1. Kapitel
THE MARE TRANQUILLITATIS PEOPLE'S
CIRCUMLUNAR
ZAIBATSU{1}: 27-12-'15
Sie expedierten Lindsay in der billigsten Art von mechanistischem Schlepp ins Exil. Zwei Tage lang war er taub und blind, von Drogen betäubt, war sein Körper in eine dichte Matrix von Dezelerationspaste eingeschlossen.
Nach dem Abschuß vom Frachtausleger der Republik war der Schleppsack mit kybernetischer Genauigkeit in den Polarorbit eines anderen Zirkumlunars getrieben. Es gab insgesamt zehn dieser Welten in Mondumlaufbahn, und sie waren nach den lunaren Maria und Kratern benannt, aus denen die Rohstoffe zu ihrem Bau stammten. Sie waren als erste National-Staaten dazu übergegangen, sämtliche Beziehungen zu der erschöpften, ausgeplünderten Erde (Terra) abzubrechen. Ein Jahrhundert lang war ihre Lunar-Allianz Symbol zivilisatorischer Verflechtung, war der merkantile Verkehr zwischen diesen »verketteten« Concatenatenwelten sehr dicht gewesen.
Seit jenen Tagen der Herrlichkeit allerdings war die Concatenation immer mehr von den jüngeren Vorstößen in größere Tiefen des Weltraums in den Schatten gestellt worden, und der Lunarbereich war mehr und mehr zu provinziellem Stillstand verkommen. Die Allianz war zusammengebrochen, verdrießlicher Isolationismus und technischer Verfall hatten sich ausgebreitet. Die zirkumlunaren Welten waren aus dem Stand der Gnade gefallen, und keine davon in stärkerem Maße als jene, die man Lindsay als Exil bestimmte.
Seine Ankunft wurde von Kameras überwacht. Nachdem ihn die Andockschleuse seines Luftsacks ausgespuckt hatte, schwebte er nackt und schwerelos in der Zollstation des Zirkumlunaren Volks-Zaibatsu des Meeres der Stille. Die Kammer bestand aus stumpfem mit Streifen zerfressenen Epoxydklebers, wo man die Vertäfelung weggerissen hatte. Früher einmal war das eine Flitterwochensuite gewesen, in der sich Neuvermählte fröhlichen Aktivitäten in der Schwerelosigkeit hingeben konnten. Nun war der Raum zur kahlen bürokratischen Kontrollstelle umfunktioniert. Lindsay war nach seinem Trip noch unter der Einwirkung der Drogen. An seiner rechten Armbeuge hing ein Tropfschlauch, durch den er wiederbelebt werden sollte. Schwarze Adhäsionsplättchen, die Biomonitoren, sprenkelten seine nackte Haut. Er teilte den Raum mit dem Brummen einer Kamera. Das Zero-G-Videosystem verfügte über zwei Paar kolbenbetriebene kybernetische Arme.
Lindsays verschwiemelte graue Augen öffneten sich. Auf seinem hübschen Gesicht mit der reinen blassen Haut und den elegant geschwungenen Brauen lag der schlaffe Ausdruck der Betäubung. Die scharfgekrausten Haare fielen ihm über die hohen Wangenknochen, auf denen noch Spuren eines drei Tage alten Rouge zu erkennen waren.
Seine Arme zuckten, als die Stimulantien zu wirken begannen. Dann war er plötzlich wieder bei Sinnen. In einem wogenden Schub körperlicher Energie setzten seine Trainingsreflexe wieder ein, so heftig, und plötzlich, daß der Krampf ihm die Zähne schnattern ließ. Seine Augen streiften durch den Raum. Sie glitzerten vor unnatürlicher Wachheit. Die Gesichtsmuskulatur bewegte sich, wie sich kein menschliches Gesicht sollte bewegen dürfen, und auf einmal lächelte er. Er betrachtete sich, dann lächelte er ungezwungen und mit weltgewandter Nachsicht in die Kamera.
Sogar die Luft schien im Strahlen seiner Netter-Kumpel-Masche wärmer zu werden.
Der Schlauch in seinem Arm löste sich und schlängelte in die Wand zurück. Die Kamera begann zu sprechen.
»Du bist Abélard Malcolm Tyler Lindsay? Aus der Mare Serenitatis Circumlunar Corporate Republic? Du erstrebst politisches Asyl? Du führst in deinem Gepäck oder als Implantat deiner Person keinerlei biologisch aktive Stoffe mit? Du importierst keinerlei Explosivstoffe oder Software-Angriffs-Systeme? Deine Intestinalflora wurde sterilisiert und durch Mikroben nach Zaibatsu-Standard ersetzt?«
»Ja, das trifft genau zu«, antwortete Lindsay in eben dem Japanisch, das die Kamera gesprochen hatte. »Ich habe kein Gepäck.« Er konnte sich geläufig in der modernisierten Form dieser Sprache ausdrücken, die ein mundschlüpfiger Merkantildialekt war und sämtlicher ehrender Höflichkeitsfloskeln entbehrte. Geläufigkeit in Fremdsprachen war Teil seiner Ausbildung gewesen.
»Du wirst sehr bald in einen Bezirk entlassen, der ideologisch entkriminalisiert wurde«, fuhr die Kamera fort. »Ehe du den Immigrations- und Zollbereich verläßt, müssen wir dich darauf hinweisen, daß es bestimmte Beschränkungen für deine Aktivitäten gibt, die du akzeptieren mußt. Ist dir der Grundsatz der Bürgerlichen Rechte vertraut?«
Lindsay blieb vorsichtig. »In welchem Zusammenhang?«
»Zaibatsu erkennt ein Bürgerrecht an: das Recht auf den Tod. Du kannst dieses Recht jederzeit und unter allen Umständen beanspruchen. Es genügt, es einfach zu verlangen. Unsere Audiomonitoren befinden sich überall im Zaibatsu. Wenn du dein Bürgerrecht beanspruchen willst, wirst du unmittelbar und schmerzlos terminiert. Ist dir das klar?«
»Es ist mir klar«, sagte Lindsay.
»Die zwangsweise Lebensterminierung wird bei bestimmten anderen Verhaltensweisen verfügt«, sprach die Kamera weiter. »Wenn du eine materielle, physische Bedrohung für das Habitat darstellst, wirst du getötet. Wenn du unsere Monitorsysteme störst, wirst du getötet. Wenn du die Sterilisationszone überschreitest, wirst du getötet. Ferner wirst du getötet, wenn du ein Verbrechen gegen die Menschheit begehst.«
»Verbrechen gegen die Menschheit?« sagte Lindsay. »Welche Definitionen liegen dem zugrunde?«
»Es handelt sich dabei um biologische und prothetische Bestrebungen, die wir für pervers und abweichlerisch erklärt haben. Exakte Information bezüglich unserer Toleranzgrenzen in dieser Hinsicht unterliegt der Geheimhaltung.«
»Verstehe«, sagte Lindsay. Damit hatten sie, soviel begriff er, carte blanche und konnten ihn jederzeit und mit nahezu jeder Begründung töten. Doch damit hatte er gerechnet. Diese Welt war eine Freistatt für Sundogs, für vom Sonnenstich getroffene Irre: Abtrünnige, Verräter, Verbannte, Gesetzesbrecher und lustige Outlaws. Er bezweifelte, daß eine Welt voller Sundogs auf andere Weise funktionieren konnte. Es gab einfach viel zu viele fremde Technologien, die sich frei im zirkumsolaren Raum herumtrieben. Hunderte, allem Anschein nach harmlos-unschuldiger Tätigkeiten - sogar die Züchtung von Schmetterlingsmotten - konnten sich als potentiell tödlich erweisen.
Wir sind allesamt Verbrecher, dachte Lindsay.
