrzehntelang getobt. Die Mechanisten hatten ihre eigene Galaktizistengruppe, die sich abplagte, die hirnrissige Physik der ominösen Hijack Boosters zu begreifen. Diese Boosters verfügten wie die Investoren über eine Technik der Beschleunigung über Lichtgeschwindigkeit hinaus. Die Investoren waren zwar bereit, ihr Geheimpatent zu veräußern, aber nur für einen unerschwinglich hohen Preis. Die Hijack Boosters machten sich über die Menschheit lustig, waren jedoch gelegentlich indiskret.
Der Vorstoß in den Galaxisarm schien unumgänglich zu sein. Eine von zwei möglichen Strategien würde erfolgreich sein: die der Shapers mit diplomatischen Verhandlungen, oder die der Mechanisten, die das Problem der Sternfahrt direkt in Angriff nahmen. Nur eine starke Gruppe konnte auf Erfolg hoffen; den kleineren Splittergruppen fehlte es an den Mitteln, an entsprechend ausgebildeten Leuten und an diplomatischem Einfluß. So bildete sich eine neue instabile Polarität heraus.
Inzwischen untersuchten die Gassack-Larven in ihren eiförmigen Raumschiffen mühsam den zirkumsolaren Raum. Kleine Gruppen von Shapers und Mechano-Überläufern kartographierten die Reichtümer Fomalhauts. Nie wieder würde ein einziges Sonnensystem genügen.
Aus den Trümmern der Detente wucherten alte Haßgefühle herauf. Uneingedämmt von den schwankenden Investoren, flackerten zahlreiche Guerillas auf wie Buschbrände. Unter der Führerschaft heimgekehrter Diplomaten schossen bizarre neue Gruppen aus dem Boden. Ihre Anhänger bezogen sie aus den Randgruppen der Gesellschaft: Karnivoren hießen sie, Virus Army, Koronarglobisten ...
Im Kaleidoskop der Geschichte vollzogen sich die thematischen Variationen in immer schnellerem Takt und strebten einem unbekannten Crescendo entgegen. Muster verwandelten sich, verzerrten sich, zersplitterten, und jede Lichtflocke dabei - ein menschliches Leben.
CZARINA-KLUSTER PEOPLE'S CORPORATE REPUBLIC: 13-l-'54
Nach siebzig Jahren in Wohlstand und Stabilität brach die Katastrophe über Czarina-Kluster herein. Die Spitzenelite der Lifesiders Clique fand sich zu einer Klausursitzung zusammen, um gegen die Krise Maßnahmen zu ergreifen.
Das Aquamarine Discreet war eine klösterliche Hochburg der Lifesiders, und die Abschirmmaßnahmen waren dort absolut erstrangig. Mosaikvergrößerungen des Jupitermonds Europa bedeckten die Wände der Klause: eisigweißes und staubig orangerotes Terrain mit leuchtenden Rillen, Binnenmeere in Blau und Indigo. Über dem blitzend polierten Konferenztisch wölbte sich das Himmelspanorama von Europa, ein Astrolabium, in dem edelsteinfunkelnde Raumschiffe die Satelliten der Lifesiders darstellten, die geräuschlos an Silberdrähten ihre Kreise zogen.
Kanzler Abélard Gomez, ein kraftvoller Fünfundachtziger, hatte die Leitung der Clique-Angelegenheiten übernommen. Zu seinen wichtigsten Kompatriden gehörten Professor Glen Szilard, der Berater der Queen, Fidel Nakamura, und Projektmanager Jane Murray, die derzeitige Frau von Gomez. Auf der anderen Tischseite saß Ex-Kanzler emer., Abélard Lindsay. Das zerfurchte Gesicht des alten Erzvisionärs wies das rätselhafte Lächeln auf, das so oft eine deftige Dosis von Grünem Entzücken begleitet.
Gomez pochte auf den Tisch und rief das Komitee zur Ordnung. Es wurde still, abgesehen davon, daß die greise Ratte auf Lindsays Schulter laut weiter mit den Zähnen schnatterte. »Entschuldigung«, sagte Lindsay und stopfte die Ratte in die Jackentasche.
