7. Kapitel

 

SKIMMERS UNION COUNCIL STATE:

13-5-'75

 

Er fühlte, wie es näher kam, wie es als zuckende subepidermale Spannungszone sich um seinen Hinterkopf kriechend verbreitete. Eine Paramnesie. Die Szene vor ihm zitterte leicht, die Menschenmassen unterhalb seiner Privatloge verschwammen zu einem Fries dichtgedrängter Köpfe vor dunklem Zierat, die Rundbühne mit den Schauspielern in Kostümen, dunkel und rot, schimmernd, eine bewegte Handgeste. Es verlangsamte sich - gefror.

Furcht? - Nein, genaugenommen war es nicht einmal dies... eher eine gewisse Trauer, da jetzt der Würfel gefallen war. Das Warten, das war die Hölle gewesen ... Sechzig Jahre lang hatte er abgewartet, bis er seine alten Kontakte wieder aufnehmen konnte, mit den Verdrahtschädeln der Alt-Radikalen der Republik ... Und jetzt hatten sich die Führer der Drahtköpfe, wie auch er, den Weg an die Macht in den Äußeren Welten mühsam erkämpft. Sechzig Jahre, das war gar nichts für ein Hirn am Draht... die Zeit bedeutete - nichts ... Paramnesien, nichts ... Man gedachte seiner und erinnerte sich noch recht genau an ihn, an den Freund - Philip Khouri Constantine.

Er war es gewesen, der ihre Ketten gesprengt hatte; er hatte die Säuberungen bei den frühsenioralen Aristokraten durchführen lassen, um die Drahtköpfe-Flucht zu finanzieren ... Ach, die Erinnerungen reichten weit zurück; aber sie waren Daten, weiter nichts, klar und frisch aufgespult, abrufbar, wie es seine Feindin Margaret Juliano auf ihrem Bett aus Eis bei den Kataklysmatikern war ... Selbst in dem momentanen Hirnausfallzustand war die aufwallende Befriedigung so lebendig und scharf genug, daß sie aus dem Hirnhintergrund in sein Bewußtsein herauftauchen konnte ... Aaah, dieses einmalige unvergleichliche Wärmegefühl, das er nur empfand, wenn er einen Rivalen zu Fall gebracht hatte...

Und jetzt, schlaff hinter seinen rasenden Gedanken herkriechend, das zeitlupenträge Aufbrechen eines leisen Angstgefühls ... Nora Everett, Exfrau von Abélard Mavrides ... Sie hatte ihm vor siebzehn Jahren mit dem Coup in der Republik schmerzlich geschadet, obwohl es ihm gelungen war, sie in einen Hochverratsprozeß zu verwickeln ... Aber diese scheppernd-schäbige drittklassige »Republik« ging ihn jetzt nichts mehr an ... diese bewußt-ignoranten Infantilbürger, die Drachen in die Luft steigen ließen und unter dem irren Funkelblick des Scharlatans Dr. Pongpianskul Äpfel mampften ... Die waren keine Gefahr. Die Zukunft würde sie nicht zur Kenntnis nehmen, sie waren lebende Fossilien, im Grunde harmlos.

Aber diese Kataklysmatiker ... Die Furcht in ihm begann sich noch aufzufalten, begann aufzublühen, die ersten schattenhaften Mahnungen von Unbehagen im Hinterkopf gewannen allmählich emotive Gestalt und Substanz, entfalteten sich durch seine bewußte Hirnaktivität wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser ... Aber um seine Emotionen würde er sich später kümmern, sobald seine Bewußtseinstrübung verschwunden war; jetzt mühte er sich stark ab, die Augen zu schließen ... die Sehschärfe war weg, trüber Tränenschleier über gefrorenen Darstellern; seine Lider sanken mit alptraumhafter schleimiger Trägheit nach unten, die Neuroimpulse waren durch das hetzende Bewußtsein seines epileptoiden Zustandes durcheinandergebracht ... Aber die Kataklysmatiker ... Die betrachteten das Ganze als einen gigantischen Witz, denen machte es Spaß, sich in der Republik herumzutreiben, versteckt als Plebi und Bauer, und das gewaltige Panorama-Innere der Zylinderwelt war für sie so absurd und lachhaft wie eine Minidosis ihrer Lieblingsdroge, PDKL-95 ... Das Bewußtseinssortiment der Kataklysmatiker speiste sich aus Übereinstimmung, poetischer Richtigkeit, ein Trip in die vergangene Humangeschichte war in der Neotenischen Republik die Inversion eines Eismordes nebst Einwegfahrschein in die Zukunft...

Sein epileptoider Absence-Zustand näherte sich der Kippe. Er verspürte ein merkwürdiges Knacken, einen psychischen Aufbruch, die logisch-mentale Kruste brach unter dem Aufschwall. Während der letzten paar Mikrosekunden seines Anfalls packte ihn ein eidetischer Blitzeindruck: Surveyor-Fotos von der Titanoberfläche, rote Vulkanschelfe aus schwerem Kohlenwasserstoff, zersplittert durch Ammoniaklava, die aus den Urtiefen heraufbrach ... von Titan, tief unterhalb des Orbits, dem prächtigsten Wandschmuck in der Skimmers Union ...

Weg, alles. Constantine beugte sich in seinem Logensessel nach vorn. Er hustete sich die Kehle frei. Die Spätreaktion von Furcht raste durch ihn hindurch; er vertrieb sie herrisch, schniefte eine leichte Dosis Azetaminophen, um die eventuelle Migräne zu vermeiden. Durch feuchtigkeitsdicke Augenlider warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Sein Anfall hatte vier Sekunden gedauert.

Er trocknete sich die Augen und bemerkte, daß an seiner Seite seine Frau saß - das feingemeißelte Shapergesicht ein Musterbeispiel dezenter Überraschung. Hatte sie bemerkt, daß er vier Sekunden lang in einem Raptus dagesessen hatte, daß von seinen Augen nur ein weißer Rand zu sehen gewesen war? Nein. Sie nahm an, er sei von dem Stück hingerissen, und es bestürzte sie und beunruhigte sie, eine derart exzessive Gefühlsreaktion bei ihrem eisenharten Herrn und Gemahl festzustellen. Constantine beschenkte sie mit einem Lächeln. Ihr Gesicht rötete sich leicht; sie lehnte sich auf ihrem Sessel nach vorn, die juwelenbestückten Hände im Schoß, und tat, als verfolge sie höchst aufmerksam das Spiel. Später würde sie dann versuchen, mit ihm darüber zu diskutieren. Natalie Constantine war jung und nicht dumm, obwohl sie aus einer MilitärGen-Gruppe stammte. Sie hatte sich angewöhnt, Constantines Ansprüchen gerecht zu werden.

Nicht wie seine erste Frau, diese verräterische hinterhältige Hure ... Er hatte die Altaristo in der Republik verlassen, nachdem er geduldig ihre lasterhaften Neigungen genährt hatte, bis sein Staatsstreich es ihm erlaubte, eben diese Perversitäten gegen ihre Standesgenossen zu benutzen. Und jetzt gab es Gerüchte, daß sie Pongpianskuls Geliebte und Maitresse sei, die er sich durch trügerischen Shaper-Charme und in widerwärtiger seniler Geilheit angelockt habe. Es spielte keine Rolle, war ganz unwichtig. Die vielen Jahre hatten dem Ganzen den Stachel entzogen; der Schlag heute abend, wenn er kommen sollte, würde wichtiger sein als irgendein zirkumlunares Hinterwäldlernest.

Vera, seine neunjährige Tochter, beugte sich in ihrem Sitz vor und wisperte Natalie etwas zu. Constantine betrachtete das Kind, das er gebaut hatte. Zur Hälfte kam sein Genmaterial von Vera Kelland, Extrakte aus Epidermpartikeln, die er vor dem Selbstmord der Frau angelegt hatte. Über die Jahre hin hatte er die gestohlenen Gene gehütet wie einen Schatz, und als die Zeit reif war, hatte er sie in diesem Kind neu erblühen lassen. Vera war sein Liebling, sie war sein erster Nachkomme, seine erste Zeugung. Wenn er daran dachte, daß sein persönliches Versagen für sie möglicherweise den Untergang bedeutete, verspürte er wieder Furcht, und es war eine stärkere Furcht als zuvor, weil es dabei nicht um ihn selbst ging.

Eine ungewöhnliche Bewegung auf der Bühne erregte seine Aufmerksamkeit - ein kurzes Aufwallen gestelzt-stilisierter Aktivität, als der geistesgestörte »Schurke«, natürlich ein Superheller, sich an den Kopf faßte und stürzte. Constantine kratzte sich verstohlen mit der Sohle seines Füßlings am Knöchel. Seine Viruserkrankung der Haut hatte sich im Laufe der Jahre gebessert und war nun nur noch in gelegentlichen akuten Ausbrüchen einer Trockenflechte an den unteren Extremitäten ärgerlich vorhanden.

Bei dem Stück handelte es sich um eines von Zeuners Werken; es langweilte Constantine. Die Skimmers Union hatte sich diese Mode von Goldreich-Tremaine abgeschaut, und die aus der gelähmten Ex-Metropole geflüchteten Dramatiker hatten das ihre dazu beigetragen. Aber das moderne Theater war ohne Leben. Fernand Vetterling beispielsweise, der Verfasser von The White Pariapsis und The Technical Advisor, war in schmollendes Schweigen versunken und brütete an der Seite seiner in Ungnade gefallenen Mavrides-Gemahlin dahin. Andere Künstler mit detentistischen Neigungen erhielten nun die Rechnung für ihr unbedachtes Vorpreschen präsentiert und berappten entweder Geldbußen oder saßen unter Hausarrest. Einige waren abgesprungen und übergelaufen, andere waren »zeitweilig untergetaucht«, hatten sich den Aktionsbrigaden der Kataklysmatiker angeschlossen und arbeiteten als Tagelöhner in der »Friedhofschicht«.

Doch die Kataklysmatiker verloren mehr und mehr den Zusammenhalt und wurden zunehmend terroristisch. Ihre Elite von Superhellen sah sich schweren Angriffen ausgesetzt. Die Progrome, der »spontan sich äußernde Volkszorn«, gegen die Superhellen waren immer gründlicher organisiert, je stärker die hysterische Haßwelle anschwoll. Die Förderer und Erzieher der Superhellen waren inzwischen zu politischen Unpersonen erklärt worden, wobei viele unter ihnen perversen Racheakten aus den eigenen Reihen der erleuchteten Superhellen zum Opfer fielen.

Die Superhellen waren zu brillant, als daß sie in die Gemeinschaft gepaßt hätten; ihre Forderung zielte auf eine weltenvernichtende Anarchie von Übermenschen ab. Und Supermänner waren einfach unerträglich, intolerabel. Constantine hatte diese Intoleranz gefördert. Nie war ihm das Leben angenehmer begegnet: eine überragende Position, eine eigene Constantine-Gen-Linie, freie Hand bei extravaganten Aktionen gegen die Mechs, und dazu noch seine persönlichen Stacheldrahtnetze zur Entmutigung eventueller Disloyalität.

Und an diesem Abend hatte er alles auf eine Karte gesetzt. Wie lange dauerte es denn noch, bis die Nachricht, seine Botschaft endlich eintraf? Und wie würde er sie aufnehmen? Würde er durch seine Leibwächter durch die Ohrkontakte darüber unterrichtet werden? Oder durch die gestohlenen Mech-Implantate in seinem Hirn, mittels derer ihm Geheimkanäle zu dem blassen Datengeflüster der Drahtköpfe zugänglich waren? Oder ...

