6 .Kapitel
HANDELSSCHIFF DER INVESTOREN: 29-9-'53
Lindsay lag auf dem Boden seiner höhlenhaften Luxuskabine und atmete tief. Die ozongeschwängerte Luft im Investorschiff stach ihm in die Nase, die trotz der applizierten Schutzöle einen Sonnenbrand aufwies. Die Wände der Kabine bestanden aus geschwärztem Metall, aus dem knopfartige Armaturenöffnungen herausragten. Aus einer davon sprudelte ein Bächlein von Aqua destillata in der starken Schwerkraft in träger Kaskade herab.
Die Luxuskabine wies Anzeichen starker Abnutzung auf. Feine Kratzer überzogen wie Keilschrift den Boden und die Wände bis fast zur Deckenhöhe. Also waren die Humaniden nicht die einzigen Passagiere, die sich ein Ticket auf einem Investorschiff leisten konnten.
Sofern die moderne Exosoziologie der Shaper rechthatte, waren aber auch die Investoren selbst nicht die Ersteigner dieser Sternschiffe. Jedes der Schiffe prangte in großspurigen aufdringlichen Mosaiken und Basreliefs aus Metall, aber alle waren sie Unikate. Bei intensiver Analyse jedoch ließ sich eine zugrundeliegende Allgemeinstruktur erkennen: stumpfe Hexagonalformen an Bug und Heck mit sechs langgezogenen rechtwinkligen Seiten. Derzeit herrschte die Ansicht vor, daß die Investoren diese Schiffe entweder gekauft, gefunden oder gestohlen hätten.
Der Flaggenoffizier hatte ihm ein Lager bereitet, eine breite flache Matratze mit braunen und weißen Sechseckmustern, die allerdings für Investorenbequemlichkeit geplant war. Der Bezug war so rauh wie Segeltuch. Sie roch schwach nach dem investorischen Schuppenöl.
Lindsay hatte die Metallwandung seiner Luxuskabine geprüft, weil ihm die Kratzer ein Rätsel waren. Obgleich die Oberflächenstruktur leicht körnig war, waren die Stahlzipper seiner Fußbedeckung wie über Glas darauf ausgeglitten. Jedoch, vielleicht war das Material unter extremen Temperatur- oder Druckbedingungen weicher. Ein sehr großes klauenbewehrtes Tier beispielsweise, in einem Bad von Flüssigäther unter hohem Druck, hätte die Wände ankratzen können, bei dem Versuch, sich hinauszugraben.
Die Schwerkraft war schmerzhaft, doch immerhin hatte man die Beleuchtung in der Luxussuite gedämpft. Der Raum war riesig und unmöbliert; die an Magnethalterungen verteilten Kleidungsstücke Lindsays wirkten wie klägliche Lumpen.
Es war ungewöhnlich, daß die Investoren einen Raum derart kahl und uneingerichtet ließen, selbst wenn er gelegentlich Zootieren als Unterkunft diente. Lindsay lag ganz still und versuchte flach zu atmen, während er die Sache überdachte.
Die gepanzerte Lukentür dröhnte und öffnete sich dann knirschend. Lindsay stemmte sich auf seinem künstlichen Arm hoch, dem einzigen Glied an seinem Körper, das nicht von der Einwirkung der Schwerkraft schmerzte. Er fragte lächelnd: »Ja, Fähnrich? Was Neues?«
Der Mann trat herein. Für einen Flaggenoffizier war er klein, nur um die Länge eines Unterarms größer als Lindsay selbst, und der drahtige Körperbau wurde noch betont durch einen vogelhaften Tick, beständig den Kopf zu ducken. Er sah eigentlich mehr wie ein Gemeiner aus als wie ein Fähnrich. Prüfend betrachtete Lindsay sich den Mann genauer.
Die Gelehrten waren noch immer auf Spekulationen angewiesen, was die Rangordnung in der Gesellschaft der Investoren betraf. Schiffskapitäne waren generell weiblich, überhaupt die einzigen Frauen unter der Besatzung. Sie waren doppelt so groß wie die Gemeinen und von massivem Körperbau. Hand in Hand mit ihrer Größe gingen eine ruhige Trägheit und ein lakonisches Selbstverständnis ihrer Macht einher. Die Flaggenoffiziere waren die nächstniedrige Kommandostufe und dienten als Kombination von Diplomaten und Ministern. Der Rest der Mannschaft bildete einen hingebungsvoll andächtigen Männerharem. Die eifrig umherwuselnden Gemeinen mit ihren funkelnden Knopfaugen wogen dreimal soviel wie ein Mensch, aber in der Nähe ihrer monstergroßen Kommandantin sah es fast aus, als flatterten sie nur steißwedelnd umher.
Die Fransen stellten das wichtigste kinesische Ausdrucksmittel dar. Die reptilienhaften Investoren trugen lange bandartige Fransen unterhalb des Kopfes auf dem Rücken, durchsichtige, irisierende Hautlappen, von Blutgefäßen durchnetzt. Entwicklungsgeschichtlich waren diese Fransen zu besserer Temperaturkontrolle entstanden: Sie konnten gespreizt werden, um Sonnenlicht aufzunehmen, beziehungsweise, um im Schatten Hitze abzustrahlen. Im Leben der hochzivilisierten Investoren waren sie ein anachronistisches Relikt, ähnlich den Augenbrauen der Menschen, die ursprünglich den Schweiß der Stirn von den Augen ableiten sollten. Aber ähnlich wie bei den Augenbrauen waren die Anwendungsbereiche der Rückenlappen nun ausschließlich von rein sozial-kommunikativer Natur.
Der Fransenkamm des Fähnrichs störte Lindsay. Er flimmerte zu heftig. Rasches Flimmern wurde gewöhnlich als ein Anzeichen von Erheiterung gedeutet. Bei Humaniden aber galten unangenehme Lach-Kinesen als Symptom von schwerem Streß. Trotz seines beruflichen Interesses hatte Lindsay nicht das Verlangen, als erster Mensch Zeuge eines hysterischen Symptombildes bei einem Investor zu werden. Er hoffte vielmehr, es möge sich nur um eine Abwehrreaktion handeln. Dieses Schiff war völlig neu im Einsatz im Sonnensystem, und seine Besatzung an die Menschheit noch nicht gewöhnt.
»Keine Nachrichten, Künstler«, sagte der Fähnrich in gequältem Handelsenglisch. »Nur eine weitere Diskussion über Zahlungen.«
»Gesundes Geschäftsgebaren«, sagte Lindsay auf investorisch. Der Hals schmerzte bei dem hochfrequenzigen Flöten der Sprache, aber er zog das denn doch den gespenstischen Versuchen des Alien vor, menschliche Sprechweise zu meistern.
Dieser Flaggleutnant war verschieden von dem ersten, dem er begegnet war. Jener Investor war glatt und von zivilisierter Weitläufigkeit gewesen, und sein Wortschatz quoll über von den schleimigen Klischees, die er sich aus Videosendungen der Menschen angelernt hatte. Aber dieser neue Fähnrich hatte sichtlich zu kämpfen.
Offenbar hatten die Investoren ihre besten Leute geschickt, um den ersten Kontakt mit den Menschen herzustellen. Und nach siebenunddreißig Jahren betrachteten sie nun wohl das Sonnensystem als ungefährlich genug für ihre investorischen Randgruppen. »Unser Kommandant möchte dich auf Band haben«, sagte der Fähnrich auf englisch.
Lindsay griff automatisch nach der dünnen Kette um seinen Hals.
An der hing sein Videomonokel nebst der heißgeliebten Aufzeichnung von Nora. »Ich habe ein fast leeres Band, und das kann ich nicht weggeben. Aber ...«
»Unser Kommandant, sie liebt ihr Band sehr. Ihr Band hat viele andere Imagines, aber keine von eurer Spezies. Sie möchte sich genauer damit beschäftigen.«
»Ich hätte gern noch eine weitere Unterredung mit dem Kommandanten«, sagte Lindsay. »Die erste Begegnung mit ihr war so knapp Ich werde mich gern einer Aufzeichnung unterziehen. Hast du deine Kamera parat?«
Der Fähnrich blinzelte. Die leuchtende Nickhaut über dem dunklen vorgestülpten Augapfel zuckte nach oben. Die reduzierten Lichtverhältnisse im Raum schienen ihn zu verwirren. »Ich habe das Band.« Er öffnete den Rucksackkoffer und holte eine flache runde Dose hervor. Dann ergriff er den Kanister mit zwei riesigen Zehen und legte ihn auf den geschützstahlschwarzen Boden. »Du wirst Kanister aufmachen. Du wirst dann komisch-lustige und charakteristische Bewegungen ausführen, die für deine Spezies typisch sind, und das Band wird sie sehen. Fahre mit diesem solange dahin, bis das Band dich versteht.«
Lindsay wackelte in einer Imitation dessen, was bei Investoren als zustimmendes Nicken galt, mit dem Unterkiefer horizontal her und hin. Der Investor schien befriedigt zu sein. »Sprachliche Äußerung ist nicht erforderlich. Das Band hört keine akustischen Signale.« Er wandte sich zur Tür. »Ich werde in zwei eurer Stunden wiederkehren, um Band abzuholen.«
Wieder allein, betrachtete Lindsay die Cartouche eingehend. Der geriffelte, goldüberzogene Metalldeckel war so groß wie beide seiner ausgestreckten Hände. Aber ehe er das Ding öffnete, wartete er eine Weile und suhlte sich in seiner Angewidertheit. Dieser Ekel war ebenso stark gegen ihn selbst gerichtet wie gegen seine Gastgeber.
Die Investoren hatten nicht verlangt, daß man ihnen göttliche Ehren erweise; sie hatten weiter nichts beabsichtigt als ihren persönlichen Profit. Seit Jahrhunderten besaßen sie Kenntnis von der Existenz der Menschheit. Sie waren viel älter als die menschliche Rasse, doch hatten sie sich klugerweise nicht dazu hinreißen lassen, sich dort einzumischen, bevor sie nicht sicher waren, daß sich dort aus dieser Spezies ein anständiger Gewinn herausschlagen lassen werde. Vom Standpunkt eines Investors betrachtet, war ihr Verhalten geradlinig, offen und ehrlich.
Lindsay öffnete die Blechdose. Darin lag eine Spule mit eisengrauem Band mit einem zehn Zentimeter langen Einführstrip. Lindsay legte den Deckel beiseite (das dünne Blech war in der Investorschwerkraft schwer wie Blei) ... und dann erstarrte er.
Das Band bewegte sich raschelnd in der Kartouche. Der Leaderstreifen schnellte nach oben, drehte sich, und die ganze Bandlänge begann sich abzuspulen. Wogend und peitschend stieg das Band auf, bläßliche Farbschimmer tauchten willkürlich auf dem Streifen auf. Sekundenschnell hatte sich eine durchbrochene Wolke aus hellem Band gebildet, deren Stütze und Basis eine steife, halbabgeflachte Rabattenstruktur war.
Lindsay kniete noch immer da und bewegte einzig die Augen, beobachtete jedoch mit Vorsicht. Das weiße Endstück war der Kopf der Bandkreatur, das war ihm klar. Der Kopf bewegte sich über einer langen, weiten hochgereckten Schlaufe und suchte den Raum nach Fremdbewegung ab.
Das Bandgeschöpf war in beständiger ruheloser Bewegung und reckte sich und weitete sich zu einer in losen Schlingen sich korkenzieherhaft bewegenden unkonzentrierten Masse. An der lockersten Stelle glich es einem aufgeblähten torkelnden Garnknäuel von Mannsgröße, dessen versteifte Stützschlingen mit dünnem Zischeln über den Boden glitten.
Zunächst hatte er es für eine Maschine gehalten. Eine gefährliche Apparatur, denn die Kanten der sich verdrehenden Bandschlingen waren rasiermesserscharf. Jedoch diese Windungen hatten etwas Ungezieltes, eine organische Unbekümmertheit in ihrer Bewegung.
Lindsay hatte sich noch nicht bewegt. Das Ding schien ihn nicht sehen zu können.
Er warf heftig den Kopf herum, und die schweren Sonnenschutzbrillen flogen von seiner Stirn und segelten quer durch den Raum. Der Kopf des Bandes schoß sogleich hinter der Brille her. Mimikry setzte vom Schwanz her ein. Das Band schrumpfte, zerknitterte wie Packpapier, umrandete die Gestalt der Sonnenbrille fest mit zerknittertem Band. Doch noch ehe es den Prozeß ganz beendet hatte, schien das Band das Interesse daran zu verlieren. Es hielt inne, betrachtete die bewegungslos starre Sonnenbrille, und dann zerfiel es zu einer losen um sich peitschenden Masse.
Ganz kurz imitierte das Ding Lindsays hockende Gestalt und bauschte sich zu einer löcherdurchbrochenen mannsgroßen Skulptur aus raschelndem Band auf. Das farbige Band paßte sich blitzschnell der rostbraunen Färbung auf schwarzem Grund an, die seine Overalls aufwiesen. Dann lenkte der Bandkopf sein Interesse anderswohin, und das Ding zerspillte in Fetzen, wobei die Farben wie irre durch die Farbskala rasten.