»Wünschst du dein Bürgerliches Recht in Anspruch zu nehmen?«
»Nein, danke«, sagte Lindsay höflich. »Aber es ist eine sehr große Beruhigung für mich, daß die Zaibatsu-Regierung mir freundlicherweise dieses Recht zugesteht. Ich werde eure Großzügigkeit nicht vergessen.«
»Du brauchst nur zu rufen«, sagte die Kamera mit spürbarer Selbstzufriedenheit.
Das Interview war beendet. Schwerelos taumelnd streifte Lindsay sich die Biomonitoren ab. Die Kamera überreichte ihm eine Kreditkarte und den standardisierten Zaibatsu-Coverall.
Er kletterte in den sackartigen Anzug. Er war allein in die Verbannung gegangen. Auch Constantine hatte unter Anklage gestanden, aber der war - wie bei ihm üblich - zu schlau gewesen. Über fünfzehn Jahre hinweg war Constantine sein engster Freund gewesen. Lindsays Familie hatte die Freundschaft mit einem Plebejer nasenrümpfend mißbilligt, aber er hatte ihnen kühn die Stirn geboten.
In jenen Tagen hatten die Clans-Ältesten sich der Hoffnung hingegeben, daß es ihnen möglich sein werde, zwischen den miteinander wetteifernden Supermächten eine bequeme, zaunhockerische Neutralität bewahren zu können. Sie waren geneigt gewesen, den Shapers Vertrauen entgegenzubringen, und so hatten sie Lindsay zum RC, dem »Ring Council« entsandt, damit er dort zum Diplomaten ausgebildet werde. Und zwei Jahre später hatten sie Constantine gleichfalls delegiert, und zwar für ein Studium in Biotechnologie.
Jedoch hatten dann die Mechanisten die Republik überwältigt, und Lindsay und Constantine wurden zu »unerwünschten Personen« und zu unangenehmen Erinnerungen an eine verfehlte Außenpolitik. Dies brachte sie aber einander nur noch näher und schweißte sie zusammen, und ihr verdoppelter Einfluß zeitigte eine geradezu ansteckende Wirkung unter den Plebejern und den jüngeren Aristos. Gemeinsam waren sie eine beachtliche und furchteinflößende Potenz. Constantine mit seinen geschmeidig verdeckten Langzeitplänen und seiner stählernen Entschlossenheit; und Lindsay, als Frontmann und Aushängeschild, brachte seine geschmeidige Überzeugungsfähigkeit und seine publikumswirksame Eleganz ein.
Dann aber war Vera Kelland zwischen die Freunde getreten. Vera: die Artistin, Actrice und Aristokratin, die erste Märtyrerin der Konservationistenbewegung. Vera glaubte an die Sache; sie war die Muse der Bewegung, und sie klammerte sich an ihre Überzeugung mit einem tiefen Ernst, den weder Constantine noch Lindsay aufzubringen vermochten. Auch sie war bereits ehelich verbunden - mit einem Mann, der sechzig Jahre älter war als sie; aber der Ehebruch verlieh der ausgedehnten Verführungskampagne dann nur eine zusätzliche Würze. Am Ende hatte Lindsay sie für sich gewinnen können. Aber gleichzeitig mit ihrer Hingabe und seinem Besitz ihrer Liebe ging ihre tödliche Entschlossenheit weiter.
Sie wußten alle drei, daß ein spektakulärer Suizid-Akt die Republik zu verändern imstande sein würde, wenn sämtliche anderen Mittel hoffnungslos ins Leere verpuffen sollten. Sie trafen ein Abkommen, schlossen einen Selbstmordpakt: Philip sollte weiterleben, um die Arbeit voranzutreiben; dies sollte ihm Trost bieten für den Verlust Veras und die freundlose Einsamkeit, mit der er nach Veras und Lindsays Demonstrativtod würde zu leben haben. Dann hatten sie alle drei fieberhaft und verstohlen gemeinsam auf ihren Tod hingearbeitet, bis dann ihr, Veras, Tod wirklich gekommen war und die glatten gedankenschlüpfigen Ideale in klebrige, blutige Wirklichkeit verwandelt hatte.
Die Kamera ließ den Sicherungsschuber der Zollschleuse aufklappen. Das Geräusch war knirschend und verriet schlechtgewartete Hydraulik. Lindsay schüttelte die Vergangenheit von sich. Er schwebte durch einen kahlgeplünderten Gang auf das schwache Tageslichtflimmern zu.
Er kam auf dem Flugzeuglandeplatz heraus, der von schmutzigen Maschinen vollgestopft war.
Das Landekissen befand sich genau zentriert auf der zentralen Zero-Gravitätsachse der Kolonie. Und Lindsay konnte von hier aus den Zaibatsu in seiner Gesamtlänge durch grandiose fünf Kilometer düsterer und stinkender Luft begutachten.
Zuerst fielen ihm die Färbung und Ausformung der Wolken auf.
Die Wolken waren mißgestaltet und übermäßig gebläht und hatten einen scheußlichen gelblichen Schimmer. Sie zerfaserten, rissen auf und wurden in den übelriechenden Aufwinden der Landparzellen des Zaibatsu zerquetscht und verformt.
Der Gestank war schlimm. Auf jeder der zehn Zirkumlunarwelten der Concatenation gab es einen bestimmten »Ortsgeruch«. Lindsay erinnerte sich, daß ihm seine eigene Heimatrepublik als »stinkend« erschienen war, als er nach dem Aufenthalt an der Shaper-Akademie zum erstenmal nach Hause zurückkehrte. Allerdings kam ihm die Luft an diesem Ort hier so stinkend vor, daß sie einen ersticken konnte. Schleim begann aus seiner Nase zu träufeln.
Jede der Concatenatenwelten sah sich den Problemen biologischer Veränderung im Verlauf der Alterung des Habitats gegenüber.
Fruchtbarer Boden erforderte pro Kubikzentimeter ein Minimum von zehn Millionen Zellbakterien. Und dieser unsichtbare Grundstock von Lebewesen bildete die Voraussetzung für alles Wachstum und alle Frucht. Die Menschheit hatte dies in den Weltraum hinausgetragen.
Aber die Menschheit und ihre Symbionten hatten die Schutzdecke der Luftatmosphäre abgestreift. Die Strahlungspegel stiegen unermeßlich hoch. Die Zirkumlunaren Welten verfügten zwar über mehrere Meter dicke Abschirmungen aus Mondgeröll, doch dies schützte sie nicht vor den plötzlich auftretenden solaren Flares, den Hitzeausbrüchen der Sonne, und dem unkalkulierbaren Beschuß durch kosmische Strahlung.
Ohne die Bodenbakterien war das Agrarland weiter nichts als eine lebenlose Schicht von importiertem Mondstaub. Und wo es die Mikroben gab, bestand das unablässige Risiko von Mutationen der Flora und Fauna.
Die »Republik« führte einen harten Kampf, um ihre »Sauermarsch« unter Kontrolle zu bekommen. Aber im Zaibatsu hatte sich die Bodenübersäuerung zu einer Epidemie ausgeweitet. Pilzmutationen hatten sich wie Bohrschlämme bei Ölquellen ausgebreitet und unter der Krume eine Myzelkruste gebildet. Diese klebrig-dichte Schicht war wasserabweisend und erstickte die Bäume und das Gras. Die abgestorbene Vegetation wurde von Fäulnis befallen. Der Ackerboden trocknete aus, die Luft wurde feuchtigkeitsgesättigter, auf den sterbenden Feldern gedieh der
Mehltau, in den Obstpflanzungen blühte der Schimmel, graue stecknädelchengroße pelzige Knötchen, die sich zu unregelmäßigen Wucherungen ausbreiteten ...