Aber nun geschah etwas. Die flaggenschwenkende Choreographie auf der Rundbühne zerfiel plötzlich zu konfusem Durcheinander. Die buntfarbigen Firmenlogos und Gen-Linien-Standarten wurden langsamer und verhedderten sich ineinander. Auf gebrüllte Befehle hin wichen die Tänzer in chaotischem Wirrwarr zurück. Jemand schwebte an dem Bühnenpodiumsrand. Es war dieser erbärmliche Charles Vetterling, das ältliche Gesicht von Siegesfreude und lakaienhafter Selbstüberheblichkeit geschwellt.

So, das war es also. Vetterling brüllte. Unhörbar. Der Starakteur drückte ihm ein Kehlkopfmikro an den Hals. In dem plötzlichen Feedback röhrte Vetterlings Stimme scheppernd und laut.

»... vom Krieg! Die Mech-Märkte sind in Panik! Asteroid Nysa hat sich mit dem Ring Council solidarisiert! Ich wiederhole, das Nysa-Kartell hat die Mechanistische Union verlassen! Sie haben um die Aufnahme als Vertragspartnerstaat in den Rat der Ringe ersucht! Das Council befindet sich in Sitzung ...« Seine Worte ertranken in dem Gebrüll der Zuschauermassen, dem Scheppern der Sicherungsschnallen, als das Volk sich von den Sitzen losmachte und in Verwirrung aufschwärmte. Vetterling kämpfte mit seinem Mikro. Bruchstücke seiner Worte durchstießen das Getöse. »... Kapitulation ... durch die Banken in Skimmers Union ... Industrieller ... neuer Sieg!«

Es begann bei den Schauspielern. Der männliche Star wies über die Köpfe des Publikums zu Constantines Loge hinauf und brüllte seinen Mitakteuren etwas zu. Daraufhin begann eine der Aktricen in die Hände zu klatschen. Und das breitete sich aus. Dann klatschte die gesamte Truppe mit freudeleuchtenden Gesichtern ihm Beifall. Vetterling hörte den Lärm in seinem Rücken und wandte sich um. Er begriff sofort, und über sein Gesicht quoll ein verkrampftes Lächeln. Mit dramatischer Geste hob er den Arm und brüllte: »Constantine!!! Meine Damen und Herren, Seine Exzellenz, der General-Kanzler!«

Constantine stand auf und klammerte sich an das Ei sengeländer hinter der Transparenzabschirmung. Als man ihn erblickte, begann die Menge zu toben. Ein wilder Strudel von Gebrüll und Beifall in der Schwerelosigkeit. Sie wußten es alle: Es war der Augenblick seines Triumphes. Die Freude darüber ließ die Masse außer Rand und Band geraten, dieses kurze blitzhafte Aufflackern einer Erlösung aus der finsteren Zwangsspannung des KRIEGES. Und wenn es ihm mißlungen wäre, sie würden ihn mit gleicher Leidenschaftlichkeit zu Tode gehetzt haben. Aber diese düstere Erkenntnis war unter dem Eindruck des Sieges zerstoben. Denn nun, da er und weil er gewonnen hatte, verlieh das Risiko, das er eingegangen war, seiner Lustempfindung nur eine zusätzliche Würze.

Er wandte sich seiner Ehegemahlin zu. In ihren Augen quollen Tränen des Stolzes auf. Behutsam, ohne das Geländer loszulassen, streckte er ihr eine Hand entgegen. Als sich ihre Finger berührten, las er in ihrem Gesicht. Und dort las er die Wahrheit: Von diesem Abend an würde seine Herrschaft über diese Frau total sein.

Sie trat an seine Seite. Vera zupfte ihn am Ärmel. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Er hob sie auf und bettete sie in den linken Arm. Seine Lippen streiften ihr Ohr. »Vergiß das hier nie!« flüsterte er heftig.

Unter dem Zwang eines neuen Rhythmus erstarben die ungezügelten Rufe. Es war der Rhythmus eines ausgedehnten, kadenzierten, rhythmischen Applausrituals, wie es traditionell jeder Sitzung des Ring Councils zu folgen pflegte, uralt, feierlich, eine überwältigende Akklamation, Zustimmung, die keinen Widerspruch duldete. Die Musik der Macht. Constantine hob die Hand seiner Gemahlin über ihrer beider Köpfe und schloß die Augen.

Es war der glückerfüllteste Augenblick seines Lebens.

 

DEMBOWSKA CARTEL: 15-5-'75

 

Lindsay spielte Fingerübungen, um seinen neuen Arm zu trainieren. Es war ein weit fortschrittlicheres Modell als der alte, und die feinen unterschiedlichen Nervenreaktionen verwirrten ihn. Während er die Komposition durchspielte - es war eine der Arbeiten Kitsunes -, spürte er den Anschlag jeder Taste wie eine kurze verschwommene, aber scharfe Hitzewahrnehmung.

Er ruhte sich etwas aus, und er rieb die Hände gegeneinander. Ein nadelfeines Prickeln lief ihm die Drähte herauf. Seine neue Hand war dicht durchnetzt mit einem Geflecht von Sensoren ähnlich wie an normalen Fingerspitzen. Aber sie waren weitaus reaktionsstärker als die Feedbackpatten seines früheren alten Armes.

Die Umstellung hatte ihn durcheinandergebracht. Er schaute sich in seinem trübseligen Apartment um. In zweiundzwanzig Jahren hatte es für ihn nie mehr bedeutet als ein Platz, an dem er sein zeitweiliges Lager aufschlug. Die »modischen« Attribute des Lochs - die geriffelte Tapete und die skelettspillerigen Stühle - waren seit zwei Dekaden aus der Mode. Einzig die Sicherheitseinrichtungen, Wells' neueste Investition, waren einigermaßen zeitgemäß.

Er selber, er, Lindsay, war schal und träge geworden. Jetzt, da er neunzig war, zeichneten Kerben sich um Augen und Mund ab, die Merkmale eines fortgesetzten Ausdruckshabitus. Haar und Bart waren mit Grau durchsetzt.

Allmählich machte er Fortschritte auf den Keyboards. Er war das Problem Musik mit seiner gewohnten unmenschlichen Stetigkeit angegangen. Über Jahre hin hatte er derart wütend gearbeitet, daß es ihn eigentlich hätte umbringen müssen, doch dank moderner biomonitorischer Technik war jeder drohende Zusammenbruch frühzeitig erkannt und Monate vor dem Akutfall abgewendet worden. Darum kümmerte sich sein Bett, das ihm unterschwellige Blitzschübe von intensiven, verschwommenen Träumen einspeiste, nach denen er an jedem Morgen leer und rein und in perfekter mentaler Gesundheit erwachte.

Seit der Wiederheirat seiner Gemahlin waren achtzehn Jahre verstrichen. Der Schmerz hatte ihn nie voll getroffen. Ihren derzeitigen Gemahl hatte er flüchtig im Rat kennengelernt: Graham Everett, ein farbloser Detentist mit Verbindungen zu einem mächtigen Clan. Nora benutzte seinen Einfluß, um die Attacken der ihr feindlichen Militaristen zu parieren. Es war im Grunde traurig: Lindsay vermochte sich an den Mann nicht gut genug zu erinnern, um ihn zu hassen.

Warnsignale unterbrachen ihn. Es war jemand in sein Vorzimmer gekommen. Die Scanner versicherten ihm, daß der Besucher, die Besucherin nur mit harmlosen Mechano-Implantaten ausgerüstet sei: mit plaque-ablösenden Arterial-Mikrobots, antiken Teflon-Kniescheiben, Plastikgelenken, einem porösen Drogendukt in der linken Armbeuge. Ihr Haar war großenteils künstlich, implantierte Strähnen schimmernder Optofasern.

Er befahl seinem Haus-Servoboter, die Frau hereinzugeleiten. Sie besaß den merkwürdigen Teint, wie er vielen älteren Mechano-Frauen eigen ist: glatte makellose Haut - wie eine perfektangepaßte Pergamentmaske. Die roten Haare durchwoben von den kupfernen Glanzlichtern der Faseroptik. Sie hatte einen ärmellosen grauen Anzug an, eine pelzgefütterte Jacke und ellbogenlange weiße Thermalhandschuhe. »Auditor Milosz?«

Ihr Akzent klang concatenatisch. Er bat sie, auf der Couch Platz zu nehmen. Sie setzte sich graziös, mit Bewegungen, die durch das Alter zu geschmeidiger Präzision geschliffen waren. »Ja, Madame, was kann ich für dich tun?«

»Verzeih, daß ich einfach so eindringe, Auditor. Mein Name ist Tyler. Ich bin Sekretärin bei Limonov Cryonics. Aber ich komme in einer privaten Angelegenheit. Ich habe gehört, daß du mit Neville Pongpianskul befreundet bist.«

»Du bist Alexandrina Tyler«, sagte Lindsay laut, als er begriffen hatte. »Aus dem Mare Serenitatis. Der Republik!«

Sie wirkte überrascht und schob die dünnen Bögen ihrer Augenbrauen noch höher in die Stirn. »Ach, du weißt über meine Sache schon Bescheid, Auditor?«

»Du ...« Lindsay setzte sich in den Steigbügelsessel. »Vielleicht möchtest du erst einmal etwas trinken?« Sie war seine erste Ehefrau. Von einer tiefverschütteten Reflexebene fühlte er die Regung einer längsttoten persona, diese brüchige Schicht gefälschter Kinesis, die er in ihrer Ehe zwischen der Frau und sich errichtet hatte.

Alexandrina Tyler, seine ihm ehelich vermählte Frau, die Cousine seiner Mutter.

»Ach, danke, nein«, sagte sie und zupfte den Stoff über ihren Knien zurecht. Immer hatte sie Schwierigkeiten mit den Knien gehabt; diese Teflonimplantate hatte sie in der Republik einsetzen lassen.

Die vertraute Geste führte ihm alles wieder vor Augen: die Heiratspolitik der Aristos in der Republik ... Sie war fünfzig Jahre älter gewesen als er, und ihre Ehe war ein erstickendes Netzgeflecht von angestrengter Höflichkeit und verbissener Rebellion gewesen. Er selbst war jetzt neunzig, also älter, als sie es bei ihrer Eheschließung gewesen war. Und angesichts der Flut neugewonnener Perspektiven, die über ihn hinweggerollt war, vermochte er jetzt einen Hauch dieses längstvergessenen Schmerzes zu verspüren, den er dieser Frau bereitet hatte.