Während Lindsay es beobachtete, flackerte es. Der weiße Kopf drehte sich langsam prüfend, beinahe verstohlen herum. Schlammiges Braun blinkte auf, die Farbe der Haut der Investoren. Allmählich ergriff ein Speicherbild im Gedächtnis die Oberhand, entweder ein biologischer oder ein kybernetischer Gedächtnisfundus wurde wirksam. Das Ding bündelte sich zusammen und kroch in eine neue Gestalt.
Die Form eines kleinen Investors bildete sich heraus. Lindsay spürte Erregung. Kein menschliches Wesen hatte je zuvor einen Investor im Kindesalter gesehen; angeblich waren sie eine große Seltenheit. Doch kurz darauf konnte er deduzieren, jedenfalls was die Proportionen betraf, daß das Band ein erwachsenes Weibchen herausmodellierte. Das Band war nicht umfangreich genug, um die Frau in ganzer Größe zu replizieren, aber die Exaktheit des kniehohen Modells verblüffte ihn. Aus winzigen Bläschen auf dem Band reproduzierte sich die feste knubbelige Haut des Schädels und im Genick; die winzigen Äuglein, zwei farbige Knubbel, schienen von einem starken Ausdruck erfüllt zu sein.
Lindsay spürte ein Frösteln. Denn er erkannte, wer dieses Individuum war. Und der Ausdruck des Geschöpfs verriet eine dumpfe tierhafte Qual.
Das Band lieferte nur eine Imitation der investorischen Schiffskommandantin. Sie keuchte. Die faßdaubenrunden Rippen wogten. Sie hockte verkrümmt da, je eine Klauenhand über die hochgestemmten Knie gespreizt. Der Mund klaffte spastisch und ließ schlechtimitierte Stiftzähne und die ausgehöhlten papierdünnen Wandungen des Schädels des Modells erkennen.
Der Kapitän des Schiffs war krank. Nie hatte jemand jemals einen Investor gesehen, der krank geworden wäre. Und weil dies dermaßen absonderlich war, dachte Lindsay, hat sich das wahrscheinlich im Gedächtniscode des Bandes festgehakt. Eine derartige Gelegenheit durfte man nicht verpassen. Eiskalt und langsam schnippte Lindsay seinen Coverall auf und legte das Videomonokel an seiner Kette frei. Er begann zu filmen.
Der schuppige Bauch spannte sich, und am Ansatz des wuchtigen Schwanzes des Modells öffneten sich zwei randdicht aneinanderstoßende Bänder. Eine weißliche runde Masse, die von einem Feuchtigkeitsschimmer überzogen war, trat aus, ein festumwickeltes längliches Bänderbündel, ein Ei.
Es war ein langwieriger und ein schmerzhafter Prozeß. Das Ei war lederartig; die Kontraktionen des Oviduktes preßten es zusammen. Endlich war es ausgetreten, allerdings noch immer mit dem gebärenden Körper des Bandes mittels eines durchsichtigen Schnürsenkels verknüpft. Die Imago des Investor-Kapitäns drehte sich herum, mühsam auf dem Boden scharrend, dann beugte sie das Gesicht und untersuchte das Ei mit krankhaft-hektischer Begeisterung. Langsam streckte sich die gewaltige Hand vor, fuhr schabend über das Ei, dann schnüffelte sie an den Fingern. Die Kammbänder an Kopf und Nacken füllten sich mit Blut und ragten steif nach oben. Die Arme bebten.
Sie griff ihr Ei an. Wütend biß sie in das dünnere Ende, zersäbelte mit den schlecht imitierten Zähnen die Lederhaut. Gelbes Band zeigte ein quarkähnliches Eidotter.
Sie fraß gierig, die Bänderarme waren dick von gelbem Modder bedeckt. Hinter ihrem Kopf ragte der Bänderkamm auf, steif vor wilder Wut. Die verdeckte Widerwärtigkeit ihres verbrecherischen Verhaltens ließ keine Fehlinterpretation zu; die Botschaft übersprang mühelos die Schranken zwischen unterschiedlichen Arten von Lebewesen verschiedener Genese. Genau wie Reichtum es tut.
Lindsay steckte sein Monokel weg. Von der Bewegung angezogen, löste das Band den Kopf aus dem Gewirr und richtete ihn scharf auf. Lindsay fuchtelte mit den Armen darauf zu, und das Modell zerfiel zu einem Gewirr von Bändersträngen. Lindsay stand auf und begann sich in dem starken Schwerefeld schlurfend herumzuschieben. Das Ding beobachtete ihn - sich ringelnd und flackernd.
DEMBOWSKA-KARTELL: 10-10-'53
Lindsay rutschte auf seinen glatten Füßlingen über die Zugangsrampe. Nach dem grellen Licht an Bord des Sternenschiffs wirkte die Ankunftsschneise trübe, als läge sie unter Wasser. Benommenheit überkam ihn. Mit Schwerelosigkeit wäre er fertig geworden, aber die schwache Anziehung des Dembowska-Asteroiden verursachte ihm Magenkrämpfe.
Die Halle wies kleine Grüppchen von Reisenden aus den anderen Mechanistenkartellen auf. Nie hatte er dermaßen viele Mechs an einem Ort gesehen, und ohne daß er dagegen hätte angehen können, erschreckte ihn dieser Anblick. Weiter vorn trieben Passagiere und Gepäck in die Fangschleusen und Scanner des Zolls. Dahinter ragten die Glasscheiben der Duty-free-shops Dembowskas auf.
Plötzlich fuhr Lindsay fröstelnd zusammen. Noch nie war ihm dermaßen kalt gewesen. Durch seinen dünnen Coverall und das flexible Material seiner Füßlinge stach ein eisiger Luftzug. Sein Atem dampfte. Verwirrt und benommen strebte er auf den Zoll zu.
Dicht davor wartete eine junge Frau, leicht auf einen gestiefelten Fuß gestützt, auf ihn. Sie trug dunkle Trikots unter einer Jacke mit Pelzkragen. »Captain-Doktor?« fragte sie.
Lindsay bremste sich mühsam ab, indem er die Zehen in den Teppich stemmte.
»Die Tasche, bitteschön?« Lindsay reichte ihr seinen alten Diplomatensack, der prall gefüllt war mit Daten, die aus den Kosmosity-Akten geklaut waren. Sie ergriff ihn freundschaftlich am Arm und führte ihn an den Zollscannern vorbei durch eine Tür ohne Aufschrift. »Ich bin Polizeifrau Greta Beatty. Deine V-Frau.« Sie stiegen eine Treppe zu einem Büro hinab. Sie händigte die Tasche einer uniformierten Frau aus und nahm dafür ein gestempeltes Kuvert entgegen.
Danach geleitete sie Lindsay in eine tiefere Etage der Duty-free-Passage. Dabei riß sie mit ihren lackierten Nägeln den Umschlag auf. »Hier sind deine neuen Papiere«, sagte sie. Sie reichte ihm eine Kreditkarte. »Du bist von jetzt an der Auditor Andrew Bela Milosz. Willkommen im Dembowska-Kartell.«
»Danke, Polizeifrau.«
»Greta genügt. Darf ich dich Andrew nennen?«
»Ach, nenn mich lieber Bela«, sagte Lindsay. »Wer hat sich den Namen ausgedacht?«
»Seine Eltern. Andrew Milosz verstarb vor kurzem, im BettinaKartell. Aber du suchst ihn vergeblich im Sterberegister; seine nächsten Angehörigen haben seine Identität an die Haremspolizei von Dembowska verkauft. Sämtliche Identifikationsmerkmale in seiner Akte wurden getilgt und durch die deinen ersetzt. Offiziell ist er von hier aus in die Emigration gegangen.« Sie lächelte. »Und ich bin beauftragt, dir den Übertritt zu erleichtern. Und dich bei guter Laune zu halten.«
»Mir ist scheußlich kalt«, sagte Lindsay.
»Da werden wir sofort Abhilfe schaffen.« Sie führte ihn vorbei an dem rauhreifbezogenen Glas in einen der Duty-free-Shops, einen Kleiderladen. Als sie wieder herauskamen, trug Lindsay neue Coveralls aus einem dichteren gesteppten Material mit eingesetzten vertikalen Puffen an den Hand- und Fußgelenken. Das geschmackvolle Kohlschwarz und Grau paßte gut zu seinen neuen pelzgefütterten Velcrostiefeln. An einem Clip der Brusttasche seiner bauschigen Flaumplastikjacke hing ein Paar Handschuhe. An einem sahnegelben Jackenaufschlag prangte ein Knopfmikrofon.
»Jetzt deine Haare«, sagte Greta Beatty. Sie schleppte seinen neuen mit Reißverschluß versehenen Garderobesack. »Die sind in einem scheußlichen Zustand.«
»Sie waren grau«, sagte Lindsay. »Die Wurzeln sind schwarz nachgewachsen. Also hab ich mir den Schädel geschoren. Seitdem hat sich keiner mehr damit befaßt.« Er blickte ihr fest ins Gesicht.
»Du möchtest den Bart beibehalten?«
»Ja.«
»Wir erlauben alles, was dich glücklich macht.«
Zehn Minuten nach der Behandlung seitens des Stylisten waren Lindsays Haare von Stirn und Schläfen in glitschig-glatten brillantineglänzenden Wellen zurück gebürstet, und der Bart war gestutzt.
Lindsay hatte die Kinesis seiner Begleitung studiert. Ihre Bewegungen zeigten eine Gelassenheit und Ruhe, die im Widerspruch zu ihrer Jugend standen. Lindsay selbst war angespannt, hypersensitiv, doch Gretas geläufige geschmeidige Fröhlichkeit begann ihn durch eine Art kinetischer Ansteckung zu beeinflussen. Er merkte auf einmal, daß er unwillkürlich lächelte.
»Schon ein bißchen Hunger?«
»Doch, ja.«
»Dann gehen wir ins Periskop. Du siehst gut aus, Bela. Mit der Schwerkraft hier wirst du bald keine Schwierigkeiten mehr haben. Bleib einfach in meiner Nähe.« Sie schlang den Arm in seine Prothese. »Mir gefällt dein antiker Arm.«
»Also bleibst du bei mir?«
»Solange es dir angenehm ist ...«
»Aha. Verstehe. Und wenn ich möchte, daß du mich allein und in Ruhe läßt?«
»Glaubst du im Ernst, das wäre günstiger für dich?«
Lindsay erwog das. »Nein. Verzeih mir, Polizeifrau.« Er fühlte sich irritiert und war irgendwie verärgert, ohne genau zu wissen, weswegen. Seine neue Identität störte ihn. Noch nie vorher hatte man ihm so etwas aufgezwungen. Sein altes Basistraining drängte ihn, sich per Mimikry dem Lokalkolorit anzupassen, aber die langen Jahre seines Lebens hatten ihn etwas verkalken lassen.
Greta eskortierte ihn über zwei Steigbügelstufenfluchten tiefer in den Asteroiden hinab. Boden und Wände waren aus schrundigem hochbetagten Metall mit frischen Velcro-Überzügen. Der Verkehr erfolgte in stetigen schwerfälligen Rucken vorwärts. Bürger, die es besonders eilig hatten, schwangen sich über ihren Köpfen an Deckenhalterungen vorwärts. Lindsay und seine Beschützerin zockelten hinter einem sehr alten Dembowskaner her, der gemächlich in einem velcrobereiften Invalidenstuhl dahinwackelte. »Und jetzt werden wir einen kleinen Happen essen«, sagte Greta Beatty. »Dann geht es dir gleich besser.«
Er dachte daran, ihre Kinesisabläufe zu parodieren. Er war zwar ein wenig eingerostet, glaubte aber, er würde es schon durchziehen können. Vielleicht wäre es der geschickteste Schachzug, wenn er der geschmeidigen Geläufigkeit der Person auf gleiche Weise begegnete. Eigentlich hatte er dazu keine Lust. Ihm tat alles weh.
»Greta, mich überrascht deine selbstverständliche Großzügigkeit. Warum machst du das?«
»Als Polizeifrau, meinst du? Ach, im Anfang hatte ich überhaupt nichts mit der Sicherheit zu tun. Ich war ein Carnassus-Weibchen, eine rein erotische Bezugsfunktion. Die Beförderung kam später.
Nein, ich habe nichts mit Spionage zu tun. Meine Aufgaben sind ganz einfach Verbindungsarbeit.«
»Gab es da viele vor mir?«
»Ach, ein paar. Meistens Sundogs. Keine hochrangigeren ShaperAkademiker.«
»Aber du hast Michael Carnassus kennengelernt?«
Sie lächelte verloren. »Nur im Fleisch. Wir sind gleich da. Die Harem-Polizei hat immer Tische reserviert. Du wirst einen Fensterplatz bevorzugen, da bin ich sicher.«
Die gedämpfte Atmosphäre im »Periskop« wirkte auf Lindsays von grellen Lichtbomben geschockte Augen als unglaublich düster und bedrückend. Von den Speisen auf den Tischen stieg Dampf auf. Er zog sich den linken Handschuh über. Nirgendwo vorher war er an einem dermaßen kalten Ort gewesen.
Durch die gewölbten konkaven Fenster strömte kühles blaues Licht. Bei einem flüchtigen Blick durch das Metaglas erblickte Lindsay eine felsige, halb mit Wasser gefüllte Höhle. An deren Decke hing eine hausgroße Observationsblase. Daneben eine Batterie blauer Spotlights, die über die Decke verteilt auf Gleitbögen montiert waren. Lindsay schob seine Stiefelsohlen in die Bügel eines g-reduzierten Hockers. Die Sitzfläche unter ihm erwärmte sich; offenbar war der Polstersattel mit Heizelementen ausgerüstet.