Gomez eröffnete. »Fidel, dein Bericht?«
»Es ist wahr, Kanzler. Die Königin ist verschwunden.«
Die anderen Teilnehmer stöhnten. Gomez fragte scharf: »Übergelaufen oder entführt?«
Nakamura tupfte sich die Stirn. »Wellspring hat sie mitgenommen; er allein kann uns die Frage beantworten. Meine Kollegen im Rat der Queen sind in Aufruhr. Der Koordinator ruft die Doggen auf den Plan. Er hat sogar die Tiger entmottet. Wellspring soll wegen Hochverrats angeklagt werden. Und sie werden keine Ruhe geben, ehe sie ihn nicht gefaßt haben.«
»Oder bis C.-K. rings um sie zusammenkracht«, sagte Gomez. Düsteres Schweigen senkte sich über die Kammer. »Tiger«, sagte Gomez schließlich. »Tiger sind riesenhafte Maschinen; sie könnten die Wände dieses Klosters zerschredden wie Papier. Wir dürfen nicht wieder zusammenkommen, ehe wir uns nicht bewaffnet und sichere Parameter aufgestellt haben.«
Szilard meldete sich zu Wort. »Unsre Doggen überwachen die Ausgänge dieser Vorstadt. Ich habe alles für die Durchführung von Loyalitätstests parat. Wir können die Vorstadt von gegnerischen Ideologen säubern und hier unsere Festung einrichten, wenn der Kluster zerfällt.«
»Das ist brutal«, sagte Jane Murray.
»Entweder die oder wir«, gab Szilard zurück. »Sobald die Nachricht erst einmal publik ist, werden die übrigen Gruppen Sondergerichte einrichten, Parteilokale überfallen und zerstören, Andersdenkenden ihr Eigentum rauben. Es wird die Anarchie sein. Wir müssen uns dagegen schützen.«
»Was ist mit unsern Verbündeten?« fragte Gomez.
Nakamura sagte: »Nach Auskunft unserer Kontaktleute in der Polycarbon-Clique wird die Verkündung von Wellsprings Staatsstreich gleichzeitig mit dem ersten Asteroidenaufschlag auf den Mars erfolgen, also am Morgen des 4-14-'54 ... Czarina-Kluster wird in wenigen Wochen auseinanderbrechen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge von hier wird in einen Mars-Orbit zu entkommen versuchen. Wellspring hat dort die Queen in Gewahrsam. Also wird er die Herrschaft haben. Der neue Terraform-Kluster wird von einer viel stärker posthuman gefärbten Ideologie geprägt sein.«
»Die Mechs und Shapers werden C.-K. in Fetzen reißen«, sagte Jane Murray. »Und unsere Lehre zieht Gewinn aus der Vernichtung ... Das ist Hochverrat, Freunde. Mir wird übel.«
»Menschen überleben Völker«, sagte Lindsay sanft. Er atmete mit unmenschlicher Regelmäßigkeit: Ein mechanistischer Biothoraxpanzer steuerte seine inneren Organe. »C.-K. ist dem Untergang geweiht. Und noch so viele Doggen oder Säuberungsaktionen werden das nicht verhindern, solange wir keine Königin haben. Wir sind hier erledigt und kaputt.«
»Der Altkanzler hat recht«, sagte Gomez zu den übrigen. »Aber wohin sollen wir gehen? Wir müssen uns entscheiden. Wollen wir uns der Polycarbon-Clique um den Mars anschließen, um im Schatten der Queen zu leben? Oder ziehen wir um auf eine zirkumeuropische Umlaufbahn und führen unsere eigenen Pläne weiter?«
»Ich stimme für Mars«, sagte Nakamura. »Wie das Klima derzeit ist, braucht der Posthumanismus jede nur erdenkliche Hilfe. Die Sache verlangt Solidarität.«
»Solidarität? Doch wohl schon eher Fluidität«, sagte Lindsay. Mühsam richtete er sich gerade auf. »Was spielt denn schon eine Königin mehr oder weniger für eine Rolle? Es gibt doch massenweise immer neue Aliens. Der Posthumanismus muß sich früher oder später doch seinen eigenen Orbit suchen ... warum also nicht jetzt?«
Während die anderen Argumente anführten, schaute Gomez versonnen unter halbgeschlossenen Lidern zu seinem alten Mentor hinüber. Die Reste eines alten Schmerzes nagten an ihm. Er konnte die langen Jahre der Ehe mit Lindsays Favoritin, mit Vera Constantine, nicht vergessen. Zu viele Schatten lagen da zwischen Vera und ihm.