»Ich bin in der Republik geboren«, sagte sie. »Bei den ShaperSäuberungen, vor fast fünfzig Jahren, verlor ich die Staatsangehörigkeit. Ich habe die Republik geliebt, Auditor. Ich habe sie niemals vergessen können ... Ich entstamme einer der privilegierten Familien, aber ich habe mir gedacht, daß jetzt, nachdem sich das neue Regime dort konsolidiert hat, das alles keine so große Rolle mehr spielen dürfte?«

»Du warst die eheliche Gemahlin von Abélard Lindsay.«

Ihre Augen weiteten sich. »Also kennst du meinen Fall ja doch! Und weißt, daß ich einen Antrag auf Emigration gestellt habe? Die Pongpianskul-Regierung hat mich keiner Antwort gewürdigt. Und darum bin ich hier, um dich um deine Unterstützung zu bitten, Auditor. Ich bin zwar nicht Mitglied in eurer Carbon-Clique, aber ich weiß, wie mächtig sie ist. Ihr verfügt über Einfluß, der über gesetzliche Vorschriften hinausreicht und sie jedenfalls umgehen kann.«

»Dein Leben muß ziemlich schwierig gewesen sein, Madame. Hinausgeworfen in die Schismatrix, ohne Ressourcen.«

Sie blinzelte. Ließ porzellanweiße Lider über die Augen sinken wie Jalousien aus Papier. »Es war nicht so schlimm, sobald ich die Kartelle erreicht hatte. Allerdings kann ich auch nicht behaupten, daß es eine Glückssträhne gewesen wäre. Ich habe meine Heimat nicht vergessen können. Die Bäume. Die Gärten.«

Lindsay schlang die Hände ineinander. Er ignorierte die kribbelnde verschwommene Sinneswahrnehmung, die aus der rechten Hand kam. »Ich darf keinen trügerischen Hoffnungen Vorschub leisten, Madame. Das neotenische Gesetz ist ziemlich unerbittlich und genau. Die Republik hat an Leuten in unserem Alter kein Interesse, an jenen, die in irgendeiner Weise sich über den menschlichen Rohzustand hinweg entwickelt haben. Sicher, ich habe einige Angelegenheiten für die Neoten-Regierung erledigen können. Dazu gehörte etwa die Umsiedlung von Neoten-Bürgern, die das Alter von sechzig Jahren erreicht haben. ›Sterben draußen in der Welt‹, so nennen sie das. Der Migrationsfluß ist strikt in eine Richtung. Es tut mir sehr leid für dich.«

Die Frau schwieg eine Weile. »Du kennst die Republik gut, Auditor?« An dem Ton der Stimme merkte er, daß sie ihre Niederlage akzeptiert hatte. Jetzt begann sie mit der Jagd auf ihre Erinnerungen.

»Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, daß die Ehefrau des Abélard Lindsay diffamiert wurde. Dein verstorbener Mann gilt dort als Märtyrer des Konservationismus. Und du wirst als mechanistische Kollaborateurin dargestellt, die Lindsay ins Exil und in den Tod getrieben hat.«

»Wie entsetzlich.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen; erregt sprang sie auf. »Es tut mir sehr leid. Darf ich mal deinen Biomonitor benutzen?«

»Tränen bestürzen mich nicht, Madame«, sagte Lindsay freundlich. »Ich bin kein Zen-Serotoniker.«

»Mein Gemahl«, sagte sie. »Er war ein so heller Junge; und wir hatten uns gedacht, wir hätten was Gutes getan, als wir ihm das Stipendium für die Shapers bezahlten ... Ich habe ja nie so recht verstanden, was sie mit ihm dort gemacht haben, aber es war wohl scheußlich. Ich habe mich bemüht, etwas Gutes aus unserer Ehe zu machen, aber er war dermaßen gescheit und glatt und überzeugungsfähig, daß er alles, was ich gesagt oder getan habe, so herumdrehen konnte, daß es irgendwie ganz anders wirkte. Er hat den anderen Entsetzen eingeflößt. Die waren fest davon überzeugt, er würde unsre Welt in Stücke reißen. Nein, wir hätten ihn niemals zu den Shapers senden dürfen.«

»Ich bin überzeugt, es schien damals aber ein kluger Entschluß«, sagte Lindsay. »Die Republik befand sich bereits im Orbitaleinzug der Mechanisten, und man wollte das Gleichgewicht einigermaßen wiederherstellen.«

»Aber dann hätten die das ja nicht ausgerechnet mit dem Sohn eines zweitgradigen Verwandten tun dürfen. Es gab massenweise Plebis, die man dorthin hätte senden können, so Figuren wie den Constantine.« Sie preßte einen verschrumpelten Fingerknöchel an die Lippen. »Verzeihung. Das war aristokratische Arroganz. Verzeihung. Verzeih mir, Auditor, ich bin echauffiert.«

»Aber ja, ich verstehe das«, sagte Lindsay. »Menschen in unseren Jahren lassen sich von unerwarteten Erinnerungen oftmals zu leicht überwältigen. Es tut mir außerordentlich leid, Madame. Man hat dich sicherlich unangemessen behandelt.«

»Ich danke dir, Sir.« Sie nahm das Papiertuch von dem Hausservoboter entgegen. »Deine Einfühlsamkeit berührt mich sehr tief.« Sie tupfte sich mit vogelhaft pickenden präzisen Bewegungen über die Augen. »Du gibst mir beinahe das Gefühl, als kennten wir uns schon lange.«

»Ein Trick, den uns unser Erinnerungsvermögen spielt«, sagte Lindsay. »Ich war früher einmal mit einer Frau verheiratet, die dir ziemlich ähnlich war.«

Ein ausgedehnter Blick ging zwischen ihnen her und hin. Auf einer Ebene unterhalb der Worte wurde vieles gesagt. Die Wahrheit stieß kurz an die Oberfläche, wurde als solche anerkannt und tauchte dann sogleich wieder unter den Zwängen der Versteckspielerei unter.

»Diese Gemahlin?« sagte sie mit gerötetem Gesicht. »Sie hat dich auf deiner Reise hierher nicht begleitet.«

»Eine Ehe in Dembowska stellte eine veränderte Sachlage dar«, sagte Lindsay.

»Ich habe hier eine Ehe geschlossen. Mit einem Fünfjahresvertrag. Polygam. Der Vertrag lief im letzten Jahr aus.«

»Also bist du derzeit ungebunden?«

Sie nickte. Lindsay gestattete sich eine surrende ausgreifende Handbewegung mit dem rechten Arm, die das Zimmer umfaßte. »Genau wie ich. Und du siehst ja, in welchem Zustand meine häuslichen Befindlichkeiten sind. Durch meinen Beruf ist mein Leben recht trocken und eintönig geworden.«

Sie lächelte vorsichtig-zögernd.

»Hättest du Interesse daran, die Leitung meines Haushalts zu übernehmen? Eine Assistentenstelle bei einem Auditor dürfte doch möglicherweise etwas besser dotiert sein als deine derzeitige Stellung, vermute ich.«

»Oh, da bin ich ganz sicher.«

»Also, sagen wir, sechs Monate Probezeit mit späterem Fünfjahresvertrag? Gütergemeinschaft und gemeinsames Management? Vertrag? Normbedingungen? Monogam? Ich kann den Vertrag von meinem Büro bis morgen früh ausdrucken lassen.«

»Das kommt so überraschend.«

»Unsinn, Alexandrina. Wenn man in unseren Jahren Dinge vor sich herschiebt, erreicht man nie irgendwas. Was sind für uns schon fünf Jahre? Wir haben das Alter besonnener Freizügigkeit erlangt.«

»Kann ich nun doch etwas zu trinken haben?« bat sie. »Es ist zwar schlecht für mein Wartungsprogramm, aber ich glaube, ich brauch jetzt doch was.« Sie blickte ihn nervös an; das Gespenst einer bemühten Intimität stieg in ihren Augen auf.

Er betrachtete ihre glatte Papierhaut, die zerbrechliche Präzision ihrer Frisur. Ihm wurde klar, daß seine Geste der Wiedergutmachung und Versöhnung seinen Lebensverlauf verändern, ihm eine ganz neue Routine aufzwingen würde. Er unterdrückte einen Seufzer. »Ich überlasse es dir, unsere Sexualitätsklausel zu formulieren.«

 

SKIMMERS UNION COUNCIL STATE:

23-6-'83

 

Constantine schaute in den Tank. Hinter der Glasscheibe, unterhalb der Wasseroberfläche, befand sich der wasserdurchtränkte Kopf des Paolo Movrides. Die dunklen Lockenhaare, eines der hervorstechenden Merkmale der Mavrides-Genlinie, schwammen träge um Hals und Schultern des jungen Mannes. Die Augen waren geöffnet, sie waren grünlich und blutunterlaufen. Eine Spinalkrampe erlaubte es ihm, zu fühlen, nicht jedoch, sich zu bewegen. Blind und taub, betäubt von dem blutwarmen Wasser, befand sich Paolo Mavrides nun seit zwei Wochen in sensorischer Isolation.

Durch einen Trachealpfropf wurde er mit Sauerstoff versorgt. Intravenöstubusse verhinderten Unterernährung.

Constantine berührte einen schwarzen Kippschalter an dem verschweißten Tank, und die Gegensprechanlage nebst Galgenmikro begann zu summen. Der junge Assassine redete mit sich selbst, er betete mit verschiedenartiger Stimmlage eine unverständliche Litanei vor sich hin. Constantine sprach in sein Mikro. »Paolo!«

»Ich bin beschäftigt«, sagte Paolo. »Komm später wieder.«

Constantine lachte kehlig. »Na, schön.« Er schnippte gegen das Mikrophon, um den Laut eines umgelegten Schaltknopfes zu erzeugen.

»Nein, so warte doch!« sagte Paolo sofort. Constantine lächelte über den Anflug von Panik in der Stimme. »Es kommt nicht drauf an, die Vorstellung ist sowieso im Eimer. Vetterlings Schäfermonde. «

»Ist seit Jahren nicht mehr aufgeführt worden«, sagte Constantine. »Du mußt damals noch ein ganz kleiner Junge gewesen sein.«

»Ich hab es auswendig gelernt, als ich neun war.«

»Deine geistige Wendigkeit beeindruckt mich. Aber ihr Kataklysmatiker glaubt ja an derlei, nicht wahr? Erprobung der Innenwelt durch den Willen ... Du liegst da schon eine ganze Weile hier drin. Schon ganz schön lange.«

Schweigen. Constantine wartete. »Wie lange?« brach es aus Mavrides hervor.

»Fast achtundvierzig Stunden.«

Mavrides lachte kurz auf.

Constantine lachte mit. »Selbstverständlich wissen wir beide, daß das nicht stimmt. Nein nein, es war fast ein Jahr. Und du wärst ziemlich überrascht, wie dürr du aussiehst.«

»Du solltest es selber mal versuchen. Vielleicht würde es deinen Hautproblemen guttun.«

»Ach, das sind die allerunbedeutendsten unter meinen Schwierigkeiten, junger Mann. Ich habe einen taktischen Fehler begangen, als ich mir die bestmöglichen Sicherheitsvorkehrungen wählte. Das machte mich zu einer Herausforderung. Du würdest überrascht sein zu hören, wie viele Narren vor dir diesen Tank bewohnt haben. Du hast einen Fehler gemacht, junger Paolo.«

»Sag mir nur eins«, bat Paolo. »Warum mußt du unbedingt klingen, als wärest du Gott?«

»Das ist ein Wunderwerk der Technik. Meine Stimme wird direkt in dein Innenohr eingespeist. Und deswegen kannst du auch deine eigene Stimme nicht hören. Ich lese sie von deinen Laryngalnerven, von deinem Kehlkopf, ab.«

»Aha. Verstehe«, sagte Paolo. »Drahtschädelkunst.«

»Ach, es ist keineswegs irreversibel. Aber erzähl mir etwas über dich selber, Paolo. Zu welcher Brigade hast du gehört?«

»Ich bin kein Kataklysmatiker.«

»Ich hab hier deine Waffe.« Constantine zog eine schmale Zeitzünderphiole aus seiner maßgeschneiderten Leinenjacke und rollte sie zwischen den Fingern hin und her. »Kataklysmatisches Standardmodell. Was ist es? PDKL-Fünfundneunzig?«

Paolo schwieg.