Wenn die Situation einmal bis zu diesem Stadium verkommen war, konnte die Welt nur durch verzweifelte Anstrengungen »gerettet« werden. Man mußte die Bevölkerung evakuieren, den Sauerstoffvorrat über die Dekompressionsschleusen in den Weltraum entweichen lassen, die ganze Innenfläche mußte im Vakuum steril kauterisiert werden - und dann mußte man von vorn mit allem neu beginnen. Die Kosten waren würgend hoch. In Kolonien, die ein solches Problem zu meistern hatten, ergaben sich zusätzliche Schwierigkeiten durch massierte Abwanderung und Republikflucht, denn Tausende zogen es vor in das unsichere Grenzland des noch unerschlossenen Weltraumes zu entrinnen. Und diese Flüchtlinge hatten sich im Laufe der Zeit ihre eigenen Sozialsysteme aufgebaut. Sie schlossen sich den Mechanisten-Kartellen des Asteroidengürtels an oder dem Shaper-Ring-Council in der Saturn-Umlaufbahn.
Was diesen Volks-Zaibatsu betraf, so war der Großteil der Bevölkerung emigriert, aber eine starrköpfige Minderheit weigerte sich, die Niederlage zur Kenntnis zu nehmen.
Lindsay begriff dies. Die sauertöpfisch-kränkliche Verelendung hier entbehrte nicht einer gewissen Größe.
Träge Windwirbel schorften über den klebrigen Boden und breiteten lange Strähnen verfaulenden Gruses in der dämmerdunstigen Luft. Die gläsernen Sonnenschlitze waren dreckverkrustet von einem klebrigen Amalgam aus Staub und Moder. Die Landpaneele waren stellenweise explodiert; man hatte sie mit behelfsmäßigen Spanndichtungen gesichert.
Es war kalt hier. Da die Glassektionen so verdreckt, so zerscherbt waren und das Tageslicht dadurch zu einer Art trübverschmiertem Zwielicht reduziert war, mußten die Leute hier die Maschinerie wahrscheinlich im Ganztagsrhythmus laufen lassen, einfach um zu verhindern, daß alles hier gefror. Die Nacht war zu gefährlich, man durfte sie nicht riskieren. Nacht - das war unerlaubt.
Lindsay schob sich gewichtslos das Landedeck entlang. Die Flugmaschinen waren per Sauganker an dem zerkratzten Metall befestigt. Es gab da ein Dutzend Menschenmuskelkraft-Modelle (in ziemlich üblem Wartungszustand) und einige wenige batteriebestückte Elektromodelle. Er rüttelte an den Streben eines uralten Elektrofliegers, dessen Tuchschwingen mit einem japanischen Karpfenmuster verziert waren. Dreckverschmierte Gleiter ermöglichten Landungen im Schwerkraftsbereich. Lindsay schwebte in den Skelettsattel und schob seine Stoff/Plastik-Schuhe in die Tretbügel.
Aus einer der Taschen seines Coveralls im Brustteil zückte er seine Kreditkarte. Das goldgeränderte schwarze Plastikplättchen wies ein rotes LED-Readout auf, das den Credit-Stunden-Service angab. Er schob das Plättchen in einen Schlitz, und die winzige Apparatur erwachte summend zum Leben.
Er startete und erwischte einen Fallwind, bis er spürte, wie die künstliche Schwerkraft sich bemerkbar machte. Er orientierte sich nach dem Gelände unterhalb von ihm.
Links von ihm wurde ein Sonnenlichtpaneel stückweise gesäubert. Ein Trupp klobiger Roboter kratzte und wischte an dem gekörnten Glas herum. Lindsay dippte den Bug seines Ultraleicht-Pedalos, um etwas genauer sehen zu können. Die Roboter waren Zweifüßler - und recht plump konstruiert. Und dann begriff Lindsay auf einmal, daß es menschliche Wesen waren, in Schutzanzügen und mit Gasmasken.
Balken von klarem Sonnenlicht stießen durch die Glasscheibe wie scharfe Scheinwerfer in die trübe Dämmernis. Er flog in einen der Lichtschäfte hinein, drehte eine Pirouette und ließ sich von der Aufdrift wieder hochtragen.
Der Lichtschein bestrich das an der gegenüberliegenden Wandung befindliche Landpaneel. Mitten in diesem lagen wie Pockennarben Speichertanks, in denen ein dickliches grünes Gebräu über den Rand sickerte: Algen. Der letzte in diesem Zaibatsu noch vorhandene Agrarbetrieb war eine Sauerstoff-Farm.
Er tauchte tiefer über die Tanks herab. Dankbar atmete er die angereicherte Luft ein. Der Schatten seines Luftrades huschte über ein Dschungelgewirr von Raffinerie-Pipelines.
Während er nach unten schaute, entdeckte er plötzlich einen zweiten Schatten, der hinter ihm herflog. Er radelte abrupt nach rechts.
Mit kybernetischer Exaktheit verfolgte der Schatten seine Manöver. Lindsay brachte sein Flugzeug in scharfem Winkel nach oben, drehte sich auf dem Sitz um und blickte nach rückwärts.
Als er seinen Verfolger schließlich entdeckte, war er bestürzt, daß dieser ihm so nahe war. Der blatternarbige gelbgraue Tarnanstrich ließ das Luftfahrzeug vor dem Innenhimmel von verfallenen Landpaneelen vollkommen verschwinden. Es handelte sich um ein Aufklärungsinstrument, einen ferngesteuerten Flugroboter. Er hatte flache rechteckige Flügel und unter einer getarnten Ausstoßhaube einen lautlosen hinteren Antrieb.
Knubblige Zylindertubusse ragten aus dem Roboterrumpf. Die beiden auf Lindsay gerichteten Tubusse konnten Telekameras sein. Oder Röntgen-Laser. Bei der Einstellung auf die passende Frequenz konnten solche X-R-Strahlen-Laser einen Menschen innerlich carbonisieren, ohne daß auf seiner Haut die geringsten Spuren sichtbar gewesen wären. Und - diese X-Strahlen waren unsichtbar.
Die Vorstellung machte ihm Angst und bewirkte zugleich, daß ein Gefühl abgründigen Ekels in ihm aufstieg. Menschenwelten waren zerbrechliche, hochgefährdete Orte, denn sie besaßen und enthielten die kostbare Luft und die kostbare Wärme als Schutz gegen das feindliche Nichts des Weltraums. Die Sicherung und Sicherheit der Welten war das allgemein akzeptierte Grundprinzip jeglicher Ethik und Moral. Und Waffen waren gefährlich, und somit waren sie niederträchtig und abscheulich. In dieser »Sonnenköter«-Welt, das war ihm als Outlaw klar, ließ sich nur mittels Waffen eine Ordnung aufrechterhalten, aber trotzdem empfand er eine tiefverwurzelte instinktive Empörung gegen diese Tatsache.
Dann flog Lindsay in den gelblichen Nebel, der sich dickblasig um die Zaibatsu-Zentralachse wölkte. Als er wieder heraustauchte, war die andere Flugmaschine verschwunden.
Er würde wohl nie herausfinden, wenn und wann sie ihn beobachteten. In jeder Sekunde konnten unsichtbare Finger einen Schalter kippen - und er würde abstürzen.
Die wilde Heftigkeit seiner Gefühle kam überraschend für ihn. Seine Diplomatentechnik hatte sich irgendwohin verflüchtigt. Im Hintergrund seiner direkten optischen Wahrnehmung blinkte, willentlich nicht zu beeinflussen, das Bild von Vera Kelland- und wie sie im Sturzflug abwärts geschossen kam, wie sie auf dem Boden aufprallte und wie die leuchtenden Schwingen ihres Luftpedalos dabei wie Papier zerknittert waren ... Er drehte nach
Süden ab. Jenseits der verwüsteten Paneele sah er einen breiten Ring aus reinstem Weiß wie einen Gürtel um die Welt liegen. Er umringte die Südwand des Zaibatsu.
Er warf einen Blick zurück. Die Nordwand war konkav und vollgestopft mit verlassenen Fabriken und Warenspeichern. Die Südwand war kahl, glatt und vertikal. Sie schien aus Backsteinen zu bestehen.