Von der anderen Tischseite her lächelte ihm Greta zu. Die blauen Augen wirkten in dem Dämmerlicht riesiggroß. Das Lächeln war freundlich, ohne weibliches kokettes Flirten; ja, genau betrachtet, ganz ohne irgendwelche unterkrustige, unterschwellige Verhaltenselemente. Weder Furcht noch Schüchternheit; nur die wohldosierte Andeutung einer milden wohlwollenden Sympathie. Die blonden Haare waren in der Schädelmitte gescheitelt und fielen in dembowskanisch-modischen weichen Wellen stumpfgeschnitten über die Ohren und Wangenknochen. Ihre Haare sahen sehr frischgewaschen und sauber aus. Lindsay spürte ein leises Verlangen, mit den Fingern durch sie hindurchzustreichen, so wie man etwa mit dem Finger über den Rücken eines Buches streift.
Auf der dunklen Tischfläche erschien in feurigen Lettern die Speisekarte. Lindsay legte die handschuhbewehrte Hand auf den Tisch. Die Oberfläche war klebrig von Adhäsivpolymeren. Lindsay zog seine Finger zurück; zunächst hafteten sie an der klebrigen Fläche, dann war er mit einem scharfen Ruck frei. Es blieb keine Spur zurück. Er schaute auf die Menuangaben. »Keine Preise?«
»Die Haremspolizei wird sich darum kümmern. Es liegt uns daran, daß du mir ja keinen schlechten Eindruck von unserer Eßkultur bekommst.« Sie deutete mit dem Kinn durch das Restaurant. »Der Herr am Tisch rechts von dir, der mit dem Biopanzerhemd ... das ist Lewis Martinez nebst Frau Lydia. Er steht an der Spitze der Martinez Corporation, und sein Rang ist Rechnungsprüfer. Von ihr sagt man, sie ist angeblich auf der Erde geboren.«
»Dafür sieht sie aber guterhalten aus.« Lindsay starrte mit unverhohlener Neugier das obskure Pärchen an, dessen Talente als Industriespione in shaperischen Sicherheitskreisen ein Standardwitz waren. Während sie auf den nächsten Gang warteten, unterhielten sie sich leise und lächelten einander oft und ganz unverhohlen liebevoll zu. Lindsay verspürte einen schmerzhaften Stich.
Greta redete munter weiter. »Der Mann mit dem Servo-Tafelaufsatz ist der Koordinator Brandt ... Die Gruppe in der nächsten Fensternische sind Leute von Kabuki Intrasolar. Und der Typ in der albernen Jacke ist Wells ...«
»Speist Ryumin manchmal hier?«
»Oh ... Nein.« Sie lächelte flüchtig. »Er ergießt sich mit seiner Weisheit in anderen Kreisen.«
Lindsay rieb sich das bärtige Kinn. »Aber es geht ihm doch hoffentlich gut.«
Sie wich höflich aus. »Das kann ich nicht beurteilen. Es hat den Anschein, daß er glücklich ist. Darf ich für dich bestellen.« Sie tastete auf dem seitlich am Tisch angebrachten Keyboard die Ziffern ein.
»Wieso ist es hier so kalt?«
»Historisch bedingt. Mode. Dembowska ist eine alte Kolonie. Es hat einen Ökozusammenbruch gegeben. Es gibt hier noch Plätze, die ich dir zeigen könnte, an denen sich immer noch der blitzgefrorene Schimmel von den Wänden schält. Die übelsten Fäulnisarten haben sich einer geringen Temperaturschwankung angepaßt. Und wenn es so kalt ist wie jetzt, bleiben sie latent und inaktiv. Aber das ist nicht der einzige Grund.« Sie deutete auf das Fenster. »Auch das spielt dabei eine wichtige Rolle.«
Lindsay blickte hinaus. »Was, das Schwimmbecken da?«
Greta lachte höflich mit. »Das ist unser Extraterrarium, Bela.«
»Ja, da brenn mir doch einer gleich...!« Er starrte hinaus.
In der grob ausgehauenen Höhlung schwappte bis obenhin eine träge eisenrostfarbene Flüssigkeit. Anfangs hatte er es für Wasser gehalten. »Da drin halten sie ihre Ungeheuer«, sagte er. »Und diese Observationsblase - das ist der Carnassus-Palast, stimmt es?«
»Ja, aber natürlich.«
»Eigentlich ist er ja ziemlich klein.«
»Es handelt sich um eine exakte Nachbildung des Observatoriums der Chaikin-Expedition. Selbstverständlich ist es nicht großräumig. Bedenke doch nur, was die Investoren für Gebühren verlangt haben, um das zu den Sternen zu transportieren. Carnassus hat einen sehr bescheidenen Lebensmodus, Bela. Ganz und gar nicht das, was der Ring-Sicherheitsdienst dir gesagt hat.«
Jede Faser seines Diplomateninstinkts wollte Lindsay bremsen. Und es kostete ihn einige Mühe, sich darüber hinwegzusetzen. »Aber er hat doch zweihundert Eheweiber.«
»Schau mal, Auditor, sieh uns doch einfach nur als sowas wie ein psychiatrisches Klinikpersonal. Die Vermählung mit Carnassus ist ein Arrangement des Sozialstatus. Dembowska ist auf ihn angewiesen, und er braucht uns.«
Lindsay fragte: »Ob ich Carnassus mal vorgestellt werden könnte?«
»Darüber müßte die Polizeichefin entscheiden. Aber wozu sollte das gut sein? Der Mann kann kaum sprechen. Es ist nicht so, wie man in den Ringen behauptet. Carnassus ist ein sehr verwirrter, sehr sanftmütiger Typ, dem man schwere Verletzungen zugefügt hat. Als seine Embassade erfolglos blieb, nahm er eine noch ungesicherte Droge ein. PDKL-95. Die sollte ihn halbwegs in die Lage versetzen, fremde Gedanken und Denkprozesse zu begreifen, aber es hat ihn nur zerstört. Er war ein tapferer Mann. Wir fühlen tiefe Sympathie für ihn. Der sexuelle Aspekt spielt dabei eine wirklich sehr untergeordnete Rolle.«
Lindsay überdachte das. »Hm, ich verstehe. Bei zweihundert Mitbewerberinnen, und manche sicherlich Favoritinnen, kommt ja eine Kandidatin nur selten in die Verlegenheit ... Einmal im Jahr vielleicht?«
Greta blieb ganz ruhig. »Ganz so selten denn doch nicht, aber du hast das Grundsätzliche anscheinend begriffen. Ich will keineswegs die Wahrheit verschleiern, Bela. Carnassus ist nicht unser Beherrscher; er ist der Ursprung unseres Lebens. Der Harem beherrscht Dembowska, weil wir um Carnassus aufgebaut sind, und wir sind die einzigen, mit denen zu sprechen er sich herabläßt.« Wieder lächelte sie. »Und, nein, wir haben hier kein Matriarchat. Wir sind keine Mütter. Wir sind die Polizei.«
Lindsay blickte durch das Fenster. Ein Tropfen fiel und bewirkte einen Kreisel. Es war flüssiges Äthan. Dicht hinter dem thermoisolierten Metaglas schwappte der nördliche Pfuhl, der sofort den Tod bedeutet hätte mit seinen 180 Grad Celsius unter Null. In diesem rötlichen Tümpel würde man in Sekundenschnelle zu einer aufgequollenen starren Masse gefrieren. Und plötzlich wurde es Lindsay klar, daß die grauweißen Gesteinsmassen am Ufer des Tümpels zu Eis erstarrtes Wasser waren.
Etwas tauchte auf und strebte dem Ufer zu. In dem trüben bläulichen Äthanlicht durchstieß ein Etwas die Oberfläche, das aussah wie ein sperriges Gestrüpp zerknickter Zweige. Die Bewegungen der Kreatur waren sogar in der schwachen G-Kraft des Asteroiden von glazialer Trägheit. Lindsay wies mit dem Finger darauf.
»Das ist ein Meeresskorpion«, sagte Greta. »Ein Eurypteroid{8}, um ihm seinen korrekten zoologischen Namen zu geben. Er geht den Klumpen da am Strand an. Der schwärzliche Schlick - das ist vegetativ.« Ein weiteres Stück des Beutejägers glitt mit der Langsamkeit eines Paralytikers aus der dünnen Flüssigkeit. Das Gezweig enthüllte sich nun als korbartige verzahnte Vorderpranken, die ineinanderfuhren wie die Zähne eines Sägeblatts. »Die Beute sammelt Kraft, um zu springen. Das wird ein Weilchen dauern. Nach dem Maßstab des hiesigen Ökosystems handelt es sich um eine Blitzattacke. Aber schau dir nur das Ausmaß des Kephalothorax{9} von dem Biest an, Bela.«
Der Meeresskorpion hatte das breite schildförmige Prosoma{10} aus dem Wasser geschoben; der krebsgestaltige Kopfleib war einen halben Meter breit. Hinter den rhomboiden Facettenaugen folgte der lange sich verjüngende Hinterleib des Tieres, der in einem Panzer von überlappenden Querringen steckte. »Es ist drei Meter lang«, sagte Greta, als der Servorobot den ersten Gang auftischte. »Viel länger, wenn du den Schwanzstachel mitrechnest. Eine ganz nette Größe für einen Invertebraten, so ganz ohne Rückenwirbel. Iß doch ein bißchen Suppe.«
»Ich muß mir das anschauen.« Die vorgestreckten Klauen schlossen sich um die Beute mit der gemächlichen Bestimmtheit einer hydraulischen Tür. Plötzlich peitschte das erbeutete Geschöpf quallig in die Luft und landete spritzend im Tümpel.
»Das springt aber schnell!« sagte Lindsay.
»Wenn man springt, gibt es nur ein Tempo.« Greta Beatty lächelte. »Ein physikalisches Prinzip. Iß mal ein bißchen. Da, nimm eine Baguette!« Aber Lindsay vermochte den Blick nicht von dem Eurypteroiden zu lösen, der mit verzahnten Klauenfängen träge und anscheinend erschöpft dalag. »Das Viech tut mir leid«, sagte er.
Greta bewahrte ihre fröhliche Geduld. »Bela, ich bin als ein Ei hierhergekommen. Ich bekam nicht diese gewaltigen Brotstangen als Nahrung. Da hält Carnassus nämlich ganz schön den Daumen drauf. Damals war er der Exobiologe der Gesandtschaft.«
Lindsay probierte ein wenig von der Suppe vermittels des gleitenden Fangbechers, der als Löffel in dieser geringen Schwerkraft diente. »Du scheinst sein wissenschaftliches Interesse zu teilen.«
»Jede Person in Dembowska ist an dem Extraterrarium interessiert... Lokalstolz sozusagen. Natürlich ist das Touristikgeschäft nicht mehr so gut wie früher, seit der InvestorenFrieden zusammengebrochen ist. Wir machen das durch Flüchtlinge und Asylanten wett.«
Lindsay blickte trübselig in den Tümpel. Die Speisen vor ihm waren hervorragend zubereitet, aber ihm hatte es den Appetit verschlagen. Der Eurypteroid machte eine schwache Bewegung. Lindsay dachte an die Statue, welche die Investoren ihm geschenkt hatten, und fragte sich, wie wohl die Exkremente dieses Tieres aussehen mochten.
An dem Tisch, an dem Wells saß, brach lautes Gelächter aus. »Ich will kurz mit ihm reden«, sagte Lindsay.
»Überlaß das besser mir«, sagte sie. »Wells hat Shaper-Kontakte.
Da kann dann leicht etwas bis zum Ring Council zurück durchsickern.« Sie schaute sehr ernst drein. »Du wirst doch nicht deine Deckidentität riskieren wollen, noch bevor sie so richtig aufgebaut ist.«
»Ihr traut also Wells nicht?«
Sie hob die Schultern. »Das soll nicht deine Sorge sein.« Ein weiterer Gang erschien auf ihrem Tisch, herangeschleppt von einem quietschenden Roboter in Velcro-Pantoffeln. »Ich finde diese uralten Servos hier bezaubernd, du nicht auch?« Sie quetschte ihm eine dickliche Cremesauce über eine Fleischpastete und reichte ihm den Teller. »Ach, Bela, du stehst unter Streß. Du mußt essen. Dann schlafen. Eine Sauna. Die angenehmen Seiten des Lebens genießen. Du wirkst ein bißchen genervt und kribbelig. Entspann dich doch!«
»Ich leb immer auf der Kante und in Hochspannung«, sagte Lindsay.
»Jetzt aber nicht mehr. Jetzt bist du bei mir. Also, iß schon ein bißchen, damit ich sicher bin, daß du dich in Sicherheit fühlst.«
Um ihr den Gefallen zu tun, biß Lindsay in die Pastete. Sie schmeckte köstlich. Sein Appetit kehrte zurück.
»Ich habe soviel zu tun«, sagte er, während er das Verlangen unterdrückte, das Essen runterzuschlingen.