»Du kennst die Droge vielleicht unter ihrem schönen Namen ›Shatter‹«, sagte Constantine.

»Ich kann mir was Besseres denken, als einen Versuch zu machen, deinen Hirnzustand zu reformen. Wenn ich die Chance bekommen hätte, mit dir allein in einem Raum zu sein, dann hätte ich das Ding auf fünf Sekunden eingestellt, und wir wären alle beide hinüber gewesen.«

»Ach, ein Aerosol-Toxin, ja? Wie blind und übereilig!«

»Es gibt Wichtigeres als das Leben, du Plebi.«

»Was für ein drolliges Schimpfwort. Ich sehe, du hast dich mit meiner Vergangenheit befaßt. Sowas habe ich schon jahrelang nicht mehr zu hören bekommen. Als nächstes sagst du dann gleich, ich bin ein Ungeplanter.«

»Das erübrigt sich. Deine eheliche Frau hat uns das bereits alles gesagt.«

»Verzeihung, wie bitte?«

»Natalie Constantine, deine dir anvermählte Frau. Hörst du ab und zu noch was von ihr? Sie verträgt Vernachlässigung nicht gut. Inzwischen hat sie sich zur Top-Hure in der ganzen Skimmers Union entwickelt.«

»Wie betrüblich.«

»Und wie konnte ich, deiner Meinung nach, den Plan ausarbeiten, um in dein Haus zu gelangen? Deine Frau ist eine geile Schlampe. Sie flehte mich richtig an, daß ich es ihr besorge.«

Constantine lachte. »Du möchtest wohl gern, daß ich dir was antue, ja? Der Schmerz würde dir einen Punkt geben, an den du dich klammern könntest. Aber nein, du hättest lieber in GoldreichTremaine bleiben sollen, junger Mann. In euren leeren Foyers, in den vergammelten Büros. Es tut mir leid, aber du beginnst mich zu langweilen.«

»Ach, laß mich dir noch rasch sagen, was ich bedaure, ehe du gehst. Ich bedaure, daß ich mir ein so niedriges, minderwertiges Ziel gesetzt habe. Ich hatte in der letzten Zeit genug Gelegenheit zum Nachdenken.« Es kam ein hohles Lachen. »Ich bin auf dein aufgeblasenes Image, auf die offizielle Propaganda hereingefallen. Die Geschichte mit dem Nysa-Asteroiden, zum Beispiel. Das hörte sich zunächst grandios an. Der Ring Council hatte keine Ahnung, daß das Nysa-Kartell nichts weiter war als ein Schrottplatz für leergebrannte Drahtschädel aus den hintersten Mondprovinzen. Du hast dich immer noch nur an die Aristos aus der Republik angeschmissen und bist auf sie reingefallen. Bei deinem ganzen hohen Rang, Constantine, bist du noch immer nichts weiter als ein ganz schäbiger Informant. Und ein erbärmlicher arschkriechender Lakai.«

Constantine verspürte ein vertrautes Spannungszucken am Hinterkopf. Er drückte auf den Pfropf an dieser Stelle und griff in die Tasche, um seinen Inhalator hervorzuholen. Es war keine Zeit, um einen epileptoiden Absence zu erleben, wenn der Kleine bereit war, alles auszuspucken, wenn er dicht vor dem Zusammenbruch war. »Nur weiter!« sagte er.

»Die großen Leistungen, die du vollbracht zu haben behauptest, sind weiter nichts als Schein und aufgeblasener Schwindel. Du hast nie etwas aus eigener Kraft zustande gebracht. Du bist ein Winzling, Constantine, ein sehr kleiner noch dazu. Ich kenne einen Mann, der könnte zehn von deiner Sorte unter seinem Daumennagel verstauen.«

»Wer ist es?« fragte Constantine. »Dein Freund Vetterling?«

»Der arme Fernand? Dein Opfer? Oh, sicher, er ist tausendmal mehr als du, aber das ist kaum fair, wenn ich sowas sage, nicht? Du hattest schließlich nie auch nur ein Atom von künstlerischer Begabung. Nein, ich meine jemand aus deinem eigenen Gewerbe ... Politik und Spionage.«

»Also irgend so ein Kataklysmatiker.« Constantine verlor das Interesse.

»Ach nein. Abélard Lindsay.«

Das traf ihn scharf. Ein blitzartiger Migräneschub raste ihm quer durch den linken Stirnbereich. Die Wandung des Tanks wankte auf ihn in Zeitlupe zu, während er stürzte, eine starre metallisch glitzernde Eislandschaft, und er mühte sich, die Hände hochzuheben, aber alle Nervenimpulse blockierten in diesem in Zeitraffer ablaufenden Anfall, der ihm so lang wie ein ganzer Monat vorkam. Als er wieder zu sich kam, merkte er, daß er die Wange gegen das kalte Metall preßte und daß Mavrides noch immer vor sich hinbrabbelte. »... die ganze Geschichte von Nora. Während du hier Künstler wegen Landesverrats vor Gericht gezerrt hast, landete Lindsay den größten Coup der Geschichte. Ein InvestorÜberläufer ... Er hat einen Abtrünnigen von den Investoren in der Hand. Eine Queen aus einem Investor-Sternenschiff. Ganz einfach so - in seiner Hand.«

Constantine räusperte sich. »Diese Nachricht habe ich auch gehört. Reine Mech-Propaganda. Ein Schwindel.«

Mavrides lachte hysterisch. »Daß'de dich da nicht brennst! Du bist nichts weiter als eine winzige beschissene Fußnote der Entwicklung. Lindsay stand an der Spitze der Revolution in deinem Volk, während du noch damit beschäftigt warst, in Keimen und Dreck Wanzen zu zerquetschen und einen Plan auszubrüten, wie du dir seine Verdienste unter den Nagel reißen könntest. Du bist eine mikroskopische Unbedeutendheit. Ich hätte mir wirklich nie die Mühe machen dürfen, dich umbringen zu wollen, aber ... na ja, ich hatte eben nie Glück.«

»Lindsay ist tot. Seit sechzig Jahren.«

»Aber klar doch, Plebi! Genau dies wollte er ja, daß du das glaubst.« Das direkt aus den Neuroimpulsen abgeleitete Gelächter klang metallisch in den Lautsprechern. »Ich habe schließlich in seinem Haus gelebt, du Trottel. Und er hat mich geliebt.«

Constantine öffnete die Tankschleuse. Er drehte den Zündtimer an dem Glasröhrchen und ließ es in das Wasser fallen. Dann warf er heftig die Tanktür zu. Er machte kehrt und ging. Als er die Tür erreichte, hörte er ein verzweifeltes Platschen im Tank, als das Gift zu wirken begann.

 

CZARINA-KLUSTER PEOPLE'S CORPORATE REPUBLIC: 3-1-'84

 

Die lange leuchtende Schweißnaht war die sauberste Arbeit, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Lindsay schwebte in einer Beobachtungsblase und schaute den Baurobotern zu, die im Vakuum herumkrochen. Die Mechanistenmaschinen besaßen die langen scharfen Spitznasen von Rüsselkäfern, und ihre weißglühenden Schweißspitzen schleuderten lange Schatten über die geschwärzte Hülle des Czarina-Palastes.

Sie bauten da ein lebensgroßes Abbild eines Investor-Sternenschiffes, eines Schiffs ohne Triebwerke, einen Holk, der nie aus eigener Kraft würde fliegen können. Außerdem schwarz, ohne einen Anflug der grellbunten Arabesken und Intarsien, wie sie ein echtes Investorschiff auszeichnen. Die übrigen Investoren hatten darauf bestanden und ihre perverse abtrünnige Queen in dieses düstere, sie verhöhnende Gefängnis verbannt.

Nach jahrelangen Recherchen hatte Lindsay Stück um Stück die Wahrheit über die Verfehlung der Kommandantin zusammensetzen können.

Die Königinnen versenkten ihre Eier in die uterusähnlichen Leibhöhlen ihrer Männchen. Die Männchen befruchteten die Eier und trugen sie innerhalb der Beutel bis zur Geburtsreife aus. Die geschlechtslosen Fähnriche kontrollierten vermittels eines komplizierten hormonalen Pseudo-Kopulationsverfahrens die Ovulation.

Und diese verbrecherische Königin hatte ihren Fähnrich in einem Anfall wahnwitziger Leidenschaft getötet und ein ganz ordinäres Männchen an seine Stelle gezogen. Aber ohne einen richtigen Flaggenoffizier war ihr Geschlechtszyklus durcheinandergeraten. Lindsays Dokumentation belegte, daß sie eines ihrer mißgebildeten Eier zerstört hatte. Für einen Investor war so etwas schlimmer als bloße Perversion, schlimmer sogar als Mord: es war schlecht fürs Geschäft.

Lindsay hatte sein Beweismaterial in einer Art und Weise vorgebracht, die das Moralgefüge der Investoren mitten in den Kern traf. Gefühle der peinlichen Verlegenheit gehörten an sich nicht zur Psychostruktur der Investoren. Sie waren wie betäubt. Doch Lindsay hatte auch ein rasches Heilmittel zur Hand: die Exilierung. Dahinter verbarg sich die unausgesprochene Drohung, sonst werde er die Unterlagen verbreiten und die peinliche Angelegenheit in allen Einzelheiten - den »Skandal« - jedem Investor-Schiff und jeder Humangruppe zuspielen müssen.

Es war schon übel genug, daß eine ausgewählte Schar von reichen Königinnen und Flaggoffizieren von diesem schockierenden Begebnis in Kenntnis gesetzt worden war. Daß auch noch die leicht erregbaren und beeindruckbaren Männchen davon erfahren sollten, das war unvorstellbar. Man gelangte zu einem Agreement.

Die Investor-Queen erfuhr nie, was ihr Geheimnis preisgegeben hatte. Die Unterbreitung des Ansinnens war mit noch größerem subtilen Takt erfolgt und hatte Lindsays diplomatische Talente aufs äußerste beansprucht. Ein zeitlich richtig plaziertes Geschenk von Juwelen hatte das seine beigetragen und sie dank jener überwältigenden Habgier, die der Lebensnerv aller Investoren ist, von der Sache abgelenkt. Die Geschäfte auf ihrem Schiff waren schleppend verlaufen - eine Folge der abgeschlafften Mannschaft und des erbärmlichen eunuchischen Flaggoffiziers.

Lindsay war mit Daten- und Kartenmaterial (von Wells zur Verfügung gestellt) aufgetreten, mit Statistiken, die den Reichtum prognostizierten, der sich aus einem von Parteiungen ungestörten Stadtstaat pressen lassen werde. Die Exponentialkurven schossen in atemberaubende Höhen einer glatten Gewinnernte empor. Lindsay versicherte der Queen, er wisse nichts von ihrer Entehrung, habe auch nichts damit zu schaffen; er wisse jedoch, daß ihre eigene Gattung eifrig auf ihre Verdammnis hinarbeite. Im Besitz eines ausreichenden Geheimschatzes, ließ er durchblicken, werde sich die Königin möglicherweise wieder in die Gunst und Gnade bei den anderen zurückkaufen können.