Der Boden darunter war ein breiter Ring von blitzsauber geharktem weißen Kies. Da und dort erhoben sich in diesem Meer von Steinchen rätselhaft geformte Felsblöcke wie dunkle Inseln.
Lindsay ging tiefer, um sich das genauer anzusehen. Eine flache Batterie von Waffenbunkern begann zu kreisen, dünne bläuliche Geschützrohre richteten sich auf ihn. Er befand sich über der Sterilisierten Zone.
Hastig stieg er wieder höher.
In der Mitte der Südwand öffnete sich drohend ein Loch. Überwachungsflugzeuge schwärmten wie Hornissen aus und ein und darum herum. Um den Rand ein Gestrüpp von Mikrowellenantennen, die verkleidete Kabel hinter sich herzogen.
Er konnte nicht durch das Loch blicken. Hinter jener Wand lag eine halbe andere Welt, aber Sonnenhunden war es nicht erlaubt, auch nur einen Blick von ihr zu erhaschen.
Lindsay glitt wieder nach unten. Die Drahtverspannungen des Ultraleichtfliegers sangen straff.
Im Norden, auf dem zweiten der drei Landpaneele des Zaibatsu, entdeckte er, welche Arbeit die Sundogs, die Sonnenhunde, leisteten. Dort hatten die Flüchtlinge breite Streifen im Industriesektor saniert und begradigt und aus dem Altmaterial plumpe luftdichte Kuppeln errichtet.
Diese Kuppeln waren teils kleine aufgepumpte Plastikblasen, teils vielfarbige abgedichtete geodätische Konstrukte, und es gab auch eine einzelstehende riesengroße hermetische Bucky-Fuller-Kuppel.
Lindsay umkreiste diese größte Kuppel in ziemlicher Nähe. Die Außenfläche war von schwarzem Isolierschaum überzogen. Buntgesprenkeltes Mondgestein bedeckte den unteren Rand der Kuppel, und im Gegensatz zu den übrigen Geodätkonstrukten gab es hier weder Antennen noch Masten.
Er erkannte es sogleich. Er hatte gewußt, daß es sich hier befinden würde.
Lindsay war mulmig zumute. Er schloß die Augen und beschwor sein Shapertraining herauf, die in ihm eingebettete Stärke, die Ernte aus einer zehnjährigen harten psychotechnischen Ausbildung.
Er spürte, wie sein Denken geschmeidig in den anderen, den zweiten Bewußtseinsmodus hinüberglitt. Seine Körperhaltung wandelte sich, seine Bewegungen wurden glatter, die Herzfrequenz erhöhte sich. Zuversicht und Selbstvertrauen durchtränkten ihn, und er lächelte. Sein Kopf und sein Denken erschienen ihm geschärfter, sauberer, von Hemmnissen befreit, bereit zu Hakenschlägen, Windungen und Manipulationen. Angst und Schuldgefühle sanken in sich zusammen und lösten sich von ihm. Bedeutungslose Spinnweben.
Wie stets in diesem Sekundärzustand empfand Lindsay für die frühere Schwäche nur Verachtung. Dies hier war sein echtes, wahres Selbst: pragmatisch, blitzschnell, unbelastet von Gefühlsballast.
Es war nicht der Augenblick für halbherzige Maßnahmen. Seine Pläne standen fest. Falls er hier überleben wollte, würde er der Situation an die Gurgel gehen müssen.
Er entdeckte die Luftschleuse des Gebäudes. Er schob sein Aeroped zur Gleitlandung heran. Er zog die Kreditkarte aus dem Schlitz und stieg aus. Die Luftmaschine hüpfte in den trüben Schlammhimmel zurück.
Über einen Pfad von Trittsteinen ging er dann zu einer in die Kuppelwandung eingelassenen nischenartigen Kammer. Dort blitzte ein Deckenpaneel in grellem Leuchten auf. Links in der Wand befand sich neben einem gepanzerten Videoschirm das Linsenauge einer Kamera. Unterhalb des Schirms schimmerte aus einem Kreditkartenschlitz und dem Stahlgeviert eines Einschubschachtes ein Lichtschein.
Eine viel größere Gleittür an der Innenwand sicherte die Luftschleuse. Eine dichte Schicht unberührter Drecksedimente füllte die Schlitze der Luftschleuse. Die Nephrine Black Medicals hatten anscheinend nicht viel für Besucher übrig.
Lindsay memorierte seine Lügen, während er geduldig wartete, wartete.
Zehn Minuten verstrichen. Er mühte sich, den Schleimfluß in seiner Nase zu bremsen. Plötzlich erwachte der Videoschirm grell zum Leben. Das Gesicht einer Frau erschien.
»Steck deine Kreditkarte in den Schlitz«, sagte sie aufjapanisch.
Lindsay besah sich die Frau genau, um ihre Kinesikpotenzen zu bewerten. Sie war mager, dunkeläugig, von unbestimmbarem Alter und trug die Haare braun und kurzgeschoren. Die Pupillen wirkten erweitert. Sie hatte einen weißen Arztkittel an, mit Metallabzeichen am Kragen: einen goldenen Stab mit zwei darumgewundenen Schlangen. Die Schlangen waren aus schwarzem Email und hatten rote Edelsteinaugen. Im geöffneten Rachen sah man als Zähne Injektionsspritzen.
Lindsay lächelte. »Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen«, sagte er.
»Du kaufst meine Aufmerksamkeit, oder? Steck die Karte hinein!«
»Ich habe nicht darum gebeten, daß du auf diesem Bildschirm erscheinst«, sagte Lindsay auf englisch. »Du kannst dich jederzeit abmelden.«
Die Frau starrte ihn verärgert an. »Selbstverständlich steht es mir frei, das zu tun«, antwortete sie englisch. »Und es steht mir auch frei, dich hier hereinschleppen und in Stücke säbeln zu lassen. Weißt du nicht, wo du dich befindest? Das hier ist kein billiger Sundog-Betrieb! Wir sind die Nephrine Black Medicals.«
In der Republik war diese Organisation unbekannt. Doch Lindsay wußte aus seiner Zeit im Ring Council über sie Bescheid: diese Leute waren verbrecherische Biochemiker, angesiedelt am Saum der Unterwelt der Shaperwelten. Abgeschottet, brutal und bösartig. Er hatte gewußt, daß sie über Festungen verfügten: schwarze Labors, überall im System verstreut. Und hier war eine dieser Festungen.