»Und du meinst, daß du das alles besser erledigen kannst, ohne zu essen und zu schlafen?«
»Da hast du wahrscheinlich recht.« Er blickte vom Teller auf. Sie reichte ihm die Soßenbirne. Während er sich mehr Soße auf den Teller spritzte, reichte sie ihm ein Schnaupenweinglas. »Probier mal unseren heimischen Claret!« Er nahm prüfend einen Schluck. Es schmeckte so gut wie ein reifer Synchronis aus den Ringen. »Da hat sich jemand die Technik geklaut«, sagte er.
»Du bist nicht der erste Typ, der zu uns übergelaufen ist. Hier geht alles etwas ruhiger zu.« Sie zeigte auf die Terrariumscheibe. »Da, schau dir doch bloß mal diesen Xiphosaurus an.« Eine plumpe Krabbengestalt zog unerträglich gemächlich quer durch den Tümpel. »Der liefert dir eine Lektion.«
Lindsay glotzte stumm auf das Tier. Er dachte nach.
Gretas Behausung lag sieben Etagen tiefer. Ein silber-platierter Haushalts-Servo nahm Lindsay den Sack mit seiner Kleidung ab. In Gretas Wohnzimmer gab es eine üppig ausladende Couch mit
Pelzbezug und verschiebbaren Steigbügeln und zwei verschraubte Sessel mit burgunderroten Samtbezügen. Ein Adhäsiv-Kaffeetisch prangte mit einem Kippdeckel-Inhalatorkasten und einer Staffette von Bändern.
Im Badezimmer gab es eine Sauna-Nische und eine ausklappbare Absaugtoilette mit vorgewärmtem Elastiksitzring. Die Deckenbeleuchtung schimmerte in rötlicher Infrarotstrahlung. Auf den eiskalten Fliesen stehend, ließ Lindsay den Handschuh fallen. Er fiel langsam und mit deutlicher Schräglinie. Die Vertikalorientierung des Raumes entsprach nicht der Ortsschwerkraft. Ein derart kühn avantgardistisches Innendekor verursachte Lindsay momentan ein starkes Schwindelgefühl. Er sprang auf und klammerte sich an die Decke, dort schloß er die Augen, bis die Benommenheit wieder von ihm wich.
Greta rief durch die Tür: »Möchtest du eine Sauna?«
»Alles, nur damit mir wieder warm wird.«
»Die Reglerschalter sind links.«
Lindsay entkleidete sich. Er atmete zischend ein, als das eisige Metall seines künstlichen Armes über seinen nackten Brustkorb strich. Er streckte diesen Arm weit von sich weg, als er in den Wirbelsturm von heißem Dampf stieg. In der Niedrigschwerkraft war die Luft dicht von wirbelndem Wasser erfüllt. Hustend griff er nach der Atemmaske. Reiner Sauerstoff; Sekunden später fühlte er sich heldenhaft potent. Er fummelte frech an den Regulatoren herum, und mußte ein Kreischen zwischen den Zähnen ersticken, als ihn urplötzlich ein Gebläse mit Pulverschnee überschüttete. Er drehte zurück und ließ sich in der nassen Hitze dünsten, dann trat er aus der Box. Die Sauna durchlief den Kochpunkt und sterilisierte sich so.
Er wickelte ein Tuch turbanfest um seine Haare und verknotete gedankenverloren die Tuchenden im kessen Stil von GoldreichTremaine. In einem Wandschrank entdeckte er einen Pyjama, der ihm paßte: königsblau mit dazu passenden pelzgefütterten Mukluks.{11}
Vor der Badeeinheit hatte Greta sich inzwischen ebenfalls umgekleidet; sie trug jetzt statt der Pelzjacke und der hautengen Trikots ein gestepptes Nachtgewand mit weitausladendem Kragen. Und jetzt erst nahm er ihre Unterarme wahr: beide waren stark von mechanistischen Implantaten überlagert. Im rechten Unterarm verbarg sich eine Art Waffe: eine Anordnung von parallel laufenden kurzen Röhrchen über dem Handgelenk. Ein Abzugshebel war nicht zu sehen; wahrscheinlich funktionierte die Waffe über Neurointeraktion. Aus der Ärmelöffnung des anderen Armes fing Lindsay das rötliche Flackern der Datenanzeigen eines Biomonitors auf.
Die Mechs spielten leidenschaftlich gern mit Biofeedback herum. In den meisten Mech-Programmen zur Lebensverlängerung spielte es eine wichtige Rolle. Aber Greta hatte er nicht für einen Mech gehalten. Er konnte nichts dafür, aber der Anblick erschütterte ihn.
»Bist du nicht müde?«
Er gähnte. »Doch, ein bißchen.«
Ohne zu überlegen hob sie den rechten Arm über den Kopf. Ein ferngesteuerter Apparat schoß quer durch den Raum in ihre Hand, und sie schaltete die Videowand ein. Man sah dort ein Bild aus der Vogelperspektive auf das Extraterrarium, von einem der Monitors im Carnassus-Palast aufgezeichnet.
Lindsay begab sich zu ihr auf die Couch, wo er seine Mukluks in die geheizten Bügel steckte. »Ach, das nicht«, sagte sie fröstelnd. Sie drückte auf einen Knopf, und die Videowand verschwamm und klärte sich erneut zu einem Bild von der Saturnoberfläche, die von rotem und bernsteingelbem Gewimmel übersät war. Sehnsüchtige Erinnerung überkam Lindsay. Er wandte den Kopf ab.
Sie wechselte zu immer neuen Szenen. Eine zerklüftete Landschaft tauchte auf; gewaltige Vertiefungen, dicht neben einem verbrannten verschieferten Gebiet, das durch zwei immense Schluchten gespalten wurde.
»Das ist was Erotisches«, sagte sie. »Haut, zwanzigtausendmal lebensgroß. Eins von meinen Lieblingsvideos.« Sie tippte auf Knöpfe, und das Video hetzte über die unheimliche Landschaft und hielt am Fuß eines gigantischen schuppigen Holmes an. »Siehst du die Ausbuchtungen?«
»Ja.«
»Das sind Bakterien. Was du da siehst, das ist ein Mechanist.«
»Du?«
Sie lächelte. »Das fällt den Shapers oft am schwersten. Du kannst hier einfach nicht steril bleiben; wir sind von diesen Kleinwesen abhängig. Wir haben eure internen Alterationsmöglichkeiten nicht. Wir wollen sie nicht haben. Du wirst also genauso kriechen müssen wie wir andern alle auch.« Sie nahm seine linke Hand. Ihre Hand war warm und leicht feucht. »So, das da, da ist Ansteckung. Ist es so schlimm?«
»Nein.«
»Besser man bringt es gleich alles hinter sich. Meinst du nicht auch?«
Er nickte. Sie legte ihm die Hand in den Nacken und küßte ihn warm mit weitgeöffnetem Mund. Lindsay fuhr sich mit dem Flanellärmel über die Lippen. »Das ist aber schon ein bißchen mehr als eine bloße medizinische Behandlung«, sagte er.
Sie zog ihm das Turbanhandtuch vom Kopf und schleuderte es dem Haushaltsservo zu. »Die Nächte in Dembowska sind kalt. Und zu zweit ist es wärmer im Bett.«
»Ich habe eine eheliche Frau.«
»Ha! Monogamie? Wie bizarr!« Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Stell dich mal den Tatsachen, Bela! Durch dein Überlaufen ist der Vertrag zwischen dir und der Mavrides-Gen-Linie gebrochen. Du bist von nun an eine Nicht-Person. Du existierst gar nicht - außer für uns.«
Lindsay brütete dumpf in sich hinein. Ein Bild tauchte vor ihm auf: Nora, zusammengerollt, allein in ihrem gemeinsamen Bett, die Augen weit aufgerissen, die Gedanken in ihrem Kopf rasend, während sich ihre Feinde näher und näher an sie herandrängten. Er schüttelte den Kopf.
Mit ruhigen Bewegungen glättete Greta ihm die Haare. »Wenn du dir ein bißchen Mühe gibst, kommst du schon wieder auf den Geschmack. Aber trotzdem, es ist gescheiter, nichts zu überstürzen.«
Sie zeigte nur die leise höfliche Enttäuschung, wie es vielleicht die Dame des Hauses tut, wenn ein Gast bei Tisch den Nachtisch ablehnt. Lindsay fühlte sich müde. Trotz seiner Rejuvenationsgeschichte spürte er schmerzhaft am ganzen Körper noch die Investor-Schwerkraft.
»Komm, ich zeige dir das Schlafzimmer.« Die Schlafkammer war mit dunklem Pelzwerk ausgeschlagen. Der »Himmel« über dem Bett war eine horizontale Videodecke. Das massive Kopfteil des Lagers war mit dem Allerneuesten an Schlaf-Schlummer-Technik-Komfort ausgerüstet. Er entdeckte einen Enzephalographen, Monitorkrampen für künstliche Ersatzkörperteile, Fluorographen für die mitternächtliche Blutfraktionierung.
Er kletterte ins Bett; erst dann kickte er die Mukluks von den Füßen. Die Decken krausten sich, wickelten ihn wie in weichen Windeln ein. »Schlaf schön«, sagte Greta, ehe sie hinausging. Etwas berührte seinen Occipus; der Betthimmel über ihm erwachte flackernd zum Leben und begann Hirnstrom-Rhythmik vorzuzeichnen. Die Wellen waren kompliziert und mit geheimnisvoll unerklärlichen Seitenschnörkeln versehen. Eine der Wellenfunktionen zeichnete sich in rosaroter Kontur ab. Während er sich entspannte und auf sie schaute, begann die Funktion zu schwellen. Intuitiv machte er sich klar, was da plötzlich in seinem Kopf geschah, um dieses Anschwellen zu bewirken. Er gab sich hin und schlief plötzlich tief.
Als er am folgenden Morgen erwachte, lag Greta neben ihm und schlief friedlich. Über der Stirn hatte sie eine Alarm-Tiara festgeklemmt, die an das Sicherungssystem des Hauses angeschlossen war. Lindsay kletterte aus dem Bett. Seine Haut juckte wie wild. Die Zunge fühlte sich pelzig an. Er begann den Tag kriechend.
DEMBOWSKA CARTEL: 24-10-'53
»Also, das hätte ich mir niemals träumen lassen, daß ich dich so wiedersehe, Fyodor!« Am anderen Ende des Wohnzimmers von Gretas Heim leuchtete Ryumins video-aufgeschöntes Gesicht in trügerischer Gesundheit auf.