Einmal hatten sie die Schatten vertrieben. Damals, als sie Gomez eingestand, daß sie beabsichtigt hatte, Lindsay zu töten. Lindsay hatte nichts zu seinem Schutz unternommen, sagte sie, und es gab viele Gelegenheiten, aber irgendwie sei der Zeitpunkt nie ganz passend gewesen. Und dann vergingen die Jahre. Und Überzeugungen taumelten erstorben zu Boden und wurden unter Gewohnheiten und Alltagsroutine begraben. Und dann kam der Tag, an dem sie begriff, daß sie das Attentat nicht würde durchführen können. Sie hatte es Gomez bekannt, weil sie ihm vertraute. Und sie liebten einander.
Gomez lenkte sie von Rachegedanken fort. Sie konvertierte zum Posthumanismus. Sogar ihr Clan konnte bekehrt werden. Der Constantinische Clan arbeitete jetzt als Lifesider-Pioniere im Umkreis von Europa.
Aber an Gomez selbst waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Die Zeit besaß die seltsame Eigenschaft, Leidenschaft in eine Arbeit verwandeln zu können. Er hatte, was er haben wollte. Er hatte seinen Traum. Und er mußte diesen Traum leben mit jedem Atemzug und Soll und Haben berechnen. Und dann hatte er Vera verloren, denn einer der Schatten war übriggeblieben.
Vera war wohl nie hundertprozentig geistig gesund gewesen. Über Jahre hin hatte sie ruhig darauf bestanden, daß eine »fremde Présence«, etwas Außerirdisches, sie verfolge und sie beobachte. Es schien mit ihren Stimmmungszyklen aufzutreten und wieder zu verschwinden; tagelang war sie fröhlich, glaubte felsenfest, das Wesen sei »irgendwohin fortgegangen«; und dann wieder traf er sie in Trübsinn und in sich verkrochen an, und sie schwor, daß »ES« wieder »da« sei.
Lindsay ging auf diese Krankheit ein und behauptete, er glaube ihr. Auch Gomez glaubte an die Présence: nur hielt er sie für eine Spiegelung des Realitätsverlustes, an dem seine Frau litt. Nicht umsonst hatte sie von einem »Spiegelfarbigen Ding ...« gesprochen. Ein Etwas, das sich nicht greifen ließ, nicht fixieren, die Fleischwerdung einer nichtnachweisbaren Fluidität ... Aber als dann Gomez auch an den Punkt gelangte, wo er es selber fühlen konnte, ja sogar es am Rande seines Sehbereichs glaubte flackern zu sehen, wußte er, daß die Sache zu weit gediehen war. Ihre Scheidung fand in freundlicher, ganz und gar kühler Höflichkeit statt.
Manchmal überlegte er, ob Lindsay wohl das Ganze so geplant hatte. Lindsay kannte die Falle, welche die irdische menschliche Freude darstellt, und er kannte die Kraft, die sich gewinnen läßt, wenn man sich aus dieser Falle freischaufelt. Unter sengenden Schmerzen hatte auch Gomez diese Stärke erlangt ... Szilard ratterte Fakten und Zahlen über den Zustand »ZirkumEuropas« herunter. Das künftige Habitat der Lifesiders wurde um den Jupitermond in die künftige Gestalt geblasen: ein Orbitalgischt aus scharf gegeneinander stoßenden Kanten, Wänden und kuppelblasigen Topologien.
Der wieder aufstrebende Constantine-Clan verlegte bereits die Schlangen der Kanalisation in den Wänden und brachte das Lebenserhaltungssystem in Gang. Doch das Unterfangen, die Livesiders en masse, zu Tausenden, dorthin zu übersiedeln, das würde die vorhandenen Mittel bis zur Erschöpfung beanspruchen.
Die Beziehungen zu der Gassäcke-Kolonie auf dem Jupiter waren gut; da kam ihnen die Erfahrung Veras und ihres Studentenkaders zugute. Aber die jovianischen Außerirdischen würden sie nicht gegen andere Human-Gruppen schützen können. Erstens besaßen sie keinerlei Absicht in dieser Beziehung und zweitens auch kein Prestige, das dem der Zikader-Queen entsprochen hätte.