Er lächelte schmeichlerisch. »Weißt du, ich würde schon gern reinkommen. Allerdings lieber unzerstückelt.«
»Du machst wohl Witze«, sagte die Frau. »Du bist nicht mal die Credits wert, die es uns kosten würde, dich zu desinfizieren.«
Lindsay hob die Augenbrauen. »Ich habe die Standardmikroben.«
»Hier ist alles steril. Wir Nephrinen führen ein reines Leben.«
»Also könnt ihr euch nicht frei nach draußen bewegen und wieder zurück?« fragte Lindsay mit geheucheltem Erstaunen angesichts einer derartigen Neuigkeit. »Ihr seid da drin eingesperrt?«
»Wir leben hier«, sagte die Frau. »Du bist draußen und ausgesperrt.«
»Was für ein Jammer«, sagte Lindsay. »Ich wollte eigentlich hier Leute anwerben. Schließlich wollte ich ja nur fair sein.« Er zuckte die Achseln. »Na ja, war angenehm, mit dir zu reden, aber die Zeit drängt. Ich mach mich wieder auf den Weg.«
»Stop!« sagte die Frau. »Du gehst hier nicht weg, bevor ich es dir erlaube.«
Lindsay tat bestürzt. »Hör mal«, sagte er. »Niemand bezweifelt euren Ruf. Aber ihr seid da drin eingesperrt. Ich kann euch für meine Zwecke nicht brauchen.« Er fuhr sich mit seinen langen Fingern durch die Haare. »Das Ganze hat also gar keinen Zweck.«
»Was willst du damit sagen? Und wer bist du überhaupt?«
»Lindsay.«
»Lin Dze? Du hast doch gar kein asiatisches Genmaterial.«
Lindsay blickte in die Kameralinse und stellte festen Augenkontakt mit der Frau her. Dieser Eindruck war über Video nur schwer zu simulieren, aber da es so unerwartet geschah, wirkte es auf der Stufe des Unbewußten sehr stark. »Und wie ist dein Name?«
»Cory Prager«, schnaubte sie. »Doktor Prager.«
»Cory, ich vertrete Kabuki Intrasolar. Wir sind ein kommerzieller Theaterbetrieb.« Lindsay log hinreißend weiter. »Ich stelle eine Produktion auf die Beine, und dafür suche ich Mitwirkende. Die Gagen sind großzügig. Aber da ihr ja, wie du sagst, nicht rauskommen könnt, verschwende ich hier nur meine Zeit, um's mal ganz ehrlich zu sagen. Ihr werdet ja nicht einmal zur Vorstellung kommen können.« Er seufzte. »Aber das ist eindeutig nicht meine Schuld. Dafür bin ich nicht verantwortlich.«
Die Frau lachte unangenehm. Doch Lindsay hatte ihre Kinesik im Griff, und er erkannte genau, wie unsicher sie war. »Meinst du, es kümmert uns im geringsten, was sie da draußen tun? Wir haben hier ein schönes abgekapseltes Marktmonopol. Alles, was uns interessiert, sind die Credits der Käufer. Alles übrige ist bedeutungslos.«
»Es freut mich, daß du das sagst. Ich wünschte, andere Gruppen würden diese eure Einstellung teilen. Ich, ich bin Künstler, kein Politiker. Ich wollte, ich könnte Komplikationen ebenso leicht vermeiden wie ihr.« Er breitete die Arme aus. »Und da wir uns jetzt ausgesprochen haben und verstehen, werde ich mich wieder auf den Weg begeben.«
»Warte! Was sind das für Komplikationen?«
»Also, ich bin ja nicht daran schuld.« Lindsay hielt sie hin. »Es sind die anderen Gruppen. Ich habe noch nicht mal die Besetzung zusammen, und schon fangen sie an zu intrigieren. Das Stück bietet ihnen die Möglichkeit, Druck hinter die Verhandlungen zu setzen.«
»Wir können unsere Monitors losschicken und uns über sie deine Vorstellung ansehen.«
»Oh, ich bedaure«, sagte Lindsay förmlich. »Wir vergeben keine Aufzeichnungs- oder Senderechte für unsere Vorstellungen. Damit würden wir uns unser Publikum verderben.« Er klang wahrhaftig betrübt. »Aber ich darf es nicht riskieren, meine Truppe zu enttäuschen. Heutzutage kann ja jeder Schauspieler sein. Mit Gedächtnispillen ist das ganz leicht.«
»Wir verkaufen Gedächtnisdrogen«, sagte die Frau. »Vasopressine, Carbolica, Endorphine. Stimulantia, Tranquilizer, Lacher, Kreischer, Brüller, was du haben willst. Wenn es für was einen Markt gibt, die schwarzen Chemiker von Nephrine können es herstellen. Wenn wir es nicht synthetisieren können, extrahieren wir es gefiltert aus Körpergewebe. Alles, was man will. Alles, was man sich nur vorstellen kann.« Sie senkte die Stimme. »Wir sind Freunde von denen, du weißt schon. Denen jenseits der Mauer. Sie schätzen uns enorm.«
Lindsay ließ die Augen kreisen. »Natürlich.«
Sie wandte den Blick aus dem Kamerafeld; er hörte das hastige Rattern einer Tastatur. Sie blickte auf. »Du hast bereits mit den Huren gesprochen, stimmt's? Mit der Geisha Bank.«
Lindsay demonstrierte vorsichtige Zurückhaltung. Die Geisha Bank war ihm neu. »Es ist sicher besser, wenn ich über meine Verhandlungen Stillschweigen wahre.«
»Wenn du ihren Versprechungen glaubst, dann bist du ein Idiot.«
Lindsay lächelte verlegen. »Was bleibt mir denn für eine Wahl? Es besteht doch eine natürliche Verwandtschaft zwischen Bett- und Bühnenkünstlern.«
»Die müssen dich vor uns gewarnt haben.« Die Frau drückte sich den einen Kopfhörer ans linke Ohr und lauschte unkonzentriert.
»Ich hab dir doch gesagt, daß ich mich bemühe, fair zu bleiben«, sagte Lindsay. Abrupt fiel der Ton am Schirm aus, und die Frau redete hastig in ein Stecknadelmikrofon. Ihr Gesicht kippte weg, und an die Stelle trat das runzelnverätzte Gesicht eines älteren Mannes. Lindsay erhaschte kurz, wie der Mann wirklich aussah - weiße Haare, wirr und stachelig durcheinandergezaust, gerötete Augenlider - ehe ein Video-Trimmprogramm sich überlagerte. Das Programm schoß den Schirm jeweils eine SCANzeile höher und glättete, unterdrückte und färbte so auf subtile Weise das Bild.
»Hört mal, das hat gar keinen Zweck«, brabbelte Lindsay los. »Versucht erst gar nicht, mich zu was zu überreden, das mir hinterher leid tut. Ich muß 'ne Show auf die Beine stellen. Ich hab keine Zeit für solche ...«
»Halt den Rand, du!« sagte der Mann. Die stählerne Schachttür glitt auf und gab ein gefaltetes Päckchen in durchsichtigem Vinyl preis. »Zieh das an!« befahl der Mann. »Dann kommst du herein.«
Lindsay entfaltete das Bündel und schüttelte es aus. Es handelte sich um einen den ganzen Körper bedeckenden Entsorgungsanzug. »Nun mach schon etwas rascher«, drängte der SchwarzMedic. »Vielleicht stehst du unter Beobachtung.«
»Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Lindsay und stieg in die Stiefelhosen. »Das ist eine ziemliche Auszeichnung.« Er grub sich in das behandschuhte und helmbestückte Oberteil hinein und schloß das Taillenstück.
Knirschend schob sich die Luftschleusentür auf. »Geh da rein!« sagte der Mann. Lindsay trat hinein, und die Tür glitt hinter ihm zu.
Wind brachte den Staub zum Wirbeln. Ein leiser klebriger Regen begann zu rieseln. Eine skeletthafte Roboterkamera schob sich auf ihren vier Röhrenbeinchen näher und richtete das Objektiv auf die Tür.
Eine Stunde verging. Der Rieselregen hörte auf, und oben kreisten stumm zwei Kontrollinstrumente. In dem aufgegebenen Industriegürtel im Norden braute sich ein heftiger Staubsturm zusammen und tobte los. Die Kamera beobachtete weiter.
Lindsay trat ein wenig schwankend aus der Schleuse. Er stellte seinen schwarzen Diplomatensack auf den Steinboden und kletterte aus dem Schutzanzug. Dann stopfte er den Coverall in die Tunnelöffnung und entfernte sich mit übertriebener Grazie über die Trittsteine.
Die Luft stank. Lindsay blieb stehen und nieste. »He«, sagte die Kamera. »Mr. Dze. Ich möchte gern ein Wort mit dir sprechen, Mr. Dze.«
»Wenn du eine Rolle in dem Stück willst, mußt du dich aber schon persönlich zeigen«, sagte Lindsay.
»Du erstaunst mich«, sagte die Kamera beiläufig. Sie benutzte Handelsjapanisch. »Ich muß deinen Mut bewundern, Mr. Dze. Diese SchwarzMedics genießen einen ausgesprochen üblen Ruf. Sie hätten dich wegen deiner Körperchemikalien ausschlachten können.«
Lindsay ging nach Norden, seine dünnen Schuhe quietschten im Modder. Die Kamera folgte ihm im Schlepp. Das linke Hinterbein quietschte.