Es handelte sich um eine geschickt gefertigte Replik, aber für Lindsays geübtes Auge war klar, daß das da eine Computergrafik sein mußte; die Perfektion war bestürzend. Die Lippenbewegungen waren exakt Ryumins Worten angepaßt, die geringfügigen Bewegungsidiosynkrasien dagegen wirkten gespenstisch asynchron. »Wie lange hängst du schon am Draht?«
»Ach, zehn Jahre oder so. Die Zeit verändert sich unter den Drähten. Weißt du, ich kann mich nicht mal mehr so auf Anhieb erinnern, wo ich mein Hirn zurückgelassen habe. Bestimmt an einem ganz unmöglichen Ort.« Ryumin lächelte. »Allerdings, im Dembowska-Kartell müßte es schon sein, denn sonst hätten wir ja ein Übertragungs-Lag.«
»Ich möchte gern privat und ungestört mit dir reden. Wieviel Typen hören uns zu, was meinst du?«
»Ach, niemand außer der Polizei«, sagte Ryumin beruhigend. »Du befindest dich in einem Safehouse des Harems; da laufen die Kontakte direkt durch die Datenbanken des CHEFS. Und für Dembowska ist das bereits der Gipfel an privater Abgeschirmtheit, den man kriegen kann. Besonders wenn einer eine dermaßen undurchsichtige Vergangenheit aufzuweisen hat wie du, Mister Dze.«
Lindsay trocknete sich mit einem kopftuchgroßen Taschentuch die triefende Nase. Die ungewohnten Bakterien hatten seinen Stirnhöhlen schwer zugesetzt; und diese waren bereits durch die ozongeschwängerte Luft im Investor-Schiff angegriffen. »Ja, im Zaibatsu, da war das anders. Als wir noch unter vier Augen reden konnten.«
»Verdrahtung bringt Veränderung«, sagte Ryumin. »Das Ganze wird eine Sache von Input, verstehst du. Systeme. Daten. Wir haben eine Neigung zum Solipsismus; liegt am Land. Bitte, sei mir nicht gram, wenn ich deine Echtheit bezweifle.«
»Wie lang bist du schon hier auf Dembowska?«
»Seitdem der Frieden brüchig zu werden begann. Ich brauchte einen sicheren Hafen. Und das hier - war das Beste, was ich zur Auswahl hatte.«
»So sind also deine Irrfahrten vorbei, mein Alter?«
»Ja und nein, Mister Dze. Mit dem Verlust der Mobilität stellt sich eine Erweiterung der Sinne ein. Wenn mir danach zumute ist, kann ich auf eine Sonde im Merkur-Orbit hinausschalten. Oder mir die Jupiterstürme anschauen. Im übrigen mache ich das recht oft. Urplötzlich befinde ich mich dort, und zwar so gänzlich umfassend, wie ich in dieser Zeit jemals irgendwo sein könnte. Das Denken ist nicht ganz so, wie du dir das vorstellst, Mister Dze. Wenn du es mit Drähten einfängst, entwickelt es die Tendenz davonzuströmen. Daten scheinen aus einer tieferen Bewußtseinsschicht heraufzuquellen. Das ist zwar nicht das exakte Ideal von ›Leben‹, aber es hat seine gewissen Vorzüge.«
»Du hast also Kabuki Intrasolar aufgegeben?«
»Jetzt wo der Krieg wieder in eine heiße Phase gerät, sind für das Theater die Blütezeiten für eine Weile vorbei. Ich beschäftige mich vorwiegend mit dem Mediennetz.«
»Journalismus?«
»Ja. Wir Drahtköppe - oder präziser, wir Altgedienten Mechanos, wir Senioren, um uns einen Namen zu geben, der nicht von shaperischer Propaganda besudelt ist -, wir haben unsere eigenen Datenverarbeitungsmethoden. Nachrichtennetze. In der höchstintensiven Form nähert sich das der Telepathie. Ich bin hier am Ort der Stringer, der Freie Korrespondent, für Ceres Datacom Network. Ich genieße dort nationale Grundrechte, obschon es in gesetzlicher Hinsicht manchmal angenehmer ist, wenn sie dich als völlig im Firmenbesitz befindliche abschreibungsfähige Hardware führen. Unser Leben ist Information - sogar Geld ist nichts weiter als Information. Für uns sind unser Geld und unser Leben ein und dasselbe.«
Die synthetisierte Stimme des Mechanos klang ruhig und objektiv, doch Lindsay spürte eine immer stärkere Beunruhigung in sich aufsteigen. »Bist du in Gefahr, Alter? Etwas, wobei ich helfen könnte?«
»Ach, mein Junge«, sagte Ryumin, »hinter diesem Bildschirm da liegt eine ganze Welt. Alles ist dermaßen aus der Linie geraten und verschwommen, daß die puren Fragen nach Leben oder Tod auf die hinteren Sitze verdrängt sind. Unter uns gibt es die Leute, deren Denk- und Hirnfunktionen schon vor Jahren zusammengebrochen sind: Sie stolpern und hangeln sich mit Investitionen und Routineprogrammen weiter. Wenn die Fleischbrocken das wüßten, sie würden diese Leute für gesetzlich tot erklären. Aber wir, wir reden nicht darüber.« Ryumin lächelte. »Mister Dze, denk doch ganz einfach, daß wir Engel sind. Geistwesen auf Draht, manchmal fällt es dann leichter.«
»Ich bin hier fremd. Ich hatte damit gerechnet, daß du mir vielleicht helfen kannst, wie schon einmal. Ich brauche deinen Rat. Ich brauche deine Weisheit.«
Ryumin seufzte klar akzentuiert. »Ich hab da einmal einen Dze gekannt, als er und ich so kleine Witzbolde waren. Dem habe ich vertraut, weil ich seine kühne Frechheit bewunderte. Wir waren damals beide Männer! Aber das ist nicht mehr so.«
Lindsay prustete in das Taschentuch und reichte es mit einem angewiderten tiefen Ekelschauder naß dem Haushaltsservo. »Damals hätte ich noch alles riskiert. Ich war sogar zum Sterben bereit, aber ich bin nicht gestorben. Ich war einfach weiter neugierig und schaute mich um. Und ich fand jemand. Ich hatte eine Frau, und zwischen uns beiden gab es keine Heuchelei und keine Lüge. Es war bedingungslos, und wir waren glücklich zusammen.«
»Das freut mich für dich, Mister Dze.«
»Und als die Gefahren sich immer dichter um uns schlossen, bin ich ausgebrochen und davongerannt. Und jetzt - fast vierzig Jahre später - bin ich auch weiter nichts als wieder ein Sundog.«
»Vierzig Jahre, das ist eine humangerechte Lebensspanne, Mister Dze. Zwing dich doch nicht, menschlich zu sein. Es kommt immer die Zeit, wo man das aufgeben muß, loslassen muß.«
Lindsay schaute auf seine Armprothese und befahl den Fingern, sich langsam zu krümmen und zu strecken. »Aber ich liebe sie noch immer. Es war der Krieg, der uns auseinandergetrieben hat. Wenn es wieder Frieden gäbe ...«
»Ach, detantistische Entspannungsgefühle. Sentimentalismen. Vollkommen außer Mode.«
»Du hast also die Hoffnung aufgegeben, Ryumin?«
»Ich bin zu alt für Leidenschaften«, sagte Ryumin. »Verlang von mir bloß nicht, daß ich mich auf ein Risiko einlasse. Überlaß mich meinen Datenströmen, Mister Dze ... oder wer immer du sonst sein magst. Ich bin, was ich bin. Es gibt kein Zurückdrehen des Rades, keinen Anfang von vorne, um alles noch einmal zu versuchen. Dieses Spiel ist für solche, die noch Fleischbesitzer sind. Die noch heilen können.«
»Es tut mir leid«, sagte Lindsay. »Aber ich brauche Verbündete. Wissen ist Macht, und ich weiß einiges, was andere nicht wissen. Ich gedenke zu kämpfen. Nicht gegen meine Feinde. Nein. Gegen die Umstände, die Bedingungen, Gegebenheiten. Gegen die Geschichte. Ich will meine Frau zurückhaben, Ryumin. Meine Shaper-Frau. Ich will sie wiederhaben, ohne Bedingungen, frei und sauber und ohne lastende Schatten auf ihr! Wenn du mir nicht helfen willst, wer sonst?«
Ryumin überlegte zaudernd eine Weile. »Ich habe da einen Freund«, sagte er schließlich. »Er heißt Wells.«
DEMBOWSKA CARTEL: 31-10-'53
Vor dem Eintreffen der Menschheit hatte sich der Asteroidengürtel von selbst gemäß den physikalischen Gesetzen der Trümmer aufgebaut. Für jeden Asteroiden gab es zehn andere, die um zwei Drittel kleiner waren, von Ceres mit tausend Kilometern bis zu den wörtlich Trillionen unerfaßter Kuller, die mit relativer Geschwindigkeit von fünf km/sec Raumzeit-Potentialen gemäß dahinrasten.
Dembowska war ein Asteroid der Dritten Kategorie und wies einen Durchmesser von zweihundert Kilometern auf. Ähnlich anderen Körpern in einer zirkumsolaren Umlaufbahn, hatte auch er seinen Tribut an die Gesetzmäßigkeiten des Zufalls entrichtet. Zur Zeit der Dinosaurier war etwas Großes gegen Dembowska geprallt. Der Besucher traf ein und war in Sekundenbruchteilen wieder fort. Er hinterließ beim Aufprall geschmolzene Augitbruchstücke, in der Asteroidenkruste eingelagert, als er zu feurigen Tropfen zerbarst. An der Einschlagstelle war die Silikatmatrix von Dembowska zerrissen und hatte einen schrundigen vertikalen Kamin bis zwanzig Kilometer tief zum Eisen-Nickelkern des Asteroiden gebildet.
Inzwischen war der Kern größtenteils verschwunden, war von ewig hungrigen Fabriken gefressen worden. Das Kartell Dembowskas lebte und hauste in dieser Kaminschlucht, langgestreckte Plazas reichten Stufe um Stufe in die schwindende Schwerkraft hinab, eine graduelle Verschiebung, bis was oben Wände waren zu Fußböden wurden, bis Wände und Böden gänzlich aufhörten und sich zu einer Beinahe-Schwerelosigkeit auflösten. Auf der Sohle der Schlucht erweiterte sich die Welt zu einer gewaltigen künstlichen Höhle, dem hohlen Herzen von Dembowska, wo Generationen von Minendrohnen nach Metall und metallhaltigen Erzen genagt hatten.
Das Loch war zu groß, als daß man es hätte mit Sauerstoff füllen können. Darum behandelte man es, als wäre es freier Weltraum. Innerhalb der Schwerelosigkeit des Vakuums im Kern des Asteroiden lagen die neuen Schwerindustrien: Kryonikfabriken, in denen aus Andeutungen und Erinnerungen des versengten Hirns von Michael Carnassus Umsetzungen für den beständigen Höhenflug der Aktien des Dembowska-Kartells auf den Börsenmonitoren in hundert anderen Welten geschaffen wurden.
Produktionsgeheimnisse waren in den Eingeweiden Dembowskas sicher, fein säuberlich verborgen unter kilometerdickem Fels. Das Leben hatte sich wie Kitt in die Spalte dieses Kleinplaneten gedrängt und das träge Herz herausgegraben und die Höhle mit Maschinen gefüllt.
Vom Industriekern her betrachtet, war die Sohle der Schlucht die oberste Schicht der Außenwelt. Hier befanden sich Wells' Büros, in denen seine Belegschaft in Schichten rund um die Uhr an den Monitoren die Datapulse der Union of Cartels verfolgten, die unter der quasinationalen Führung durch Ceres Datacom Network vereint waren.
Die Arbeitsräume waren mit Velcro und Video tapeziert, und die Glühschirme mit dem unendlichen Nachrichtengemurmel dienten auch als Raumteiler für die einzelnen Arbeitsplätze. Teile von Hard Copy steckten in Velcroclips bei den Füßen und über den Köpfen der Crew; Reporter mit Kopfgeräten redeten über Audioverbindungen oder hämmerten energisch auf Tastaturen ein. Sie alle wirkten jung, und ihre Kleidung wies eine betonte Extravaganz auf. Über das Brabbeln der Sprecher, das glatte Rasseln der Printer, das Surren verdeckter Datenbänder hinweg ertönte leise BackgroundMusik: das grelle brüchige Jaulen von Synthesizern. Die kalte Luft duftete nach Rosen.
Ein Sekretär meldete sie an. Unter einem losen Mech-Baret krausten seine Haare hervor. Das Volumen der Mütze ließ auf mögliche Schädelanschlüsse schließen. Am Jackenaufschlag trug er einen patriotischen Sticker: das Gesicht von Michael Carnassus mit riesengroßen Augen.
Wells' Büro war abgeschirmter als die übrigen Bereiche. Bei ihm bildeten die Videowände ein hochwuchtendes Mosaik aus Balkenüberschriften, aneinander grenzenden Rechtecken von Daten, die willkürlich gestoppt und vergrößert werden konnten. Er hatte einen gesteppten Coverall an und trug Shaperspitzen am Halskragen; das graue Material war mit stilisierten Eurypteroiden in einem dunkleren Grau bedruckt. Die modischen Handschuhe waren von schaltkreisüberhäuften Kontrollringen bedeckt.
»Willkommen bei CDN, Auditor Milosz. Du ebenfalls, Polizeifrau. Darf ich euch einen heißen Tee anbieten?«
Lindsay nahm die warme Knolle dankbar an. Es war Syntheto-Tee, aber er schmeckte gut. Greta nahm die Blase an, trank jedoch nicht. Sie betrachtete Wells mit gelassener Aufmerksamkeit.
Wells berührte eine Schaltung auf der klebrigen Platte seines freischwebenden Werktischs. Eine weite Kranlampe drehte sich mit schlangenhafter Anmut auf dem Ringelhals und starrte Lindsay an. Unter der Haube lagen in eine weiche Matrix aus dunklem Fleisch gebettet menschliche Augen. Die Augen blinzelten und glitten dann von Lindsay zu Greta Beatty. Greta neigte zum Zeichen der Bekanntschaft den Kopf.
»Das ist ein Monitoranschluß für den Polizeichef«, erklärte Wells Lindsay. »Sie schaut sich die Sachen lieber mit eigenen Augen an, wenn ihnen derart große Bedeutung zukommt, wie du es von deinen Nachrichten behauptest.« Er wandte sich zu Greta. »Die Lage ist unter Kontrolle, Polizeifrau.« Die Harmonikatür in ihrem Rücken öffnete sich pfeifend.
Mit verkniffenen Lippen verneigte sich Greta erneut gegen die Lampe, warf Lindsay einen hastigen Blick zu und kickte sich von der Wand ab und zur Tür hinaus, die wieder zuglitt.
»Wie bist du denn bei dieser Zen-Nonne kleben geblieben?« fragte Wells.
»Verzeihung, wie?«
»Na, diese Beatty. Hat sie dir noch nichts von ihrer Zugehörigkeit zu diesem Ordenskult erzählt? Zen-Serotonin?«
»Nein.« Lindsay zögerte. »Mir erscheint sie stark selbstbeherrscht.«
»Merkwürdig. Ich habe mir sagen lassen, daß dieser Kult in deiner Heimatwelt recht verbreitet ist. Bettina ist, glaub ich, deine Welt, nicht wahr?«
Lindsay bohrte die Augen in die des Mannes. »Du kennst mich doch, Wells. Denk mal zurück. Goldreich-Tremaine.«
Wells grinste einseitig verzerrt, drückte seine Teeknolle und spritzte sich einen bernsteinbraunen Strahl in den Mund. Die Zähne waren kräftig und gerade, und die Wirkung war alarmierend wild. »Dachte ich es mir doch, daß du irgendwas von einem Shaper an dir hast. Wenn du einer von den Kataklysmatikern bist, versuchst du unter den Augen des Polizeichefs besser keine Kamikazegeschichten.«
»Ich war ein Opfer der Kataklysmatiker«, sagte Lindsay. »Sie haben mich einen Monat lang auf Eis gelegt. Dabei wurden meine ganzen Routinen gestört. Und danach bin ich übergelaufen und hab mich abgesetzt.« Er zog den Handschuh von seiner rechten Hand.