Geduldig, geschmeidig und schlüpfrig verhalf er ihr zu der Einsicht, daß hier ihre beste, ihre einzige Chance liege. Was würde sie schon allein, ohne ihre Mannschaft, ohne ihren Flaggoffizier vom Dienst bewerkstelligen können? Warum sollte sie denn nicht den beflissenen Diensteifer der höflichen kleinen Fremdlinge akzeptieren und für sich nutzen? Der Sozialtrieb der winzigen geselligen Säugetiere bewirke doch - wahrlich und ganz im Ernst -, daß sie sie für ihre Queen und sich selbst für ihre Untertanen halten müßten. Schon jetzt, in diesem Augenblick, warte ein Stab von Hofräten nur darauf, ihr jeglichen Wunsch und jede Laune zu erfüllen. Und sie sprächen allesamt fließend investorisch und gierten nach der Gnade, sie mit Reichtümern überhäufen zu dürfen.

Ihre Habgier hätte sie wahrscheinlich nicht ganz so weit getrieben. Es war schiere Furcht, was sie schließlich seinen Wünschen nachgeben ließ: Furcht vor diesem kleinen glatthäutigen Fremdling mit dem dunklen Plastikdeckel über seinen Glubberaugen, der auf jedes und alles eine Antwort parat hatte. Er schien ihr Volk genauer zu kennen als sie selber.

Die offizielle Verlautbarung war eine Woche später erfolgt und Hand in Hand damit war ein plötzlicher haemorrhagischer Kapitalabfluß in das neugegründete Königinnen-Exil-Domizil einhergegangen. Sie nannten die Queen »Czarina«, ein Kosename, den Ryumin beigesteuert hatte. Ihre Stadt und Residenz war der Czarina Kluster, das »Zarinnen-Konglomerat«: nach knapp vier Monaten bereits zu einem hektischen Entwicklungsboom erblüht, eine Goldgräberstadt, die sich aus dem Nichts an der Innenkante des Gürtels ansetzte und wucherte. Die »Czarina-Kluster People's Corporate Republic« war aus dem Rohpotential zu plötzlicher konkreter Existenz emporgestiegen, mit einem - wie Wells es nannte - »Prigogine-Sprung«, einem »Hinaufschmelzenden Übergang auf ein höheres Komplexitätsniveau«. Inzwischen ersoff der Kronrat der »Zarin« in geschäftlichen Abwicklungen, die Kommunikationssysteme brachen beinahe zusammen durch die wilden Anforderungen und Fragen von der Seite möglicher Überläufer, die einen Asylantenstatus herauszuschinden versuchten und möglicherweise ein neues Leben beginnen wollten. Und die persönliche Anwesenheit einer Investorin verbreitete einen immensen Schlagschatten und errichtete einen Schutzwall von Prestige, gegen den kein Mechanist oder Shaper anzupinkeln wagte.

Behelfsmäßige Nissensiedlungen von Zuwanderern ohne Aufenthaltsgenehmigung quetschten sich erstickend um den Rohbau des Palastes der Königin: ganze Geflechte von hartnäckigen shaperischen Suburbialblasen, sogenannte »Subbles« wuchsen hervor; schmuddelige Piratenschiffe kopulierten und bildeten harmonika-blasebalgartige Bumsketten-Angriffstunnels; grob gegoßne Waben aus mechanistischem Nickeleisen, die man herangeschleppt hatte; Bauhütten, die wie Napfschnecken am

Gerüstskelett des Urban-Bauprojekts klebten, das kaum vom Reißbrett gelöst war. Diese City sollte eine Metropole werden, ein zirkumsolarer Freihafen, die allerneueste Freizone für Sundogs. Und er, Lindsay, hatte dies ermöglicht. Nur - es war kein Ort für ihn.

»Ein Anblick, der einem das Blut rascher rauschen läßt, mein Freund.« Der früher einmal Wells genannte Mann war in die Beobachtungsblase gekommen. Während der Wochen der Vorbereitung war Wells in eine sorgsam vorbereitete falsche Identität sozusagen »hinübergeblichen«. Er war jetzt ein Mann namens Wellspring, war zweihundert Jahre alt, ein Erdgeborener, ein Mann voller Geheimnisse, ein hervorragender Manövrierer, ein Visionär, ja gar ein Prophet. Darunter wollte man es nicht haben. Ein Coup von derartigen Dimensionen machte Legenden obligatorisch. Und damit natürlich auch den Schwindel.

Lindsay nickte. »Es geht voran.«

»Und damit fängt für uns die wirkliche Arbeit an. Ich bin mit dieser Meute von Hofräten nicht besonders glücklich. Sie kommen mir zu steif vor, zu mechanistisch. Und ein paar von ihnen sind ehrgeizig. Man wird sie im Auge behalten müssen.«

»Aber natürlich.«

»Hättest du keine Lust auf die Stellung? Die Position eines Koordinators steht dir offen. Und du wärest der richtige Mann für sowas.«

»Ich ziehe die Schattenbereiche vor, Wellspring. Eine Rolle von deinem Kaliber, nein, das wäre mir zu dicht an der Bühnenrampe, zu stark im Scheinwerferlicht.«

Wellspring zögerte für einen Moment. »Ich habe sowieso schon genug Schwierigkeiten mit dem Mythos meiner Philosophie. Der mythische Teil ist vielleicht mehr, als ich verkraften kann. Ich brauche dich und deine Schattenbereiche.«

Lindsay wandte die Augen ab. Er beobachtete die Bauroboter, wie sie einer Schweißnaht folgten, bis sie in einem weißglühenden Kuß ihrer Schweißdüsen zusammentrafen. »Meine Frau ist tot«, sagte Lindsay.

»Alexandrina? Es tut mir leid. Das ist bestürzend.«

Lindsay war zusammengezuckt. »Aber nein, nicht sie! Nora. Nora Mavrides. Nora Everett.«

»Ach ...«, sagte Wellspring. »Wann hast du es erfahren?«

»Und ich hatte ihr gesagt, daß ich einen Ort für uns habe«, sagte Lindsay. »Du erinnerst dich; ich habe dir gegenüber erwähnt, daß es möglicherweise eine Absplitterung im Ring Council geben könnte?«

»Ja.«

»Es geschah so unmerklich, wie ich es nur hindrehen konnte. Aber eben doch nicht leise genug. Constantine gelangte irgendwie an Informationen und denunzierte öffentlich die Abtrünnigen. Sie wurde wegen Hochverrats angeklagt. Und da das Verfahren auch alle anderen ihres Clans in Mitleidenschaft belastet hätte, zog sie es vor, Selbstmord zu verüben.«

»Eine mutige Frau.«

»Für sie war es das einzige, was zu tun ihr möglich war.«

»Ja. Vielleicht.«

»Und sie liebte mich immer noch, Wellspring. Sie wollte hierher zu mir kommen. Sie versuchte es gerade, als er sie umgebracht hat.«

»Ich habe Verständnis für deinen Gram. Aber das Leben ist lang. Du darfst nicht die Augen schließen vor deinen höchsten Zielen.«

Lindsay sagte bitter: »Du weißt doch, daß mir diese nachkataklysmatische Glaubensvorstellung nichts bringt.«

»Nicht nach-kataklysmatisch, sondern posthumanistisch«, betonte Wellspring. »Stehst du auf der Seite des Lebens - oder nicht? Wenn nicht, erlaubst du, daß der Schmerz dich überwältigen kann. Du wirst gegen Constantine arbeiten - und du wirst sterben wie Nora. Nimm ihren Tod an und bleib bei uns! Die Zukunft gehört dem Posthumanismus, Lindsay. Nicht den Nationalstaaten, nicht den Parteiungen. Die Zukunft gehört dem Leben, und das Leben bewegt sich kladisch fort.«

»Diesen Song hab ich schon mehrmals von dir gehört, Wellspring. Wenn wir den Verlust unseres Menschentums in Kauf nehmen, dann bedeutet dies noch üblere Differenzen, noch mehr Kampf, noch mehr Krieg.«

»Nicht, wenn die Kladen als neue Erkenntnissysteme auf Prigogines Viertem Komplexitäts-Niveau zu einer Harmonie gelangen können.«

Lindsay gab es als vergeblich auf und schwieg. Schließlich sagte er: »Ich wünsche dir und euch hier alles erdenkliche Glück, aus ehrlichem Herzen. Kümmere dich schützend um die Opfer, wenn du es kannst. Vielleicht wird ja etwas daraus.«

»Es gibt ein ganzes Universum von Möglichkeiten, Lindsay, bedenke auch das. Keine einzwängenden Regeln, keine Grenzen.«

»Nicht, solange der am Leben ist. Verzeih mir.«

»Du wirst das ganz allein tun müssen.«

 

AN BORD EINES INVESTOR-HANDELSSCHIFFS: 14-2-'86

 

»Nicht unbedingt die Art von Transaktionen, die wir gern tätigen«, sagte der Investor.

»Sind wir uns früher bereits begegnet, Fähnrich?« fragte Lindsay.

»Nein. Aber ich kannte einmal einen deiner Studenten. Captain-Doktor Simon Afriel. Ein perfekter Gentleman.«

»Ich erinnere mich gut an Simon.«

»Er starb während einer Gesandtschaft.« Der Investor blickte starr aus dunklen, feindselig blitzenden Augen hinter den weißen Rändern seiner Nickhäute. »Ein Jammer. Ich habe die Unterhaltung mit ihm stets genossen. Dennoch, er war von jenem Drang bestimmt, sich einzumischen, einer Sucht, die Dinge zu manipulieren. Ihr bezeichnet das als Neugier. Ein Drang, nutzlose Daten zu bemessen und zu bewerten. Ein Geschöpf mit einem derartigen Handikap geht eine Vielzahl recht unnötiger Risiken ein.«

»Ohne Zweifel«, stimmte Lindsay zu. Er hatte noch nichts von Afriels Tod gewußt. Die Nachricht erfüllte ihn mit einer bitteren Freude: wieder ein Fanatiker dahin, wieder das Leben eines Hochbegabten vergeudet...

»Haß ist ein leichter auslotbares Motiv. Wie merkwürdig, daß du dich von ihm überwältigen läßt, Künstler. Es läßt mich an meiner Einschätzung eurer Spezies zweifeln.«

»Ich bedaure, Anlaß zu Unklarheiten zu sein. Seine Exzellenz Kanzler-General Constantine könnte es gewiß besser erklären.«

»Ich werde mit ihm sprechen. Er ist mit seinem Gefolge soeben an Bord gekommen. Allerdings ist er nicht gerade ideal geeignet, ein Urteil über die Natur des Menschen abzugeben. Unsere Scannings haben deutlich gezeigt, daß er zu einschneidenden Veränderungen neigt.«

Das tun viele in diesen Tagen, dachte Lindsay. Sogar die ganz Jungen. Als befreite die Existenz der Neotensichen Republik mit ihrer Zwangshumanität die übrigen Gruppierungen von beengenden, erstickenden Masken des Scheins. »Du empfindest dies bei einer Rasse seltsam, die sich in den Raum aufmacht?«

»Nein. Ganz und gar nicht. Es ist der Grund, warum nur noch so wenige davon übrig sind.«

»Neunzehn«, sagte Lindsay.