Jane Murray legte die Probleme aus der »Projekt-Perspektive dar. Die Oberfläche des Jupitermonds Europa war vom Standpunkt der Ausbeutung her betrachtet äußerst trübselig: ein im Vakuum versengtes Ödland aus glattem Hydro-Eis, dermaßen kalt, daß Blut und Knochen wie Glas splittern müßten, und dazu ständig der tödlichen Jupiterstrahlung ausgesetzt. Allerdings gebe es Risse und Einbrüche in diesem Eis, dunkle Schrunden von Tausenden Kilometern Länge... Gezeitenklüfte. Denn unterhalb der Kruste dieses Mondes lag geschmolzenes Eis, ein den Planeten umgürtender Lava-Ozean aus Flüssigwasser. Die konstante Gezeitenenergie von Jupiter, Ganymed und Io erwärmten den Ozean auf Europa bis auf Bluttemperatur. Unter dem spitzenähnlichen Gewebe dieser Brüche bespülte ein steriler Ozean einen Boden aus geothermalem Gestein.
Über Jahre hinweg hatten die Lifesiders für das Anorganische eine Reihe handfester Katastrophen geplant. Beginnen sollte es mit Algen. Man hatte bereits Formen gezüchtet, die in der besonderen Mischung aus Salzen und Schwefeln überleben konnten, die im Meerwasser Europas vorhanden waren. Die Algen konnten sich entlang frischer Brüche ansiedeln, durch die Licht herabsickerte, und sich an den Ketten schwerer Kohlewasserstoffe sattfressen, die ziel- und nutzlos in dem sterilen Meer umherhüpften. Als nächstes würden dann die Fische kommen; sehr kleine zunächst, gezüchtet aus den sechs, sieben kommerziellen Arten, die die Menschheit in den Weltraum gebracht hatte. Ozeanische Arthropoden wie »Krebse« oder »Garnelen«, Gliederfüßer, wie man sie nur noch aus uralten Fachbüchern kannte, würden sich durch geschickte Manipulation von Insektengenen imitieren lassen.
Durch aus dem Orbit abgeworfene Projektile konnte man Brüche und Verwerfungen zertrümmern und an ihrer Stelle lichtdurchflutete Felder von Packeis gewinnen. Man würde an Dutzenden Spalten zugleich experimentieren und durch Versuchsreihen und Ausschaltung der Fehlerquoten miteinander rivalisierende Ökosysteme einpassen können.
Es würde Jahrhunderte dauern. Und wieder einmal lud sich Gomez selbst die Last der Jahre auf. »Bioplanung steckt noch in den Kinderschuhen«, sagte er. »Wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen. Zumindest wird Mars-Kluster mit Hilfe der Königin uns Wohlstand und Sicherheit bieten. Dort immerhin wären unsere einzigen Feinde nur die Jahre.«
Lindsay ruckte abrupt nach vorn und knallte seine eiserne Faust auf den Tisch. »Wir müssen jetzt handeln! Jetzt ist der entscheidende Augenblick, wir stehen am Scheideweg, und jetzt kann ein einziger Akt unserer Zukunft Gestalt verleihen! Wir haben die Wahl: Routine oder Wunder. Verlangt das Wunderbare!«
Gomez war wie betäubt. »Also, dann ist es Europa, Kanzler?« sagte er. »Wellsprings Pläne erscheinen mir als sicherer.«
»Sicherer?« Lindsay lachte. »Czarina-Kluster ist uns doch auch als so sicher erschienen. Aber die Aufgabe hat sich weiterbewegt, und mit ihr die Königin, als Wellspring sich ihrer bemächtigte. Der abstrakte Traum blüht und gedeiht, während die mit Händen greifbare Stadt in Trümmer fallen wird. Und jene, die nicht zu träumen vermögen, werden mit ihr zugrundegehen. Die Intimräume werden überquellen vom Blut der Selbstmörder. Wellspring selbst könnte dabei sterben. Mech-Agenten werden ganze Suburbien annektieren, Shapers werden sich ganze Banken- und Industriesysteme einverleiben. Die alltägliche Routine, die euch hier als so fest und verläßlich erschien, wird dahinschmelzen wie Tränen ... Wenn wir uns dem hingeben, dann werden auch wir zu NICHTS zerfließen wie sie.«