Wells erkannte die uralte Prothese wieder. »Captain-Doktor Mavrides! Was für eine unerwartete Freude. Es gingen Gerüchte um, daß du unheilbar geistesgestört seiest. Offen gesagt, ich freute mich sehr über diese Nachricht. Abélard Mavrides, das Schoßhündchen der Investoren. Was ist aus deinen Juwelen und Kabeln geworden, Captain-Doktor?«
»Ach, in dieser Zeit reise ich mit wenig Gepäck.«
»Keine Theaterstücke mehr?« Wells zog eine Lade in seinem Werktisch auf und hob einen Humidor heraus. Aus der Dose bot er Lindsay eine feuchtgehaltene Zigarette an. Lindsay nahm sie dankbar an. »Theater ist außer Mode«, sagte er. Sie zündeten sich die Zigaretten an. Lindsay kämpfte erbarmenswürdig mit einem Hustenanfall.
»Ich muß dich wohl ziemlich verärgert haben, Doktor, weißt du, damals auf dieser Hochzeitsfeier. Als ich da reinkam, um dir deine Studenten abzuwerben.«
»Die waren überzeugte Ideologen, Wells, nicht ich. Ich machte mir im Gegenteil Sorgen um dich.«
»Das wäre nicht nötig gewesen.« Wells blies Rauch aus und lächelte dann. »Dein Student Besetzny gehört jetzt zu uns.«
»Er ist Detentist geworden?«
»Unser Denken hat sich seit damals weiterentwickelt, Doktor. Diese alten Kategorien - Mechanisten, Shapers -, die sind doch inzwischen ein wenig aus der Mode, oder? Das Leben schreitet kladisch weiter, vielfach verästelt, nicht bifurkal.« Er lächelte wieder. »Eine Klade ist eine Tochterspezies, ein verwandter Nachfahre und Abkömmling. Derlei ist früher schon anderen erfolgreichen Tieren passiert, und nun sind eben die Menschentiere an der Reihe. Die Parteiungen kämpfen noch und strampeln sich noch ab, doch die Kategorien werden durchlässig und lösen sich auf. Keine Richtung kann mehr für sich in Anspruch nehmen, sie vertrete die eine und alleinseligmachende Bestimmung der Menschheit. Die Menschheit existiert nicht mehr.«
»Du sprichst wie ein apokalyptischer Kataklysmatiker.«
»Ach, da gibt es noch andere, die sind ebenso verrückt. Diese Leute an der Macht in den Kartellen, im Ring Council. Durch Haß den Blick für die Schismatrix verblenden, das ist eben leichter, als unsere artenspezifischen Potentiale zu akzeptieren. Unsere Missionen zu den Aliens waren Pleiten und ergebnislos, weil wir noch nicht einmal gelernt haben, anständig mit den Andersartigen, den Fremden umzugehen, die mit uns ein und dasselbe Urerbe gemeinsam haben. Wir zerfallen jetzt in Kladien. Wir müssen lernen, die Hände aufzumachen, loszulassen, wir müssen uns auf einer breiteren, fundamentaleren Grundlage neu zusammenfinden, zu sammenschließen.«
»Aber wenn die Menschheit durchdreht und kaputtgeht, wer oder was könnte sie denn dann effektiv zusammenhalten oder neu vereinen?«
Wells warf einen Blick auf seine Videowand und ließ mittels seines Fingerrings einen Brocken Nachrichten erstarren. »Hast du je etwas von ›Prigogin'schen Komplexitätsebenem‹ {12} gehört?«
Lindsay verließ der Mut. »Ich hab mir nie viel aus Metaphysik gemacht, Wells. Eure religiösen Glaubensvorstellungen sind einzig eure Angelegenheit. Ich war mit einer Frau zusammen, die mich liebte, und ich hatte einen geschützten Platz zum Schlafen. Der Rest ist Theorie.«
Wells betrachtete seine Wand. Druckzeilen rutschten undeutlich vorbei, es ging um einen Überläuferskandal auf Ceres. »Ach ja, deine Colonel-Professorin. Also, dabei kann ich dir nicht helfen. Da brauchst du einen Kidnapper, wenn du die von dort wegzaubern willst. Und den wirst du hier nicht finden. Vielleicht solltest du es mal auf Ceres oder Bettina versuchen.«
»Meine Frau ist ziemlich halsstarrig. Genau wie du hat sie ihre Ideale. Uns kann nur der Frieden wieder zusammenführen. Und in unsrer Welt gibt es nur eine Quelle für Frieden: die Investoren.«
Wells lachte kurz und bellend. »Noch immer die gleichen Slogans, Doktor?« Auf einmal sprach er in stockendem Investorisch weiter. »Deine Argumentation hat stark an Gewicht verloren.«
»Die Leute haben ihre Schwachpunkte, Wells.« Seine Stimme wurde lauter. »Meinst du, ich sei weniger verzweifelt als diese Kataklysmatiker? Frag doch deinen Freund Ryumin mal danach, ob ich Schwäche nicht erkenne, wenn sie mir begegnet, oder ob es mir an der Bereitschaft mangelt, sie auszunutzen. Der Frieden der Investoren: gewiß, ich habe dabei mitgewirkt. Das verschaffte mir, was ich haben wollte. Ich war ein heiler, ganzer Mensch. Du kannst nicht wissen, was das für mich bedeutete ...« Er brach ab. Trotz der Kälte schwitzte er.
Wells wirkte bestürzt. Auf einmal wurde es Lindsay bewußt, daß er mit seinem Ausbruch gegen alle Diplomatenvorschriften verstoßen hatte. Die Erkenntnis erfüllte ihn mit wütender Befriedigung. »Du kennst die Wahrheit, Wells. Wir sind seit Jahren schon die kleinen Bauern im Spiel der Investoren gewesen. Es ist an der Zeit, daß wir das Schachbrett mal rumdrehen und die Farben wechseln.«
»Du meinst, du willst die Investoren angehen?« sagte Wells ungläubig.
»Was sonst, du Narr! Welche andere Wahl haben wir denn sonst noch?«
Aus dem Fuß der Lampe ertönte eine Frauenstimme. »Abélard Mavrides, du stehst unter Arrest.«
Zischend schlossen sich die Fahrstuhltüren hinter ihnen. Bei der Beschleunigung aufwärts traf sie die Pseudoschwerkraft. »Leg bitte die Hände gegen die Wand«, sagte Greta höflich. »Und jetzt mit den Füßen einen Schritt zurück.«
Lindsay tat ihr stumm den Gefallen. Der altmodische Aufzug klickte laut die Zahnschienen der Vertikalwand in der Dembowska-Schlucht hinauf. Zwei Kilometer. Greta seufzte. »Du mußt etwas arg Schlimmes gemacht haben.«
»Da mach du dir mal keine Sorgen«, sagte Lindsay.
»Wenn ich mich an die Vorschriften hielte, müßte ich an deinem Eisenarm die Kabelstränge durchschneiden. Aber ich werde darauf verzichten. Das Ganze ist auch meine Schuld, glaube ich. Wenn es mir gelungen wäre, es dir ein wenig gemütlicher zu machen, dann hättest du nicht dermaßen fanatisch gehandelt.«
»Ich trage keine Waffen in meinem Arm«, sagte Lindsay. »Du hast ihn doch bestimmt untersucht, während ich schlief.«
»Ich begreife deine Schärfe nicht, deinen Argwohn, Bela. Habe ich dich in irgendeiner Weise schlecht behandelt?«
»Erzähl mir was über Zen-Serotonin, Greta!«
Sie streckte sich unmerklich. »Ich schäme mich nicht im geringsten, daß ich dem Nonmovement angehöre. Ich hätte es dir schon gesagt, aber wir werben nicht um Proselyten. Wir gewinnen neue Mitglieder durch unser Beispiel.«
»Zweifellos äußerst lobenswert, da bin ich sicher.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich hätte aber in deinem Fall eine Ausnahme machen sollen. Dein Schmerz berührt mich. Auch ich habe einmal Schmerz gekannt.« Lindsay sagte nichts dazu. »Ich bin auf Themis geboren«, fuhr sie fort. »Ich kannte dort ein paar Kataklysmatiker, aus einer der Mechano-Splittergruppen. Das waren Eiskiller. Das Militär entdeckte eine ihrer Kryozellen, wo sie einen meiner Lehrer erleuchteten - vermittels eines Einwegtickets in die Zukunft. Ich wartete nicht, bis sie mich verhafteten. Ich flüchtete nach Dembowska ... Als ich hier ankam, wurde ich vom Harem rekrutiert. Und ich fand heraus, daß ich für Carnassus die Hure spielen mußte. Das lag mir nicht. Aber dann stieß ich auf ZenSerotonin.«
»Aber - Serotonin, das ist doch hirnchemikalisch«, sagte Lindsay.
»Es ist eine Weisheitserkenntnis«, sagte sie. »Shaperismus, Mechanismus - das sind keine Philosophien, das sind für politische Zwecke mißbrauchte Techniken. Ihrem innersten Wesen nach sind sie nur Technologien. Die technische Wissenschaft hat die Menschheit zerfleischt und zerstört. Wenn irgendwo Anarchie, gesetzlose Zustände, sich ausbreiteten, bemühten sich die Menschen verzweifelt um Gemeinschaft, Gemeinsamkeit. Die Politiker suchten sich stets bequeme Feinde aus, damit sie ihre Anhänger durch Haß und Terror an sich binden konnten. Aber Gemeinschaft und Gemeinsamkeit genügen nicht, wenn aus jedem Schaltkreis und aus jedem Reagenzglas tausend neue verlockende Lebensmöglichkeiten winken. Einen Ring Council würde es nicht geben können - ohne den Haß - und ebensowenig eine Union of Cartels. Es gibt keine Konformität ohne die Machtpeitscher.«
»Das Leben bewegt sich kladisch voran«, murmelte Lindsay.
»Ach, das ist dieser Wells mit seinem Mischmasch aus Naturwissenschaft und Ethik. Nein, was wir brauchen, das ist Non-Movement, Bewegungslosigkeit, Stille, Klarheit.« Sie streckte den linken Arm aus. »Der Monitor versorgt tropfenweise meinen Arm. Ich kenne keine Furcht, sie bedeutet mir nichts. Damit gibt es einfach überhaupt nichts, dem ich mich nicht stellen, das ich nicht analysieren könnte. Durch Zen-Serotonin erblickst du das Leben im Licht der puren Vernunft. Und die Menschen kommen zu uns, besonders wenn sie in einer Krise stecken. Von Tag zu Tag findet unser Non-movement mehr Anhänger.«
Lindsay erinnerte sich an die Hirnstromwellen, die er im Bett in diesem Agentenunterschlupf gesehen hatte. »Du befindest dich also in permanentem Alpha-Zustand.«
»Natürlich.«
»Hast du jemals Träume?«
»Wir haben unsre Vision. Wir können die neuen Technologien erkennen, durch die menschliches Leben zersetzt und gespalten wird. Und wir stürzen uns in diese Entwicklungswirbel hinein. Möglich, daß jeder von uns nur ein winziges Teilchen ist. Doch vereint, gemeinsam, bilden wir ein Sediment, ein Wehr, das den Strömungsverlauf bremst. Zahlreiche Entdecker und Neurer sind zutiefst unglückliche Menschen. Aber wenn sie Zen-Serotonin erkannt haben, verliert sich ihr krankhafter neurotischer Zwang, im Leben herumzupfuschen.«
Lindsay lächelte verbissen. »Das war also kein Zufall, daß man dir meinen Fall zugewiesen hat.«
»Du bist ein zutiefst nicht-glücklicher Mann. Und das hat dir diesen ganzen Ärger auf den Hals gebracht. Das Nonmovement besitzt eine gewichtige Stimme im Harem. Schließ dich uns an! Wir können dich retten.«
»Ich kannte Glück und Seligkeit einmal, Greta. Du wirst sie nie kennenlernen.«
»Heftige Emotionen sind nicht unsere Stärke, Bela. Wir bemühen uns, die menschliche Rasse vor dem Untergang zu bewahren.«
»Na, dann viel Glück«, sagte Lindsay. Sie hatten die Endstation erreicht.
Der alte Akromegale trat zurück, um das Werk seiner Hände zu bewundern. »Sitzt der Straps richtig, Sundog? Kannst du atmen?«
Lindsay nickte. Die Killkrampe bohrte sich schmerzhaft in seine Schädelbasis.
»Das liest die Rückhirnfünktionen ab«, sagte der Riese. Durch die Wachtumshormone war sein Kiefer deformiert worden; er hatte den vortretenden Unterkiefer einer Bulldogge, und so kam seine Stimme nur verwaschen aus dem Maul. »Vergiß nicht, du mußt langsam dahinschlurfen. Keinerlei plötzliche hastige Bewegungen. Denk gar nicht erst dran, dich schnell zu bewegen, dann bleibt der Kopf ganz.«
»Wie lange bist du schon in dem Geschäft?« fragte Lindsay.