»Ja. Die Zahl der verschwundenen Rassen innerhalb unseres Handelsimperiums ist um eine ganze Größenordnung höher. Ihre Artefakte haben sich allerdings erhalten, so auch jenes eine Werk, das wir dir in Kürze zu leasen gedenken.« Der Investor zeigte seine gefurchten Pflockzähne - ein Anzeichen von Widerwillen und Zögern. »Wir hatten auf einen wahrhaft langfristigen Handelsaustausch mit eurer Gattung gesetzt, aber wir können euch nicht davon zurückhalten, nach Durchbrüchen in metaphysischen Fragen zu streben. Bald werden wir euer Sonnensystem unter Quarantäne stellen müssen, wenn wir nicht riskieren wollen, in eure Transmutationen verwickelt zu werden. Bis dahin allerdings sind wir gezwungen, einige unserer Bedenken fallen zu lassen, wenn wir unsere örtlichen Investitionen einigermaßen rentabel gestalten wollen.«

»Du bestürzt mich«, sagte Lindsay. Er hatte derlei früher schon gehört: undeutliche Warnungen seitens der Investoren, die darauf abzielten, die Menschheit auf ihrem jetzigen Entwicklungsstand stagnieren zu lassen. Es amüsierte ihn sehr, daß ausgerechnet die Investoren sich zu Predigern des Konservationismus aufschwangen. »Aber der KRIEG ist doch gewiß eine weit schlimmere Bedrohung.«

»Nein«, sagte der Investor. »Wir höchstpersönlich haben euch die Beweise vorgelegt. Unser Interstellar-Drive zeigte euch, daß RaumZeit nicht das ist, wofür ihr sie gehalten hattet. Dessen müßtest du dir doch bewußt sein, Künstler. Bedenke nur die jüngeren Durchbrüche in der mathematischen Behandlung dessen, was ihr HilbertRaum und den Ur-Raum des Prae-Kontinuums nennt. Das kann doch deiner Aufmerksamkeit nicht entgangen sein.«

»Mathematik ist nicht meine Stärke«, sagte Lindsay.

»Die unsrige ebensowenig. Wir wissen nur, daß diese Entdeckungen warnende Gefahrensignale des drohenden kurz bevorstehenden Übergangs in einen anderen Seinszustand darstellen.«

»Drohend?«

»Ja. Ein paar kleine Jahrhunderte.«

Jahrhunderte, dachte Lindsay. Man vergißt so leicht, wie alt diese Investoren waren. Ihr profundes Desinteresse an Veränderung bewirkte, daß ihr Gesichtskreis zwar weit, aber sehr seicht war. Sie interessierten sich kaum für ihre eigene Geschichte, verspürten nicht den Drang, ihr persönliches Leben in Kontrast zu setzen zu dem ihrer toten Vorfahren, denn niemand nahm an, daß ihr Leben oder ihre Motive sich im geringsten voneinander unterschieden. Es gab verschwommene Legenden und wirre technische Aufzeichnungen über besonders hohe Preise erzielende Beutestücke, doch selbst diese Geschichtsfragmente verloren sich in dem Durcheinander elsternhaft zusammengestohlener Beutegüter.

»Aber nicht alle ausgestorbenen Rassen schafften die Transition«, sagte der Flaggoffizier, »und jene, die sich die Arena erfanden, starben wahrscheinlich eines gewaltsamen Todes. Darüber liegen uns allerdings keine Daten vor: Wir haben ausschließlich technische Daten über ihre Wahrnehmungsmodi, was uns ermöglicht, die Arena für das menschliche Nervensystem verständlich zu machen. Dabei wurden wir von der Neurologischen Abteilung der Kosmosität des Nysa Corporate Treaty State unterstützt.«

Constantines Rekruten, dachte Lindsay. Die drahtschädligen Raufer von Nysa, mechanistische Abtrünnige, Überläufer zu der Shaper-Bewegung, die Mech-Techniken mit der faschistoiden Struktur des shaperischen Akademisch-Militärischen Komplexes vereinten. »Die richtigen Männer - oder vielmehr, die richtigen Kreaturen ... für diese Aufgabe.«

»Genau dies sagte auch der Generalkanzler selbst. Seine Entourage hat sich inzwischen eingefunden. Wollen wir uns ihnen anschließen?«

Constantines Gruppe hatte sich mit der Lindsays in einer der höhlenhaften Hallen des Investorschiffs vermischt. Das Foyer war mit riesigen Rokokomöbeln vollgestopft: verwirrend überladene Sitzmöbel, tafelbergwuchtige Tische, alles auf Krummbeinen, die mit geschlitzten Halbkugeln und stilisierten Schneckenschnörkeln inkrustiert waren. Alles war viel zu gewaltig, als daß das Halbhundert menschlicher Besucher einen konventionellen Gebrauch davon hätte machen können; sie kauerten unsicher unter den Möbeln, ängstlich bemüht, nur ja nichts zu berühren. Beim Betreten des Foyers entdeckte Lindsay, daß die Einrichtungsgegenstände der Aliens mit einer dicken Lackschicht besprüht waren, um sie vor der Einwirkung von Sauerstoff zu schützen.

Er war noch nie einem der jungen Constantine-Genträger begegnet. Constantine hatte zehn davon mitgebracht, je fünf männliche und fünf weibliche. Die constantinischen Halbgeschwister waren größer und hatten helleres Haar als er, ein eindeutiger prozentualer Verschnitt mit einer anderen Gen-Linie.

Sie verfügten über jene besondere shaperische Attraktivität, die fließende Geschmeidigkeit von Akrobaten. Aber etwas im Bau ihrer Schultern, ihrer schmalen geschickten Hände stellte kinesisch Constantines Generbschaft zur Schau. Sie trugen fremdartige Prunkkleidung: runde Samthüte, Rubinohrringe, Brokatmäntel mit Goldspitzenbesatz. Die Pracht war natürlich gedacht, um bei den Investoren Eindruck zu schinden, die es schätzten, wenn ihre Kunden nach Wohlstand aussahen.

Eine Frau stand mit dem Rücken zu Lindsay und betrachtete sich die turmhaften Säulenbeine der Möbel. Die übrigen standen ruhig umher und tauschten harmlose, bedeutungslose Scherze mit Lindsays Equipe, einer gemischten Gruppe von Akademikern und Investorspezialisten, die vom Czarina-Kluster beurlaubt worden waren. Seine Erstfrau, Alexandrina, war dabei, und sie sprach gerade mit Constantine selbst. Sie tat es mit ihrem gewohnten wohlerzogenen aristokratischen Takt. Nichts wies darauf hin, daß alle diese Leute als Sekundanten eines Duells anwesend waren, als Zeugen, die für Fairneß sorgen sollten.

Es hatte eines zwei Jahre währenden zähen Ringens und langwieriger, delikater Unterhandlungen bedurft, um diese Begegnung zwischen ihm, Lindsay, und Constantine in die Wege zu leiten. Schließlich hatten sie sich auf das Sternenschiff der Investoren als angemessenes Austragungsfeld geeinigt, da hier ein Ort war, an dem sich Verrat und Hinterhältigkeit als kontraproduktiv erweisen mußten. Die »Arena« selbst hatten die Investoren ihrer eigenen Überwachung vorbehalten; die Nysa-Techniker hatten mit beiden Parteien frei zugänglichem Datenmaterial gearbeitet. Die Kosten wurden anteilig geregelt, wobei Constantine die Hauptlast der Finanzierung übernahm, allerdings mit einer Option auf eventuelle technologische Spinoffs. Lindsay hatte die Daten über eine Doppeltarnung im Czarina-Kluster und auf Dembowska zugespielt bekommen, um eventuelle Assassinen zu verwirren. Zu Constantines Ehren muß gesagt werden, daß er keine losgeschickt hatte.

Das Verfahren ihres Duells war überfrachtet von Schwierigkeiten. Ein immer zahlreicher werdender Kreis von Experten hatte die unterschiedlichsten Vorschläge diskutiert. Ein körperlicher Zweikampf wurde beinahe sofort als unter der Würde der entzweiten Freunde abgelehnt. Leute mit Kenntnissen des sozialen Gewichts, das Glücksspiel in der shaperischen Unterwelt besaß, plädierten für ein Würfel-Match mit der Verpflichtung zum Suizid als Einsatz. Doch eine derartige Anrufung des Zufalls, der Glückschancen, hätte die Gleichrangigkeit der Kontrahenten vorausgesetzt, und das einzuräumen waren beide Parteien nicht bereit.

Ein ehrenhaftes Duell, das diesen Namen verdiente, sollte den unbestrittenen Sieg des besseren Mannes garantieren. Es erhob sich der Einwand, daß dafür Tests bezüglich Geschick, Wachheit, Willenskraft und geistiger Flexibilität vonnöten sein würden, jener Eigenschaften also, die im modernen Leben von zentraler Bedeutung sind. Objektive Tests waren zwar möglich, aber es würde sehr schwierig sein zu verhindern, daß nicht eine der Parteien vorzeitig Anstalten unternahm, Einfluß auf die Juroren auszuüben. Innerhalb der Drahtschädel-Gesellschaft existierten zwar zahlreiche Spielarten direkter Hirn-gegen-Hirn-Kämpfe, doch dauerte so etwas oftmals jahrzehntelang und erforderte eine grundlegende Veränderung der Fakultäten der Kontrahenten. Also beschloß man, den Rat der Investoren einzuholen.

Anfangs fiel es den Investoren etwas schwer, das Konzept überhaupt zu verstehen. Später schlugen sie - typisch für sie - einen Wirtschaftskampf vor, bei dem beiden Parteien ein Gewinnanteil garantiert war, aber eine die Möglichkeit hatte, diesen zu vergrößern. Nach einer Terminfrist sollte dann der ärmere der Kontrahenten exekutiert werden.

Auch dies war nicht befriedigend. Ein anderer Vorschlag der Investoren ging dahin, daß beide Parteien versuchen sollten, »die Literatur der (Begriff unübersetzbar)« zu lesen, doch man kam überein, daß der Überlebende möglicherweise Bruchstücke des Gelesenen wiederholen und somit zu einem Sicherheitsrisiko für die restliche Menschheit werden könnte. Als man an diesem Punkt angelangt war, hatte irgendwer in einer der mit Beute vollgestopften Kargodecks eines im zirkumsolaren Raum sich aufhaltenden Investorenschiffs die »Arena« wiederentdeckt.

Bei der Erforschung zeigte sich rasch, welche Vorteile diese Arena bot. Außerirdische Erfahrungen stellten selbst für die besten Stützen der Gesellschaft eine starke Herausforderung dar: nämlich für die Abgesandten in die Fremdwelten. Die extrem hohe Ausfallquote innerhalb dieser Sozialgruppe bewies an sich bereits, daß die »Arena« als solche eine einzigartige Testchance bot. Also sollten nunmehr die Duellanten in der arenalen Simulationsumwelt in zwei Fremdkörpern von garantierter Gleichrangigkeit miteinander kämpfen, wodurch gesichert sein würde, daß der Sieg an den überlegenen Kampfstrategen fallen würde.