Lindsay stieg einen niederen Hang zu einem Obstgarten hinab, in dem die dicht von schwarzem Ruß bedeckten, umgestürzten Bäume eine Art ungeordneten Skelettdickichts bildeten. Unterhalb davon lag ein schaumbedeckter brackiger Teich, an dessen Ufer ein zerfallenes Teehaus stand. Der einstmals elegante Holz- und Keramikbau war zu einem vermoderten Haufen zusammengesunken. Lindsay stieß mit dem Fuß gegen einen der Balken und bekam von der Sporenexplosion prompt einen Hustenanfall. »Das Zeug sollte mal jemand aufräumen«, sagte er.
»Und wohin sollten sie es tun?« fragte die Kamera.
Lindsay blickte sich rasch um. Die Bäume schützten ihn vor Beobachtung. Er starrte die Maschine an. »Deine Kamera hat 'ne Überholung nötig«, sagte er.
»Es war das Beste, was ich mir leisten konnte«, sagte die Kamera.
Lindsay ließ seinen schwarzen Sack vor und zurück schaukeln. Er kniff die Augen zusammen. »Sieht ziemlich langsam und rachitisch aus.«
Der Roboter trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Hast du eine Unterkunft, Mr. Dze?«
Lindsay rieb sich am Kinn. »Bietest du mir eine an?«
»Du solltest nicht im Freien bleiben. Du hast ja nicht einmal eine Schutzmaske auf.«
Lindsay lächelte. »Den Medicals hab ich erzählt, ich bin von höchstmodernen Antiseptika geschützt. Das hat sie stark beeindruckt.«
»Bestimmt. Hier atmet niemand ungefilterte Luft. Außer natürlich, man möchte Lungen haben, die am Ende so aussehen wie das Baumzeug da.« Die Kamera zögerte. »Ich heiße Fyodor Ryumin.«
»Ich bin erfreut, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte Lindsay auf russisch. Durch den Anzug hatten sie ihm eine Vasopressininjektion verpaßt, und sein Hirn kam ihm unglaublich geschärft vor. Er kam sich dermaßen unerträglich intellektuell heiß vor, daß er an den Kanten schon ein wenig knusprig wurde. Der Wechsel vom Japanischen zu seinem wenigbenutzten Russisch fiel ihm so leicht wie ein Bandwechsel.
»Wieder erstaunst du mich«, sprach die Kamera russisch. »Du kitzelst meine Neugier. Du verstehst den Terminus ›kitzeln‹? Er ist auf handelsrussisch nicht üblich. Bitte folge dem Roboter. Ich lebe nicht weit weg. Versuche möglichst flach zu atmen.«
Ryumins Behausung war eine kleine aufgepumpte Kuppel aus graugrünem Plastikmaterial und stand in der Nähe des schmierigen zertrümmerten Glases eines der Fensterpaneele der Welt. Lindsay zog den Reißverschluß der Tuch-Luftschleuse auf und trat ins Innere.
Die reine Innenluft löste einen Krampfhusten aus. Das Kugelzelt war klein, zehn Schritt Durchmesser. Ein Gewirr von Kabeln bedeckte den Boden, verband Stapel angeschlagener Videogeräte mit einer abgenutzten Speicherbatterie, die auf Keramikziegeln aufgebockt war. Eine zentrale von Drähten umkränzte Supportstange trug einen Luftfilter, eine Glühbirne und die Wurzeln eines Antennenkomplexes.
Ryumin saß im Lotussitz auf einer Tatami-Matte, seine Hände ruhten auf einem tragbaren Joystick. »Darf ich mich erstmal um den Roboter kümmern«, sagte er. »Bin gleich für dich bereit.«
Ryumins breites Gesicht hatte einen unbestimmt asiatischen Schnitt, doch die schütteren Haare waren blond. Die Wangenhaut war voller Altersflecken. Die Fingerknöchel zeigten die starke Fältelung, wie sie bei sehr alten Menschen verbreitet ist. Mit seinen Knochen stimmte etwas nicht. Die Handgelenke waren für den untersetzten Leib zu dünn, und der Schädel wirkte merkwürdig zart. An den Schläfen klebten zwei Adhäsivscheiben, von denen dünne Schnüre über seinen Rücken hinabhingen, die sich in dem Gewirr von Drähten auf dem Boden verloren.
Ryumins Augen waren geschlossen. Er griff blind zu und tippte auf einen Schalter neben seinem Knie. Er zog sich die Scheiben von den Schläfen und öffnete die Augen. Die Augen waren leuchtend blau.
»Ist es hier drin hell genug?« fragte er.
Lindsay warf einen Blick zu der Glühbirne droben. »Ich finde, ja.«
Ryumin pochte sich gegen die Schläfen. »Chip-Implantate an den Sehnerven«, sagte er. »Ich bin etwas anfällig für Videobrand. Es fällt mir schwer, etwas zu erkennen, das nicht in Scanlinien erscheint.«
»Du bist ein Mechanist.«
»Ach, sieht man das?« fragte Ryumin ironisch.
»Wie alt bist du?«
»Hundertvierzig. Nein, hundertzweiundvierzig.« Er lächelte. »Aber du brauchst nicht zu erschrecken.«
»Ich habe keine Vorurteile«, log Lindsay. Er fühlte sich verwirrt, und damit sickerte seine Trainingspotenz aus ihm weg. Er erinnerte sich an den Ring Council und die verhaßten langen Sitzungen der antimechanistischen Indoktrination. Die Erinnerung an die frühere Auflehnung brachte ihn wieder zu sich.
Er stieg über ein Gewirr von Leitungen und setzte seine Diplomatentasche neben einen in Plastik verpackten Würfel von Syntheto-Tofu{2}. »Bitte versteh mich recht, Mr. Ryumin. Sollte es hier um Erpressung gehen, so hast du mich mißverstanden. Ich werde nicht mitmachen. Wenn du mir was antun willst, dann nur los. Dann bring mich gleich um.«
»So was würde ich lieber nicht allzu laut sagen«, warnte Ryumin. »Die Spähflieger können dich da, wo du grad stehst, niederbrennen, direkt durch die Zeltwand hindurch.«
Lindsay zuckte zusammen.
Ryumin grinste ungerührt. »Ich hab das schon mal erlebt. Außerdem, wenn wir einander schon ermorden sollen, dann müßtest schon du mich umbringen. Ich laufe hier das größere Risiko, da ich etwas zu verlieren habe. Du dagegen bist nur ein schnellzüngiger Sundog.« Er wickelte die Schnur seines Joysticks auf. »Aber wir könnten einander hier die Ohren mit Versicherungen vollbrabbeln, bis die Sonne schwillt, und uns gegenseitig dennoch nie überzeugen. Entweder wir vertrauen einander - oder eben nicht.«
»Ich werde dir vertrauen«, sagte Lindsay fest. Er schob die dreckverschmierten Schuhe von den Füßen.
Ryumin erhob sich langsam. Dann bückte er sich nach Lindsays Schuhen, und sein Rückgrat krachte laut. »Ich stecke die mal lieber unter die Mikrowelle«, sagte er. »Wenn man hier lebt, darf man sich nie mit dem Dreck einlassen.«
»Ich will daran denken«, sagte Lindsay. Sein Gehirn war überflutet von mnemonischen Chemikalien. Die Drogen hatten ihn in eine Art Epiphanietaumel{3} versetzt, in dem ihm jeder verknotete Draht und jeder Stapel von Bändern von lebenswichtiger Bedeutung erschien. »Ach, verbrenn sie, wenn du magst«, sagte er. Er klappte seine neue Tasche auf und zog eine elegante cremefarbene Medicojacke hervor.