»Aber was sollen wir dann tun?«
»Wellspring ist nicht der einzige, dessen Verbrechen ein vieldeutiges Geheimnis sind. Und er ist auch nicht der letzte, der von der Bildfläche verschwindet.«
»Du willst uns verlassen, Kanzler?«
»Ihr müßt nun Kummer und Katastrophen selbst begegnen. In dieser Rolle bin ich von keinerlei Nutzen mehr.«
Die anderen blickten bestürzt drein. Gomez faßte sich mühsam. »Der Altkanzler hat recht«, sagte er. »Ich wollte soeben etwas in der Richtung vorschlagen. Unsere Feinde werden ihre Angriffe auf unseren CA konzentrieren; darum wäre es wohl am besten, wenn unser Experte in den Untergrund ginge.«
Die anderen legten automatisch Protest ein; Lindsay machte sie mit seinem Veto mundtot. »Es kann nicht immer und ewig Queens und Wellsprings geben. Ihr müßt lernen, eurer eigenen Stärke zu vertrauen. Ich tu das.«
»Aber wohin wirst du gehen, Kanzler?«
»Wo man mich zu allerletzt erwartet.« Er lächelte. »Dies hier ist schließlich nicht die erste Krisis, die ich erlebe. Ich habe eine Menge davon mitgemacht. Und wenn sie über mich hereinbrechen - bin ich jedesmal davongelaufen. Jahrelang habe ich euch gepredigt ... euch aufgefordert, euer Leben einzusetzen ... Und die ganze Zeit über war ich mir bewußt, daß einmal dieser Augenblick kommen würde. Ich habe nie gewußt, wie ich mich verhalten würde, wenn der Traum seinen kritischen Punkt erreicht. Würde ich den Schwanz einziehen und Sundog werden, wie ich das eigentlich immer getan habe? Oder würde ich mich stellen, mich einsetzen? Nun, der Augenblick ist da. Ich muß meiner Vergangenheit die Stirn bieten, ebenso wie ihr es tun müßt. Ich weiß, wie ich euch zu eurem Wunder verhelfen kann. Und ich schwöre euch hier und jetzt, ich will es tun.«
Eine plötzliche lähmende Angst überfiel Gomez. Seit vielen Jahren hatte er bei Lindsay keine derartige feste Entschlossenheit erlebt. Plötzlich fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Lindsay zu sterben beabsichtige. Er kannte Lindsays Pläne nicht, aber ihm wurde in diesem Augenblick klar, daß jetzt die höchste Entscheidung im Leben des alten Mannes fallen mußte. Es würde durchaus zu ihm passen, auf dem Gipfelpunkt des Geschehens seinen Abgang zu machen, mit den Schatten zu verschmelzen, solange noch der Glorienschein des Unbekannten um ihn leuchtete. »Kanzler«, sagte Gomez. »Wann können wir mit deiner Wiederkunft rechnen?«
»Ehe ich sterbe, werden wir die Engel von Europa sein. Und wir treffen uns im Paradiesgarten wieder.« Lindsay pedalte die versiegelte Tür der Kammer auf; aus den Freisturzschächten draußen drang der plötzliche Schwall einer großen lärmenden Menge. Dann fiel der Türdeckel dumpf wieder zu. Lindsay war fort. Es trat ein schwer lastendes Schweigen ein.
Der Abgang des alten Mannes hatte Leere hinterlassen. Die anderen saßen stumm da und machten sich mit dem Geschmack des Verlustes vertraut. Stumm blickten sie einander an. Und danach, in einem synchronen Impuls, schauten sie Gomez an. Der Augenblick verging; das Unbehagen löste sich auf. Gomez lächelte. »Also schön, dann wollen wir uns doch für die Wunder entscheiden«, sagte er.
Flink kletterte Lindsays Ratte auf den Konferenztisch. »Er hat sie zurückgelassen«, sagte Jane Murray. Sie streichelte dem Tier über das Fell, und es quietschte lautstark.
»Will diese Ratte bitte die parlamentarische Disziplin beachten«, sagte Gomez. Er pochte auf den Tisch, und sie machten sich an die Arbeit.