Constantine stand unter einem der turmhohen Tische und süffelte aus einem Autokühlbecher Aqua destillata. Wie seine prunkvoll geschmacklos gekleideten Congeneten trug er geschmeidig anliegende Höschen mit Spitzenbesatz und einen golddraht- durchwirkten Jackenmantel, an dessen hochgestelltem Kragen sämtliche seiner Ranginsignien prunkten. Die runden empfindlichen Augen schimmerten hinter den weichen Antiglastlinsen schwärzlich. Wie Lindsays Gesicht war auch das seine knitterfaltig, wo die jahrelange gleichbleibende Mimik sich bis in die Muskulatur hinabgegraben hatte. Lindsay trug einen schwarzbraunen Turnanzug ohne Abzeichen. Das Gesicht hatte er gegen den weißblauen Glast geölt, und er trug dunkle Sonnenblenden.

Er durchquerte die Halle und trat vor Constantine. Stille breitete sich aus, doch Constantine machte eine weltgewandt höfliche Geste, und seine Congeneten griffen die Gespräche wieder auf, wo sie sie zuvor abgebrochen hatten.

»Hallo, Cousin«, sagte Constantine.

Lindsay nickte nur. »Eine hübsche Schar von Congeneten, Philip. Ich beglückwünsche dich zu deinen Halblingen.«

»Gutes gesundes Zuchtmaterial«, gab Constantine zu. »Und sie kommen auch mit der Schwerkraft gut zurecht.« Er schaute betont zu Lindsays Frau hinüber, die sich taktvoll auf eine andere Personengruppe zubewegt hatte, wobei die Schmerzen in ihren Kniegelenken unübersehbar geworden waren.

»Ich habe mich ziemlich ausgiebig mit Genpolitik befaßt«, sagte Lindsay. »Im Rückblick erscheint mir das Ganze wie ein Fetisch der Aristokraten.«

Constantines Lider über den dunklen Adhäsionslinsen zogen sich schmal zusammen. »Etwas mehr Bemühungen um den Mavrides-Fortpflanzungszyklus wäre durchaus am Platz gewesen.«

Lindsay fühlte eisige Wut in sich heraufwallen. »Sie sind ihrer Treue zum Opfer gefallen.«

Constantine seufzte. »Ja, auch mir ist diese Ironie nicht entgangen, Abélard. Und wenn du vor vielen Jahren deinen feierlichen Schwur Vera Kelland gegenüber gehalten hättest, wäre keine dieser perversen Aberrationen eingetreten.«

»Aberrationen?« Lindsay lächelte eisig. »Wie anständig von dir, Cousin, daß du hinter mir saubergemacht hast. Die losen Enden so säuberlich verschnürtest.«

»Nicht weiter erstaunlich, nachdem du dermaßen viel hochverderbliches Zeug hinterlassen hast.« Constantine saugte an seinem Wasser. »Die Beschwichtigungspolitik beispielsweise. Die Detente. Es war typisch für dich, das Volk mit Redeschwällen in die Katastrophe hineinzuschwatzen und dann, als alles zusammenkrachte, dich hübsch als Sundog abzusetzen.«

Lindsay ließ sein Interesse erkennen. »Lautet so die allerneueste Parteilinie? Gebt ihr mir die Schuld am Investor-Frieden? Wie außerordentlich schmeichelhaft. Aber ist es wirklich sehr klug, die Vergangenheit wieder auszugraben? Warum willst du denn die Leute daran erinnern, daß du ihnen die Republik verspielt hast?«

Constantines Fingerknöchel wurden weiß um den Becher. »Ich merke, du bist noch immer Antiquarianer. Wie seltsam aber dann, daß du Wellspring und seine Anarcho-Kader in die Arme schließen möchtest.«

Lindsay nickte. »Es ist mir klar, daß du Czarina-Kluster angreifen willst, wenn sich dir eine Chance bietet. Das Ausmaß deiner scheinheiligen Verlogenheit bestürzt mich wirklich. Du bist kein Shaper. Du bist nicht nur ein Ungeplanter, sondern auch notorisch bekannt für den unbedenklichen Einsatz von Mech-Techniken. Du bist ein lebendes Demonstrationsbeispiel für die Kraft und Stärke der Detente. Du suchst und packst dir jeglichen Vorteil, wo immer du ihn finden kannst, verwehrst aber allen andern das gleiche Recht.«

Constantine lächelte. »Ich bin kein Shaper. Ich bin ihr Hüter, ihr Beschützer. Das ist mir vom Schicksal bestimmt, und ich habe es auf mich genommen. Mein ganzes Leben lang war ich allein und einsam - außer damals mit euch, mit dir und Vera. Und damals waren wir alle drei Narren.«

»Der Narr war ich«, sagte Lindsay. »Ich ließ Vera für nichts sterben. Aber du, du hast sie getötet, um dir deine eigene Macht zu beweisen.«

»Das war ein bitterer Preis, aber der Beweis war es wert. Ich leiste seitdem Sühne.« Er leerte den Becher und streckte den Arm aus.

Vera Kelland nahm ihm das Gefäß ab. Um den Hals trug sie das Medaillon aus Goldfiligran, das sie bei ihrem Absturz umgehabt hatte, das Medaillon, das Lindsay den sicheren Tod bescheren sollte.

Er war völlig betäubt. Da sie ihm vorher den Rücken zugekehrt hatte, hatte er das Gesicht der jungen Frau nicht gesehen.

Sie ließ sich nicht von seinem Blick einfangen.

Lindsay starrte sie eiskalt und fasziniert an. Die Ähnlichkeit war stark, jedoch nicht vollkommen. Das Mädchen wandte sich um und verschwand. Lindsay rang sich die Worte ab: »Sie ist kein reiner Klon.«

»Aber natürlich nicht. Vera Kelland war eine Ungeplante.«

»Du hast ihr Genmaterial benutzt.«

»Höre ich da sowas wie Neid, Cousin? Willst du behaupten, ihre Zellen hätten dich geliebt - und nicht mich?« Constantine lachte.

Lindsay riß den Blick gewaltsam von der Stelle, wo die Frau verschwunden war. Ihre Schönheit, die Grazie der Bewegungen hatten ihn verletzt. Er war, wie nach einer Explosion, in Schock und von Panik erfaßt. »Aber was wird aus ihr, wenn du hier stirbst?«

Constantine lächelte fein. »Warum brütest du nicht darüber nach, während wir kämpfen?«

»Ich werde dir ein feierliches Versprechen geben«, sagte Lindsay. »Ich schwöre, daß ich, sollte ich Sieger bleiben, in den kommenden Jahren deine Congeneten verschonen will.«

»Meine Leute sind treue loyale Bürger des Ring Council. Der Abschaum deines Czarina-Kluster sind ihre Feinde. Sie werden zwangsläufig in Konflikt geraten müssen.«

»Ja, aber das wird wohl brutal genug sein, ohne daß wir beide es auch noch fördern müßten.«

»Du bist wirklich naiv, Abélard. Czarina-Kluster muß untergehen.«

Lindsay ließ den Blick zur Seite schweifen und musterte die Gruppe Constantines. »Die sehen doch gar nicht so blöd aus, Philip! Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht mitjubeln, wenn du tot bist. Die allgemeine Begeisterung könnte sie ja vielleicht mitreißen.«

»Unfundierte Spekulationen haben mich schon immer angeödet«, sagte Constantine.

Lindsay funkelte ihn an. »Schön, dann ist es Zeit, daß wir die Sache endgültig austragen.«

Schwere Vorhänge wurden über einen der gewaltigen Tische gebreitet, so daß sie bis auf den Boden fielen. Unter dem weiten Schutzdach des Tisches war das grelle Investorlicht gedämpfter, und es wurden zwei Wasserbetten als Bodenunterlage herbeigeschafft, um der Investor-Schwerkraft entgegenzuwirken.

Die »Arena« selbst war winzig, ein faustgroßer Dodekaeder, dessen Dreieckflächen dermaßen glitzerschwarz waren, daß sie in schwachen Pastelltönen schimmerten. Von Metallnoppen an zwei gegengelagerten Polen der Struktur führten Drähte weg - zu zwei mit Blendschutzbrillen versehenen Helmen mit schmiegsamen Nackenverlängerungen. Die Helme wirkten so schmucklos utilitaristisch wie alle mechanistischen Produkte.

Constantine gewann die Seitenwahl und nahm sich den Helm rechts. Er zog aus seinem goldschnurbesetzten Langrock ein flaches gebogenes Rhomboid aus beigem Plastik und hakte in dessen Halterungsschlaufen einen Elastostraps. »Ein Spatialanalysator«, erklärte er. »Eine meiner Routine-Geschichten. Zugestanden?«

»Klar.« Lindsay zog aus seiner Brusttasche einen fleischfarbenen Streifen mit punktebesetzten Adhäsivscheiben. »PDKL-fünfundneunzig«, sagte er. »Dosiert aufje zweihundert Mikrogramm.«

Constantine glotzte. »Shatter! Von den Kataklysmatikern?«

»Nein«, sagte Lindsay. »Das stammt aus dem Vorrat von Michael Carnassus. Ganz echte Mechano-Originalware - für die Gesandtschaften. Interesse?«

»Nein«, sagte Constantine. Er wirkte bestürzt. »Ich lege Einspruch ein. Ich bin hierher gekommen, um gegen Abélard Lindsay zu kämpfen, nicht gegen eine zershatterte Persönlichkeit!«

»Aber das spielt doch jetzt kaum noch eine Rolle, oder? Hier geht es doch bis auf den Tod, Constantine. Und meine Menschlichkeit, die würde dabei doch eher nur im Wege sein.«

Constantine zuckte die Achseln. »Nun, dann gewinne ich eben, egal wie.«

Constantine legte den Spatialanalysator an und schmiegte sich die maßgeschneiderten Rundungen um den Hinterkopf. Die Mikrokrampen glitten geschmeidig in die Stecklöcher, die mit seiner rechten Hirnhemisphäre verbunden waren. Mit Hilfe der Apparatur gewann der Raum eine phantastische Festigkeit, und jede noch so winzige Bewegung würde sich in übermenschlicher Klarheit abzeichnen. Constantine hob den Helm und streifte dabei mit einem flüchtigen Blick seinen Ärmel. Lindsay sah, wie er zögerte, sah, wie er die komplizierte Wirkstruktur des Stoffs betrachtete. Sie schien ihn zu faszinieren. Dann zuckte er kurz schaudernd zusammen und schlüpfte in seinen Helm.

Lindsay preßte die erste Dosis gegen sein Handgelenk und setzte sich das Kopfstück auf. Er spürte, wie die Adhäsivschalen sich in die Augenhalterungen saugten, dann folgte ein dumpfer Schwall, während die Lokalanästhetika zu wirken begannen und Strähnen erstarrten Biogels über seine Augäpfel glitten, um bis in die Sehnervenbündel vorzudringen. Er hörte ein blasses sich auflösendes Singen, als weitere Fasern sich an seinen Trommelfellen vorbeiwanden und den vorbestimmten chemotaktischen Anschluß mit seinen Neuronen ertasteten.

Dann legten sich die beiden Kämpfer auf ihren Wasserbetten zurück und warteten, bis die Rückhalseinheiten ihrer Helme durch die vorgebohrten Mikrokanälchen im siebten Zervikalwirbel eingesickert waren. Die Mikrofäserchen breiteten sich ganz harmlos, und ohne Schaden anzurichten, durch die Myelinkammerhüllen der Zerebrospinalzellen und bauten ein sich selbst vermehrendes Gelatingewebe auf.