»Das sind aber gute Schuhe«, sagte Ryumin. »Sie sind mindestens drei, vier Minuten wert.«
Lindsay streifte seinen Coverall ab. An seiner rechten Hinterbacke zeichneten sich zwei zerfließende Injektionsflecken ab.
Ryumin kniff die Augen zusammen. »Wie ich sehe, bist du also nicht unversehrt davongekommen.«
Lindsay holte ein Paar zerknautschter langer weißer Hosen hervor. »Vasopressin«, sagte er.
»Vasopressin«, murmelte Ryumin nachdenklich. »Und ich hatte das Gefühl, du siehst eher nach einem Shaper aus. Woher kommst du, Mr. Dze? Und wie alt bist du?«
»Drei Stunden«, antwortete Lindsay. »Mr. Dze hat keine Vergangenheit.«
Ryumin wandte den Blick ab. »Ich kann es einem Shaper nicht verübeln, wenn er sich bemüht, seine Vergangenheit geheimzuhalten. Das System ist überfüllt von euren Feinden.« Er blickte Lindsay prüfend an. »Aber ich errate, daß du ein Diplomat warst.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dein Erfolg bei den Black Medicals. Dein Talent ist beeindruckend. Außerdem werden aus Diplomaten oft Sundogs.« Ryumin betrachtete ihn weiter prüfend. »Das Ring Council hatte da einmal ein geheimes Trainingsprogramm für Diplomaten von einem ganz besonderen Typ. Die Versagerquote war sehr hoch dabei. Die Hälfte der Zöglinge wurden Rebellen und Abtrünnige.«
Lindsay zog den Verschluß seines Hemdes zu,
»Ist es auch dir so ergangen?«
»Ja, so in der Richtung.«
»Wie faszinierend. Ich bin im Laufe meiner Jahre vielen posthumanen Grenzfällen begegnet, aber nie einem von euch. Trifft es zu, daß sie euch einen ganzen umfassenden zweiten Bewusstseinszustand inokulieren? Stimmt es, daß ihr bei voller Operationshöchstform selber nicht mehr wißt, ob ihr die Wahrheit sagt oder lügt? Daß sie mit Psychodrogen gearbeitet haben, um die Fähigkeit zur Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in euch zu zerstören?«
»Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit«, sagte Lindsay. »Ein ziemlich ungreifbares Begriffsfeld.«
Ryumin zögerte. »Ist dir bewußt, daß man deiner Gattung ShaperMörder auf die Spur setzt?«
»Nein«, sagte Lindsay bitter. Dahin ist es also gekommen, dachte er. Diese ganzen Jahre, während die Skorpione an seinem Rückenmark ihm Wissen in jede Nervenfaser ätzten. Die Indoktrination, die Gehirnwäsche, unter Drogen und Tropfs ins Gehirn. Er war in die Republic gegangen, als er sechzehn war, und zehn Jahre lang hatten die Psychotechs ihn mit Training überschwemmt. Zurückgekehrt war er als eine Art hochexplosiver Bombe, die für jedes Ziel verwendet werden konnte. Doch seine Fähigkeiten lösten bei den dort Herrschenden panische Furcht und tiefsten Argwohn aus. Und nun machten sogar die Shapers selbst Jagd auf ihn. »Danke, daß du es mir gesagt hast«, sagte er.
»Aber ich würde mir da keine Sorgen machen«, sagte Ryumin. »Die Shapers sitzen in der Klemme und haben gewaltigere Sorgen, als sich um das Schicksal von ein paar Sundogs zu kümmern.« Er lächelte. »Aber wenn du tatsächlich diese Behandlung durchgemacht hast, dann müßtest du jünger als vierzig Jahre sein.«
»Ich bin dreißig. Du bist ein vorsichtiger, ein gerissener alter Hund, Ryumin.«
Ryumin holte Lindsays gut durchgebratene Schuhe aus der Mikrowelle, betrachtete sie und schob sie sich dann über die nackten Füße. »Wie viele Sprachen sprichst du?«
»Vier, normalerweise. Mit Gedächtnisstimulation bringe ich es auf sieben. Und ich beherrsche die standardisierte Programmiersprache der Shapers.«
»Ich kann auch vier Sprachen«, sagte Ryumin. »Aber schließlich belaste ich mein Hirn ja nicht mit ihrer schriftlichen Form.«
»Da liest überhaupt nicht?«
»Brauch ich nicht. Das können meine Maschinen für mich erledigen.«
»Dann bist du gegenüber dem ganzen Kulturerbe der Menschheit wie ein Blinder.«
Ryumin blickte überrascht drein. »Merkwürdige Worte aus dem Mund eines Shapers. Du bist Altertumsforscher, was? Möchtest dich über das Interdikt gegen die Erde hinwegsetzen, die sogenannten Humaniora studieren, oder so? Das erklärt deinen Eröffnungszug mit dieser Theatergeschichte. Ich mußte in meinem Lexikon nachfragen, um herauszubekommen, was ›Schauspiel‹ einst bedeutete. Eine erstaunliche, eine seltsame Kultureinrichtung. Hast du wirklich die Absicht, das durchzuziehen?«
»Ja. Und die Schwarzmedicos werden die Sache für mich finanzieren.«
»Aha. Aber die Geisha Bank wird davon nicht begeistert sein. Darlehen und Finanzierungen sind deren Jagdgründe.«
Lindsay setzte sich neben ein Nest von Drähten und Leitungen auf den Fußboden. Er zupfte das Abzeichen der Black Medicals von seinem Kragen und drehte es in den Fingern her und hin. »Sag mir was über die.«
»Also, die Geishas sind Prostituierte und Finanzleute. Es ist dir sicher aufgefallen, daß deine Kreditkarte auf Stunden ausgestellt ist.«
»Ja.«
»Das sind sexuelle Dienstleistungsstunden als Maßeinheit. Shapers und Mechanists benutzen Kilowatt als Währung. Aber das kriminelle Segment des Systems braucht einen Schwarzen Markt für sein Fortbestehen. So gelangte eine sehr große Zahl unterschiedlicher illegaler Währungen in Umlauf. Ich schrieb darüber einmal ein Feature.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Von Beruf bin ich Journalist. Ich bediene die abgestumpfte, überfressene, gelangweilte reiche Bourgeoisie im System mit meinen aufregenden Enthüllungen über Kriminalität. Gruselgrotesken aus den Niederungen der Sundog-Proleten.« Er wies mit dem Kinn auf Lindsays Tasche. »Eine Weile waren Narkotika der Standard, doch da bekamen die Schwarzen Chemiker der Shapers einen Vorteil. Der Absatz von Computerzeit bot einigen Gewinn, aber die Mechanisten verfügten über die Beste Kybernetik. Und jetzt ist eben Sex modisch geworden.«
»Willst du damit sagen, Leute kommen an diesen gottverlassenen Ort, bloß wegen Sex?«
»Es ist nicht nötig, eine Bank aufzusuchen, um sich ihrer zu bedienen, Mr. Dze. Die Geisha Bank verfügt über Kontakte in sämtlichen Kartellen. Piraten docken hier an und tauschen ihre Prisenbeute in leicht transferierbare schwarze Credits um. Und wir bekommen auch politische Exilanten aus den übrigen Zirkumlunarwelten. Wenn sie Pech haben.«
Lindsay zeigte keinerlei Reaktion. Er war einer dieser ins Exil Getriebenen.
Im Augenblick war sein Problem ein ganz simples: nämlich, wie er überleben konnte. Es war wunderbar, wie dies ihm den Kopf klarmachte. Er konnte sein vorheriges Leben vergessen; den Konservationistenaufstand, die Politdramen, die er im Museum inszeniert hatte. Das alles gehörte jetzt der Geschichte an, war vorbei.