»Lang genug.«
»Gehörst du zum Harem?«
Der Riese funkelte ihn an. »Aber sicher. Ich bumse Carnassus, oder was hast du dir sonst gedacht?« Die Riesenhand umspannte Lindsays Gesicht völlig. »Haste schon mal deinen eignen Augapfel gesehen? Vielleicht zieh ich dir einen raus. Der CHEF kann dir dann 'nen neuen implantieren.«
Lindsay zuckte zurück. Der Riese grinste mit schlecht angeordneten Zähnen. »So'ne Typen wie dich, die hab ich schon mal erlebt. Du bist 'n Shaper-Antibiot. Dein Typ hat mich mal ausgetrickst, einmal. Vielleicht glaubste ja, du kannst die Krampe austricksen. Vielleicht meinste, du kannst den CHEF umbringen, ohne daß du dich bewegen mußt. Aber dann denk dran: Du mußt an mir vorbei, wenn du rauswillst.« Er packte Lindsay oben am Schädel und hob ihn vom Velcro hoch. »Oder vielleicht glaubst du ja auch, ich bin blöd.«
Lindsay sprach in Handelsjapanisch. »Spar's dir für die Huren auf, Yakuza{13}! Oder vielleicht würde es deiner Exzellenz belieben, mir die Krampe da abzunehmen und es auf ein bißchen Handarbeit ankommen zu lassen.«
Der Riese lachte überrascht auf, dann stellte er Lindsay behutsam wieder auf den Boden. »Verzeih mir, Freund. Wußte nicht, daß du einer von uns bist.«
Lindsay stieg durch die Luftschleuse. Drinnen war die Lufttemperatur so hoch wie die seines Blutes. Es stank nach schweißvermischten Parfüms und roch daneben nach dem Duft von Veilchen. Das scheppernde Wimmern eines Synthesizers riß plötzlich ab.
Der Raum war prall voller Fleisch. Ja, er bestand ganz aus Fleisch: satinschimmernd braune Haut, stellenweise akzentuiert von Teppichen glitzernder schwarzer Haare und blaurosa Schleimhäuten. Alles war gekräuselt, verschnörkelt, gekrümmt: die Chaiselongues, eine runde Masse wie ein Bett aus Fleisch mit malvenrosa Löchern bedeckt. Unter Lindsay Füßen dröhnte Blut durch eine dickrohrige Arterie.
Wieder wand sich ein Lampengebilde mit einem Schirm wie eine Kobrahaube auf glatthäutigem Krangelenk in die Höhe. Dunkle Augen beobachteten ihn. Am glatten Stiel einer pilzförmigen Fußstütze an seiner Seite tat sich ein Mund auf und sprach: »Ziehe diese Velcrostiefel von deinen Füßen, Liebling. Sie kitzeln.«
Lindsay setzte sich. »Du bist das, Kitsune?«
»Das wußtest du doch, sobald du meine Augen im Büro von Wells gesehen hast«, sagte die Stimme aus der Wand schnurrend.
»Nein, gewußt habe ich das erst, ehrlich, als ich deinen Leibwächter sah. Ach, ist das lang her. Tut mir leid, das mit meinen Stiefeln.« Er setzte sich und zog sie vorsichtig aus, was ihm die Möglichkeit bot, das Schaudern zu überspielen, das ihn bei der Berührung mit dem fleischigen Kuschelsessel überfiel. »Wo bist du denn?«
»Überall um dich herum. Ich habe überall Augen und Ohren.«
»Aber wo ist dein Körper?«
»Den habe ich verschrotten lassen.«
Lindsay schwitzte. Nach dem vierwöchigen Aufenthalt in der Frostatmosphäre Dembowskas war diese erhitzte Luft hier erstickend. »Und du hast gewußt, daß ich es bin?«
»Du warst der einzige Darling, der mich je verlassen hat und den zu bewahren mir wichtig war. Dich würde ich kaum je vergessen.«
»Das hast du fein gemacht, Kitsune.« Lindsay verbarg sein Entsetzen unter dem plötzlichen Aufwallen seiner halbvergessenen Diplomatendisziplin. »Danke, daß du den Antibionten getötet hast.«
»Ach, das war ganz leicht«, sagte sie. »Ich behauptete, er sei du.« Sie hielt zögernd inne. »Die Geisha Bank fiel auf dein Täuschungsmanöver herein. Das war wirklich klug von dir, den Kopf der Yarite mitzunehmen.«
»Ich wollte dir ein Abschiedsgeschenk machen«, sagte Lindsay zurückhaltend. »Das Geschenk der absoluten Macht.« Er betrachtete die glatten Fleischmassen. Nirgends war so etwas wie ein Gesicht zu erkennen. Aus den Wänden und Zwischenböden drang das gedämpfte synkopische Pochen eines halben Dutzends von Herzen.
»Hat es dich bedrückt, daß ich die Macht mehr brauchte als dich?«
Sein Hirn raste. »Du hast an Weisheit zugenommen seit jener Zeit ... Ja, ich gestehe es freimütig. Es wäre einmal der Tag gekommen, an dem du zwischen mir und deinen ehrgeizigen Zielen die Wahl getroffen hättest. Und ich wußte, was du wählen würdest. War es also falsch, daß ich fortging?«
Es kam eine Weile keine Reaktion; dann begannen mehrere der Münder im Raum zu lachen. »Du könntest wirklich alles als plausibel verkaufen, Darling. Das war immer schon deine Begabung. Nein. Ich hatte seitdem zahlreiche Favoriten. Du warst eine gute Waffe, aber ich hatte andere. Ich verzeihe dir.«
»Danke, Kitsune.«
»Du kannst dich ab sofort als haftentlassen betrachten.«
»Du bist sehr großmütig.«
»Und jetzt was anderes. Was soll das verrückte Zeug über die Investoren? Weißt du denn nicht, wie sehr das System derzeit von ihnen abhängig ist? Jede Interessengruppe, die den Investoren in die Quere kommt, könnte sich auch gleich selber die Kehle durchschneiden.«
»Mir schwebte eigentlich etwas ein bißchen Subtileres vor. Ich dachte, wir könnten sie dazu bewegen, daß sie sich selber aufs Kreuz legen.«
»Soll heißen?«
»Erpressung.«
Ein paar der Münder lachten unsicher. »In welcher Art und Weise, Darling?«
»Sexuelle Perversion.«
Die Augen kurbelten sich an dem organischen Stengel nach oben. Lindsay bemerkte, wie weitgeöffnet die Pupillen waren, das war sein erstes kinesisches Indiz, und er begriff, er hatte ins Schwarze getroffen. »Du hast das einschlägige Material?«
»Ich würde es dir sofort aushändigen«, sagte Lindsay, »aber diese Krampe da hindert mich daran.«
»Nimm sie ab! Ich habe sie neutralisiert.«
Lindsay schnallte die Killerkrampe ab und legte sie behutsam auf den bebenden Arm seines Sessels. Dann ging er auf Socken zum Bett und zog sein Videomonokel aus der Hemdinnentasche.
Am Kopfteil des Lagers öffneten sich dunkle Augen. Durch weiche Pelzschlitze glitten zwei glatte Arme hervor. Der eine ergriff das Monokel und plazierte es über einem Auge. Lindsay sagte: »Ich hab es auf den Beginn der Sequenz eingestellt.«
»Aber das ist nicht der Anfang des Bandes.«
»Der erste Teil betrifft ...«
»Ja«, sagte sie eisig. »Ich seh schon. Deine Frau?«
»Ja.«
»Unwichtig. Wäre sie mit dir hierher gekommen, wäre es vielleicht etwas andres. Aber jetzt hat sie sich mit Constantine angelegt.«
»Du kennst ihn?«
»Aber sicher. Er hat uns den Zaibatsu mit den Opfern seiner Säuberung vollgestopft. Und die Shapers sind stolz - im Ring Council. Sie werden nie glauben, daß ein Ungeplanter es mit ihnen aufnehmen könnte, Trick um Trick. Deine Partnerin ist so gut wie tot.«
»Es könnte aber ...«
»Vergiß es! Du hast deine fetten Friedensjahre gehabt. Aber die nächsten Jahre gehören ihm. Aha!« Sie sagte zögernd: »Das da ist an Bord eines Sternenschiffs der Investoren aufgenommen? Das Schiff, auf dem du hierher gekommen bist?«
»Ja. Ich hab die Aufnahmen selbst gemacht.«
»Aaaah!« Das Stöhnen war unverhüllt sinnlich. Eines der überdimensionalen Herzen des Raumes befand sich unter dem Bett; sein Schlag hatte sich beschleunigt. »Das ist ihre Königin. Der Schiffskapitän ... Ach, diese Investorweiber und ihre Haremsherrschaft... es ist ein echtes Vergnügen, eine davon endlich einmal geschlagen zu haben. Das Drecksstück. Ach, was bist du doch für ein Wonnetyp, Lin Dze, Mavrides, Milosz!«
Lindsay sagte: »Mein Name lautet Abélard Malcolm Tyler Lindsay.«
»Weiß ich doch! Constantine hat es mir verraten. Und ich habe ihn überzeugen können, daß du tot bist.«
»Ich danke dir, Kitsune.«
»Was bedeuten schon Namen für uns? Mich nennen sie hier Polizeichef. Worauf es ankommt, Darling, das ist die Kontrolle, nicht die Fassade. Du hast die Shapers im Ring Council übers Ohr gehauen. Meine Beute waren die Mechanisten. Ich bin in die Kartelle ausgewandert. Ich beobachtete, ich wartete ab. Und dann, eines schönen Tages, stieß ich auf Carnassus. Den letzten Überlebenden seiner Mission.«
Sie lachte leise; dieses hohe kichernde flüchtige Lachen, das er einst so gut gekannt hatte. »Die Mechs haben ihre besten Leute losgeschickt. Aber die waren zu stark, zu steif, zu starr. Das Seltsame, Fremdartige der Situation hat sie zerbrochen. Das und die Isolation. Carnassus mußte die andern zwei töten, und noch immer wacht er deswegen manchmal schreiend aus seinen Träumen auf. Ja, sogar hier in diesem Zimmer. Seine Firma war bankrott. Also habe ich ihn aus den Trümmern aufgekauft, ihn und seinen absonderlichen Prisenschatz.«
»Im Ring Council sagt man, er ist hier der Herrscher.«
»Aber sicher sagen sie das; schließlich habe ich ihnen das ja so erklärt. Aber Carnassus gehört mir. Meine Chirurgen haben sich mit ihm befaßt. In ihm steckt kein Neuron mehr, das nicht durch Wollust geschwellt wäre. Das Leben für ihn ist ganz einfach: ein unendlicher Traum von Fleisch.«
Lindsay ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Und du bist seine Favoritin.«
»Kannst du dir vorstellen, daß ich mich mit etwas Geringerem zufriedengäbe, Darling?«
»Es stört dich nicht, daß andere Weiber Zen-Serotonin praktizieren?«
»Ich kümmere mich nicht um das, was sie glauben oder denken, oder zu denken glauben. Sie gehorchen meinen Befehlen. Ich beschäftige mich nicht mit Religion und Ideologie. Meine Sorge gilt der Zukunft.«
»Ach?«
»Der Tag wird kommen, an dem wir den letzten Tropfen aus Carnassus herausgequetscht haben. Und wenn sich die Technik weiter ausbreitet, werden unsere kryonischen Produkte ihren Neuheitsreiz verlieren.«
»Aber das kann doch noch Jahre dauern.«
»Alles dauert immer Jahre«, sagte sie. »Es ist auch eine Frage von Jahren. Das Schiff, auf dem du hergekommen bist, hat den zirkumsolaren Raum verlassen.«
»Du weißt das sicher?« fragte Lindsay bestürzt.
»Jedenfalls sagen das meine Datenbänke. Und wer weiß, wann die zurückkommen werden?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Lindsay. »Ich kann warten.«
»Zwanzig Jahre? Dreißig?«
»Solang es eben dauert«, sagte Lindsay, obwohl ihn die Vorstellung fast ersticken ließ.
»Bis dahin ist aber Carnassus unbrauchbar geworden. Ich brauche dann eine neue Fassade. Und was könnte besser funktionieren für solch einen Zweck als eine Königin der Investoren? Das ist ein durchaus erfolgversprechendes Risiko. Du wirst an der Sache für mich arbeiten. Du und Wells.«
»Selbstverständlich, Kitsune.«
»Du bekommst alle Unterstützung, die du brauchst. Aber verschwende mir ja nicht ein Kilowatt, indem du versuchst, diese Frau zu retten.«
»Ich werde mich bemühen, nur an die Zukunft zu denken.«
»Carnassus und ich werden bald ein Versteck nötig haben. Das wird deine höchst-vordringliche Aufgabe sein.«
»Verlaß dich darauf«, sagte Lindsay. Carnassus und ich, dachte er.
DEMBOWSKA CARTEL: 14-2-'58
Lindsay studierte die neuesten Berichte des Prüfungskomitees der Paris. Routiniert blätterte er die Angaben durch, verschlang die Abstrakta, fuhr prüfend durch die einzelnen Absätze, richtete besonderes Augenmerk auf die allerübelsten Auswüchse von Technokratenjargon. Er arbeitete mit besessener Effizienz.
Zu danken war dies alles Wells. Der hatte ihn in den Vorsitz der Fakultät an der Kosmosität geschoben; und Wells hatte auch die Herausgeberschaft des Journal of Exo-Archosaurian Studies in seine Hände gelegt.