Lindsay schwamm ganz gelassen auf seinem Wasserbett. Das PDKL begann zu wirken. Während das spinale Cut-off weiter fortschritt, hatte er das Gefühl, als löse sich sein Leib auf wie heißes Wachs: Jeder Sinnesknotenpunkt in den Muskeln strahlte ein letztes warmes Glühen aus, ehe der Nackenwirbelblocker das abschottete, ein allerletztes zitterndes Empfinden von Menschhaftigkeit, zu schwach, als daß man es als schmerzhaft hätte bezeichnen dürfen. »Shatter« half ihm zu vergessen. Indem das Präparat alles in völlige Neuheit verwandelte, zielte es doch darauf ab, allem den Charakter der Neuheit zu rauben. Zwar brach es vorgefaßte Klischeevorstellungen auf, doch es steigerte auch zugleich die Begriffs - potentiale auf derart drastische Weise, daß aus einem einzigen kurzen Moment der Einsicht ganze geschlossene intuitive Philosophiesysteme heraufbrodelten.

Es war dunkel. Im Mund den Geschmack wie von Spinnweben. Ein flüchtiges Gefühl von schwindelartigem Entsetzen, ehe Shatter das wieder abstieß und er sich plötzlich als Gestrandeter in einem emotionalen Niemandsland wiederfand, wo sich seine Furcht absurderweise zu einem zermalmenden Sinneseindruck von körperlicher Schwere verwandelte.

Er kauerte nahe dem Fuß einer titanenmächtigen Mauer. Vor ihm lohten trübstrahlende Lichtfelder von einem kolossalen Bogen. Daneben vorstrebende Balustraden eisgrauen Steins, die in dünne Geflechte schlaff herabhängender staubbedeckter Kabel wie in ein Sargtuch gehüllt waren. Er streckte die Hand aus, um den Wall zu berühren, und merkte mit dumpfem Erstaunen, daß sein Arm sich in eine bleiche Kralle verwandelt hatte. Sein Arm besaß zwei Ellbogengelenke und war in einen fahlen Panzer gekleidet.

Er begann den Wall hinaufzukriechen. Die Schwerkraft begleitete ihn. Als er einen neuen perspektivischen Überblick riskierte, sah er, daß Brücken sich zu gekrümmten Säulen verwandelt hatten; Schlaufen durchhängender Kabel waren auf einmal zu lasterhaft strotzenden frechen Steilbögen geworden.

Alles war alt. Im Hintergrund seiner Augen tat sich etwas auf. Er konnte die Zeit sehen, die wie ein Schimmer über der Welt lag, ein verwaschenes erstarrtes Stückchen Bewegung, aus dem Zusammenhang herausgehackt und auf die Oberfläche des kalten Steins gemalt wie ein absurder fremdartiger Ölfirnis. Wände verwandelten sich zu Decken und Böden, Balustraden zu kalten Barrikaden. Dann begriff er, daß er ja viel zu viele Beine hatte. Da waren auf einmal Beine, wo eigentlich seine Rippen hätten sein müssen, und dieses Krabbelgefühl in seinem Bauch, das war ein echtes Krabbeln: Die Sinneswahrnehmungen seiner Eingeweide wurden in den Bewegungsmechanismus seines zweiten Extremitätenpaares übertragen.

Er räkelte sich, um einen Blick auf sich selbst zu gewinnen. Aber er konnte sich nicht nach vorn krümmen; sein Rücken allerdings bog sich mit phantastischer Geschmeidigkeit, und seine lidlosen Augen stierten auf die dicken Panzerplatten und den dichten intersegmentalen Pelz zwischen ihnen. Aus seinem Rücken stieß ein Paar schrumpeliger Organe auf Stengeln hervor: Er streifte mit dem Maul über sie, und plötzlich roch er zu seinem Erstaunen und ziemlich verwirrt: Gelb. Dann mühte er sich zu schreien. Aber da war nichts, womit er hätte schreien können.

Er schlug schlaff gegen den kalten Fels zurück. Instinkt gewann die Oberhand, und er huschte kopfüber quer über weite Strecken von porösem, körnigem Stein auf das sichere Dunkel einer gewaltigen vorstrebenden Brüstung und ein schachbrettartiges rostzerfressenes Stabgitter zu. Sein Gefühl für Proportion verlor sich, während er dort so kauerte, in einem gräßlichen Ausbruch von Intuition zappelnd, und er erkannte, daß er winzig war, infinitesimal klein, und daß die titanisch großen gemauerten Blöcke, vor denen er derart zwergisch wirkte, ihrerseits klein sein müßten, so klein, daß...

Er stieß mit einer harkenden Bewegung der gekrümmten Vorderkralle gegen den porösen Stein. Er war massiv, von der müden dauerhaften Festigkeit, die gefühllosen Äonen überstanden hatte, war gefärbt vom schwachen Staub gewaltiger ächzender Maschinenwerke, die den Punkt der Nutzlosigkeit erreicht und bis zur völligen Strukturerschöpfung überschritten hatten.

Er konnte das Alter riechen, es sogar als eine Art von Druck fühlen, als eine Art von Grauen. Es war massiv, unnachgiebig, und er dachte plötzlich an Wasser. Wasser, das sich mit so hoher Geschwindigkeit bewegt, daß es hart wie Stahl ist. Dann schoß sein Denken davon, und ihm fiel die Identität von Geschwindigkeit und Substanz ein, die kinetische Energie der Atome, die hartem Stein seine Form verleihen, dem Stein, der an sich leerer Raum war. Alles war abstrakte Struktur, alterslose Gestalt, Schicht um Schicht, von einer Ebene zur anderen - Leere, durchdrungen von Störungen der Leere, Wellen, Quanten. Er nahm feine Einzelheiten im Stein wahr, dessen Oberfläche auf einmal nichts weiter war als gefrorener Rauch, ein harscher Nebel, in gefangenen Äonen petrifiziert. Unterhalb der Oberfläche eine feinere Schicht, Bruchstück über aberwitzigem Bruchstück eines unendlich gedehnten Gewebes ...

Er wurde angegriffen. Der Feind war über ihm. Er spürte ein plötzliches gespenstisches Reißen, als Krallen sich von oben her in ihn bohrten; die fremdartige Pein durch die Übertragung verworren, verstopfte ihm das Hirn mit schwarzer Übelkeit und Entsetzen. Er zuckte in konvulsivisch tödlicher Verwundung, sein Gesicht brach in gespenstisch-alptraumhaften rasierklingenscharfen Mandibula auf, und er erwischte ein Bein und scherte es am Gelenk ab; er roch heißen Hunger und Schmerz und die strahlenheiße Helle seiner eigenen hervorbrechenden Säfte, und dann dieses Kalte, das Versickern, der helle Funke, der verglomm und eins wurde mit dem alten Stein und dem Alter und dem Dunkel...

Die Außenmikros seines Helmes fingen Constantines Stimme auf und speisten sie durch seine Nervenleitbahnen. »Abélard.«

Lindsays Kehle war voller Rost. »Ich höre dich.«

»Du lebst noch?«

Die Neuroblockade in seinem Genick löste sich zur Hälfte, und er fühlte seinen eigenen Körper, aber so wenig feststofflich wie ein warmes Gas. Er tastete nach dem Band mit den Dermadisks an seiner Hand: Das perforierte Plastik fühlte sich dünn an wie ein Band. Er puhlte mit den Fingern eine weitere Scheibe los und preßte sie grob gegen den Daumenballen. »Wir müssen es noch einmal versuchen.«

»Was hast du gesehen, Abélard? Ich muß es wissen.«

»Hallen. Mauern. Dunkle Steine.«

»Und Schluchten? Schwarze Abgründe aus Nichts, gewaltiger als Gott?«

»Ich kann nicht weiterreden.« Die zweite Dosis traf ihn, die Sprache fiel in sich zusammen, war ein Gewirr zusammenhangloser, bezugloser Mutmaßungen, zerschmettert von plötzlichem Zweifel, Stapel von Grammatik, die unter dem Aufprall der Droge sich zu Brei auflösten. »Noch mal!«

Er war zurück. Er konnte den Feind nun fühlen, seine Nähe wie ein schwaches fernes Kitzeln spüren. Das Licht war jetzt klarer, gigantische strahlende Ströme, die durch Gesteinsmassen sickerten, die so altersverrottet waren, daß sie wie schütterer Stoff wirkten.

Mäkelhaft fuhr er sich mit den Klauen über die um seinen Mund sitzenden Polypen und reinigte sie von feuchtem Schleim. Er spürte ein derart überwältigendes Hungergefühl, daß die Schalen ins Gleichgewicht gerieten und ihm klar wurde, daß der Drang zu leben und zu töten ebenso gewaltig war wie die Gewölbe um ihn herum.

Er fühlte den Feind in einem Cul-de-sac, einer Sackgasse, zwischen einer schrundigen verrottenden Brücke und deren Strebpfeilern kauern. Er konnte seine Furcht riechen.

Die Position des Feindes war falsch. Der Feind klammerte sich in falscher Perspektive an die Wand und nahm so den endlosen Horizont als bestürzenden Abgrund wahr. Die Schlucht unten war unendlich, ein Chaos von Wänden, Kammern, Landeplätzen, Galerien, sich selbst unentwegt fortsetzend, aus nichts gebaut, eine Entsetzen einflößende Verästelung der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit.

Er griff an, biß sich tief in die Rückenplatten, der Geschmack des heißen Sickersafts stachelte ihn zu wilder Wut an. Der Feind bog sich peitschend zurück, er grub, bohrte, stieß die bleichen Klauen scharrend gegen den Fels. Seine Mandibeln brachen vom Rücken des Feindes los. Der Feind kämpfte und wand sich, um ihn fortzustoßen, um ihn rücklings in den Horizont zu schieben. Augenblickslang hatte ihn die Feindperspektive überwältigt. Plötzlich wußte er, sollte er jetzt fallen, so würde er bis in alle Ewigkeit weiterstürzen. In den Abgrund taumeln, in sein eigenes panisches Entsetzen und die Niederlage, unendlich, durch das um sich selbst wirbelnde Labyrinth, das Bewußtsein erstarrt in schrankenlosen Ängsten, einem Dickicht nie aufhörender Erfahrung, niemals endender Furcht, unerbittliche Wände, Hallen, Stufen, Rampen, Verliese, Krypten, Gewölbe, Passagen, ewig vereist, ewig unerreichbar, ungreifbar.

Er rutschte zurück. Der Feind war jetzt verzweifelt; von Schmerzen gepeitscht, vollzog er konvulsivische Schabe- und Kratzbewegungen. Aber seine Krampen begannen abzugleiten. Der Stein stieß ihn zurück, er wurde glitschiger. Plötzlich geschah der Durchbruch, und er sah die Welt so, wie sie war. Seine Klauen glitten dann mit gespenstischer Leichtigkeit hinein, und der Stein wich wie Rauch beiseite.

Dann hatte er sich verankert. Der Feind stieß hilflos gegen ihn zurück, es nutzte ihm nichts. Er schmeckte den plötzlichen Ejakulationsstoß der Verzweiflung, und der Feind wandte sich zur Flucht.

Er holte ihn sofort wieder ein, packte ihn und zerfetzte ihn. Ein Giftschwall von Staub und Entsetzen entströmte heftig dem Fleisch des Feindes. Er zerrte ihn ganz von der Wand fort, hielt ihn in einem von Haß und Triumph gemischten Orgasmus hoch - und schleuderte ihn in den Abgrund.