Lindsay hatte die Routine so begierig ergriffen, wie sie ihn gepackt hatte. Ihm war die durch Verwaltungs- und Forschungsarbeit bedingte Ablenkung nur allzu willkommen, denn sie beraubte ihn der freien Zeit, der Müßigkeit, wie man sie für Seelenschmerz braucht. In seinem neuen Büro in der »Schlucht«, in einem exurbanen Ableger der kürzlich erst vollendeten Kosmosität, wirbelte er auf seinem Mini-G-Drehsessel umher, jagte Gerüchten hinterdrein und sammelte durch Erpressung, Bestechung und Gegengeschäfte Informationen. Sein Journal war mittlerweile das umfangreichste Datenarchiv über die Investoren, und die Geheimakten bildeten ein weites Pilzmyzel von Spekulationen und Spionageinformation. Und Lindsay saß mitten im Kerngehäuse des Ganzen und arbeitete mit der Ausdauer der Jugend und der Langmut des Alters.
Er hatte in den fünf Jahren seit seiner Ankunft in Dembowska den unaufhaltsamen Aufstieg von Wells zu immer mehr Macht interessiert verfolgt. Dank des Fehlens einer Staatsideologie hatte sich der Einfluß von Wells und seiner »Carbon-Clique« auf die gesamte Kolonie ausbreiten können, so daß sie nun auch die Welt der Kunst, die Medien und das akademische Leben beherrschten.
Ehrgeiz war das gruppenspezifische Laster, dem Wells und seine Leute sich hingaben. Lindsay war ohne große Begeisterung der Gruppe beigetreten. Durch die intime Beziehung jedoch hatte er dann ihre Pläne aufgeschnappt, als wären sie lokalspezifische Bakterien. Nebenbei hatte er sich auch von ihren Modetorheiten anstecken lassen: sein Haar war brillantineglatt, sein Schnurrbart wies eine Kerbe für das anklebbare Knopfmikro an der Oberlippe auf. An den schrumpeligen Fingern seiner linken Hand trug er Video-Kontrollringe.
Die Jahre wurden von Arbeit aufgezehrt. Einst war ihm Zeit als etwas Festes erschienen, schwer und dicht wie Blei. Jetzt glitt sie ihm durch die Finger davon. Lindsay begriff, daß seine Vorstellung von Zeit allmählich mehr und mehr jener der Shaper-Senioren glich, die er auf Goldreich-Tremaine gekannt hatte. Für die wahrhaftig Alten war die Zeit so dünn wie Luft, wie ein schneidender Mordwind, der die Vergangenheit wegfegte und die Erinnerung zerätzte. Die Zeit hatte für Lindsay eine Beschleunigung erfahren, und nichts vermochte sie für ihn aufzuhalten, außer dem Tod. Der Geschmack dieser Wahrheit kam ihm bitter vor - wie Amphetamine.
Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Papier zu; eine neue Auswertung eines berühmten Fragments einer Investoren-Schuppe, das sich im Nachlaß einer fehlgeschlagenen Interstellar-Mission der Mechanisten aufgefunden hatte. Nur wenig Materiestückchen waren jemals derart erschöpfend untersucht worden. Der Artikel, den Lindsay las, trug den Titel »Proximo-Distale Gradienten der Zelladhäsion der Epidermis« und war von einem shaperischen Abtrünnigen im Diotima-Kartell verfaßt worden.
Lindsays Konsole klingelte. Sein Besucher war eingetroffen.
Das unauffällige Sicherungssystem, das in Lindsays Büro angewandt wurde, verriet den für Wells charakteristischen Stil. Man hatte dem Besucher ein geschmackvolles Krönchen auf den Kopf gestülpt, das aus den weitaus gröber-ungeschickten Killkrampen entwickelt worden war. Ein für die Trägerperson selbst unsichtbares winziges rotes Lämpchen glühte über der Stirn. Es bestimmte den potentiellen Angriffspunkt für die diskret in der Decke versteckten Schutzwaffen.
»Professor Milosz?« Der Besucher war seltsam gekleidet. Er trug einen formellen weißen Dress mit ringförmigem offenen Kragen und Harmonikastulpen an Ellbogen und Knien.
»Doktor Morissey? Von der Concate-Nation?«
»Aus der Republik des Mare Serenitatis«, sagte der Mann. »Dr. Pongpianskul schickte mich zu dir.«
»Pongpianskul ist tot«, sagte Lindsay.
»Ja, so sagte man mir.« Morrissey nickte. »Auf Befehl des Vorsitzenden Constantine ermordet. Aber der Doktor hatte Freunde in der Republik. Und zwar so viele, daß er jetzt die ganze Nation beherrscht. Sein Titel lautet ›Hüter‹, und das Volk erlebt eine Wiedergeburt als die ›Neotenic Cultural Republic‹. Und ich bin der Vorbote und Verkünder der Revolution.« Er hielt inne. »Aber vielleicht sollte ich lieber Dr. Pongpianskul selbst sprechen lassen.«
Lindsay war benommen. »Ja, vielleicht solltest du das.«
Der Mann holte eine Videoscheibe hervor und schloß sie an sein Köfferchen an. Er reichte Lindsay die Scheibe, die flackernd lebendig wurde. Man sah darauf ein Gesicht: das Gesicht Pongpianskuls. Der Mann strich sich über die Zöpfe und zerzauste sie mit seinen runzeligen Lederhauthänden.
»Abélard, wie geht es dir?«
»Neville, du lebst?«
»Noch bin ich ein Bewohner des Fleisches, ja. Morrisseys Aktenkoffer ist mit einem Interaktiv-Expertensystem ausgestattet. Damit sollte eine anständige Unterhaltung möglich sein, trotz meiner Nichtanwesenheit.«
Morrissey räusperte sich. »Derartige Maschinen sind für mich neu. Aber ich glaube, ich sollte euch beide vielleicht ungestört miteinander sprechen lassen.«
»Ja, das wäre wohl am besten.«
»Also warte ich draußen im Vorzimmer.«
Lindsay schaute der Rückseite des Mannes nach. Die Kleidung Morrisseys verblüffte ihn. Lindsay hatte ganz vergessen, daß er sich selbst einmal ähnlich angezogen hatte, damals in der Republik.
Er widmete sich dem Scheibenbild. »Du siehst gut aus, Neville.«
»Danke. Ross hat meine kürzliche Verjüngung besorgt. Durch die Kataklysmatiker. Die gleiche Gruppe, die auch dich behandelte, Mavrides.«
»Behandelt? Die haben mich auf Eis gelegt.«
»Auf Eis? Das ist merkwürdig. Mich haben die Kataklysmatiker aufgeweckt. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt wie hier in der Republik, während ich vorgab, tot zu sein. Das waren lange zehn Jahre, Abélard. Elf, oder wieviel immer.« Pongpianskul zuckte die Achseln.
Lindsay gab dem Bildschirmgesicht den Blick. Das Abbild reagierte nicht auf den Blick, und die Bezauberung löste sich. Lindsay sprach langsam: »Also hast du die Republik angegriffen? Durch das Terrornetz der Kataklysmatiker?«
Die Scheibe lächelte mit dem Lächeln Pongpianskuls. »Die Kataklysmatiker hatten dabei eine Rolle gespielt, das gebe ich zu. Ach, du hättest die Geschichte genossen, Mavrides. Ich hab die jugendlichen Elemente ausgespielt. Es gab da eine Politgruppe, die sich Konservationisten nannte und die so - na, vielleicht vierzig, fünfzig Jahre alt war. Constantine benutzte sie, um an die Macht zu kommen, aber sie verabscheuten die Shapers ebenso sehr wie die Mechs. Was sie wirklich erstrebten, war ein ›menschliches Leben‹, so drollig das dir vorkommen mag. Und jetzt gibt es eine neue Generation von diesen Typen, die shaperdoktrinär erzogen wurde und diese Beeinflussung haßt. Aber dank der shaperischen Zuchtpolitik sind jetzt die Jungen in der Mehrzahl.«
Pongpianskul lachte. »Constantine benutzte die Republik als Lagerspeicher für shaperische militante Elemente. Er schuf hier einen Sumpf von Vorwänden und Schein. Als der Krieg in seine heiße Phase kam, stürzten die Militanten begierig zum Ring Council zurück, und an ihrer Stelle gingen hier die kataklysmatischen Superhellen in den Untergrund und versteckten sich. Constantine verbrachte zuviel Zeit im Ring und hat so die Geschehnisse aus dem Blick verloren ... Den Kataklysmatikern sagt meine Idee eines Kultur-Reservats zu. Das alles steht in unserer neuen Verfassung. Mein Kurier wird dir eine Kopie davon aushändigen.«
»Danke.«
»Was den Rest der Mitternachtsclique betrifft, so lief die Sache nicht gut... Ach, es ist so lang her, seit wir zuletzt miteinander sprachen. Übrigens habe ich dich durch deine Ex-Gemahlin ausfindig machen können.«
»Alexandrina?«
»Wie?« Das programmierte System geriet in Verwirrung; für einen Sekundenbruchteil flackerte die Persona. »Das war ziemlich schwierig, denn Nora wird strikt observiert.«
»Einen kleinen Augenblick mal.« Lindsay erhob sich aus seinem Drehstuhl und goß sich einen Drink ein. Ein Sturzbach von Erinnerungen an die Republik war durch ihn hindurchgerauscht, und so hatte er automatisch an seine erste eheliche Frau gedacht, an Alexandrina Tyler. Aber sie lebte natürlich nicht mehr in der Republik. Sie war den Constantinischen Säuberungen zum Opfer gefallen und zum Zaibatsu ins Exil geschickt worden.
Lindsay trat wieder vor den Schirm. Der sprach weiter: »Ross verzog sich auf die Cometarien, als G-T in Trümmer ging. Fetzko ist abgetaucht. Vetterling lebt in der Skimmers-Union und kriecht den Faschisten in den Hintern. Eiskiller haben sich Margaret Juliano geschnappt. Sie wartet immer noch auf das Tauwetter. Ich, ich habe Macht hier, Mavrides. Aber das genügt nicht, um wettzumachen, was wir verloren haben.«
»Wie geht es Nora?« fragte Lindsay.
Der Pseudo-Pongpianskul blickte ernst drein. »Sie bekämpft Constantine, wo er am stärksten ist. Ohne sie wäre mein Coup hier fehlgeschlagen; sie lenkte ihn ab ... Ich hatte gehofft, ich könnte sie hierher locken - und dich dazu. Sie war uns gegenüber stets so freundlich. Unsere erste Gastgeberin.«
»Und sie wollte nicht kommen?«
»Sie hat sich neu vermählt.«
Das Röhrchentrinkglas zerbarst in der eisernen Hand Lindsays. Dicke Tropfen des Likörs schwebten zu Boden.
»Aus rein politischen Gründen«, fuhr der Plattenschirm fort. »Sie braucht alle Verbündeten, die sie nur auftreiben kann. Und auf jeden Fall wäre es schwierig gewesen, euch zu mir zu holen. Keiner über Sechzig bekommt die Aufenthaltsgenehmigung für unsere Neotenic Cultural Republic. Mit Ausnahme natürlich von mir und meinen Beamten.«
Lindsay riß die Schnur aus der Scheibe. Dann half er dem kleinen Büroservoboter beim Aufsammeln der Glasscherben.
Als er - viel später - Morrissey wieder hereinbat, wirkte der Mann scheu und unsicher. »Bist du damit ganz durch, Sir? Ich habe den Auftrag, die Scheibe zu löschen.«
»Es war sehr freundlich von dir, sie mir zu überbringen.« Lindsay deutete auf einen Sessel. »Und danke für deine Geduld, daß du so lange gewartet hast.«
Morrissey löschte den Gedächtnisspeicher des Konstrukts und steckte die Scheibe in die Aktenmappe zurück. Dann schaute er Lindsay eindringlich ins Gesicht.
»Hoffentlich habe ich keine schlimmen Nachrichten überbracht.«
»Es war bemerkenswert«, sagte Lindsay. »Vielleicht sollten wir beide uns einen Drink genehmigen, um den Anlaß gebührend zu feiern.«
Ein Schatten fuhr über Morrisseys Gesicht.
»Verzeih mir«, sagte Lindsay. »Ich war wohl sehr taktlos.« Er verstaute die Flasche. Es war nicht mehr viel in ihr.
»Ich bin sechzig Jahre alt«, sagte Morrissey. Er schien sich auf seinem Stuhl nicht sehr wohlzufühlen. »Also haben sie mich rausgeworfen. Aber sie waren sehr höflich dabei.« Er lächelte schmerzlich. »Ich war früher mal Konservationist. Bei der ersten Revolution war ich achtzehn. Ziemlich komisch, wie? Jetzt bin ich ein Sundog.«
Lindsay war vorsichtig. »Ich bin hier nicht ganz ohne Einfluß. Und nicht ganz ohne Mittel. Demboswska hat zahlreiche Flüchtlinge und Asylanten aufgenommen. Ich kann einen Platz für dich finden.«
»Du bist sehr freundlich.« Morrisseys Gesicht war starr. »Ich habe als Biologe gearbeitet - für die Lösung der Ökologieprobleme des Landes. Dr. Constantine hat mich ausgebildet. Aber jetzt, fürchte ich, bin ich längst nicht mehr auf dem neuesten Stand.«
»Na, dem ließe sich ja abhelfen.«
»Ich habe einen Beitrag für dein Journal mitgebracht.«
»Ah. Du interessierst dich für die Investoren, Dr. Morissey?«
»Ja. Hoffentlich entspricht mein Artikel eurem Standard.«
Lindsay zwang sich zu einem Lächeln. »Wir werden zusammen den Text durchsprechen.«