Laß es langsam verschwinden, dachte er. Vergiß es! Alles war weg, alles war eine andere, eine fremde Welt. Plötzlich wurde ihm beim Zurückdenken schwindlig. Er hatte überlebt. Anders als Vera.
Constantine hatte ihn mit diesen mutierten Insekten umbringen wollen. Diese lautlosen schwebleichten Motten waren die perfekte moderne Waffe: sie bedrohten einzig menschliches Fleisch, nicht den Rest einer Welt, nicht das Ganze. Aber sein Onkel hatte Veras Medaillon an sich gerissen, und die tödliche Falle ausgelöst, die Pheromone freigesetzt, welche die Killerschmetterlinge zur Raserei erregten. Und so war Lindsays Onkel statt seiner gestorben. Lindsay spürte, wie langsam ein starker Ekel in ihm heraufschwoll.
»Und aus den Kartellsystemen der Mechanistenwelten kommen die Erschöpften und Ausgelaugten hierher«, sprach Ryumin weiter. »Um hier einen Tod in der Ekstase zu finden. Und gegen einen entsprechenden Mehrpreis hat die Geisha Bank sogar ein Shinju-Programm: den gemeinsamen selbstgewählten Tod mit einer Gefährtin aus der Geisha-Belegschaft. Viele Kunden, verstehst du, empfinden es als zutiefst tröstlich, nicht allein zu sterben.«
Ein paar Augenblicke lang kämpfte Lindsay innerlich. Ein Doppelselbstmord - die Vorstellung traf ihn nadelscharf. Veras Gesicht tauchte bedrängend im perfekten Fokus seiner erweiterten Bewußtseinskapazität vor seinen Augen auf. Er kippte zur Seite, röchelte und erbrach sich auf den Fußboden.
Die Drogen hatten ihn untergekriegt. Seit seiner Abschiebung aus der Republic hatte er nichts mehr gegessen. Magensäure brannte ihm ätzend im Rachen, und urplötzlich begann er keuchend zu röcheln und nach Luft zu ringen.
Ryumin war sofort bei ihm. Er preßte die knochigen Kniescheiben fest gegen Lindsays Rippen, und durch die verstopfte Luftröhre pfiff scharf die Luft. Lindsay rollte auf den Rücken. Er hechelte konvulsivisch. Prickelnde Wärme breitete sich in seinen Händen und Füßen aus. Er holte noch einmal Luft und verlor das Bewußtsein.
Ryumin ergriff Lindsays Handgelenk und stand eine Weile still da, während er die Pulsschläge zählte. Nun, da der junge Mann hier zusammengebrochen war, überkam den Alt-Mechanisten eine seltsame, fast traumschläfrige Gelassenheit. Er bewegte sich in dem ihm angemessenen Tempo. Er war schon seit langer Zeit ein sehr alter Mann. Diese Berührung bewirkte eine Veränderung.
Ryumins Knochen waren brüchig. Behutsam zog er Lindsay auf die Tatami-Matte und deckte ihn mit einer Decke zu. Dann stakte er mühsam an eine faßgroße Wasserzisterne aus Keramik, ergriff einen Packen groben Filterpapiers und moppte damit Lindsays Erbrochenes auf. Seine zielstrebigen Bewegungen hätten darüber hinwegtäuschen können, daß er - ohne Video-Input - nahezu blind war.
Dann zog sich Ryumin die audiovisuellen Impulshilfen über die Schläfen{4} und versenkte sich in die Kontemplation der Bandaufzeichnung, die er von Lindsay gemacht hatte. Gedanken- und Bildvorstellungen fielen ihm stets leichter zu, wenn sie durch den Draht kamen.
Er analysierte die Bewegungen des jungen Mannes, Bildraster nach Bildraster. Lindsays Armknochen und das Untergestell waren lang und ausgeprägt, die Hände und Füße breit und lang, trotzdem fehlte seinen Bewegungen die dafür sonst so typische Unbeholfenheit. Bei näherer Untersuchung zeigte er in den Körperbewegungen eine bedenkliche Geschmeidigkeit, was ein sicheres Symptom für ein Nervensystem darstellt, das langfristigen und subtilen Veränderungen unterzogen wurde. Da hatte doch wirklich jemand enorm viel Sorgfalt und enorm viele Credits investiert, um eine solch überzeugende Imitation von lockerer Unbekümmertheit und Charme herzustellen.
Ryumin bearbeitete das Band mit der Leichtigkeit, die einem eine hundertjährige Praxis verleiht. Das System ist groß, dachte er. Es gibt darin Platz für Tausende von Lebensformen, Tausende von hoffnungsvollen Ungeheuern. Was man diesem jungen Mann angetan hatte, erfüllte ihn mit Traurigkeit, doch er verspürte keine Bestürzung, keine Furcht. Nur die Zeit würde erweisen, was ein scheußlicher abweichlerischer Irrweg war und was - fortschrittliche Innovation... Ryumin fällte längst keine Urteile mehr. Aber wenn es ihm möglich war, bot er hilfreich die Hand.
Natürlich waren derartige Freundschaftsgesten immer ein Risiko. Aber Ryumin vermochte seinem Drang nie zu widerstehen, menschenfreundlich und hilfsbereit zu sein und zu sehen, was dabei herauskommen werde. Seine Neugier hatte ihn zu einem Sundog gemacht. Er besaß eine luzide Intelligenz; im Sowjet seiner Kolonie wartete ein Sitz auf ihn. Aber leider hatte es ihn stets dazu gedrängt, unangenehme Fragen zu stellen und unerwünschte Gedanken zu denken.
Früher einmal, da hatte ihm die Überzeugung, moralisch im Recht zu sein, Kraft verliehen. Jetzt war diese jugendliche Selbstgerechtigkeit längst verdorrt und von ihm abgefallen, doch er verfügte noch immer über ein Quantum von Mitgefühl und über die Bereitschaft zu helfen. Und für ihn, Ryumin, waren Anständigkeit und Fairness zu einem Altersprärogativ geworden.
Der junge Sundog wälzte und wand sich im Schlaf. Sein Gesicht war wie von Wellen überzogen, und es zuckte auf absurde Weise. Ryumin blinzelte überrascht und schaute genauer hin. Dieser Mann da, das war etwas Sonderbares. Was allerdings nicht weiter bemerkenswert war: das System steckte voll von Absonderlichkeiten und abnormen Typen. Erst wenn sie sich der Kontrolle entzogen, wurde es so richtig interessant.
Lindsay kam zu sich. Er stöhnte. »Wie lang war ich weggetreten?« fragte er.
»Drei Stunden und zwölf Minuten«, antwortete Ryumin. »Aber wir haben hier ja weder Tag noch Nacht, Mr. Dze. Zeit ist also hier bedeutungslos.«
Lindsay stemmte sich auf einem Ellbogen hoch.
»Hunger?« Ryumin reichte Lindsay eine mit Suppe gefüllte Schüssel.
Lindsay warf einen unbehaglichen Blick auf die warme Brühe. Obenauf schwammen runde Ölflecken und darunter trieben sich weißliche Klumpen herum. Er nahm einen Löffel voll. Es schmeckte besser, als es aussah.
»Danke«, sagte er. Dann aß er hastig weiter. »Tut mir leid, daß ich mich so eklig aufgeführt habe.«
»Unwichtig«, sagte Ryumin. »Übelkeit und Erbrechen sind eine geläufige Reaktion, wenn der Magen eines Neulings mit Zaibatsu-Mikroben in Kontakt gerät.«
»Warum hast du mich mit deiner Kamera verfolgt?« sagte Lindsay dann.
Ryumin goß sich eine Schale Suppe ein. »Neugier«, sagte er. »Ich hab den Zaibatsu-Eingang unter Radar-Monitor. Die meisten Sundogs reisen als Gruppenkontingent. Einzelreisende sind eine Seltenheit. Mich interessierte, was für eine Story du zu bieten hast. Immerhin, mit so was verdiene ich ja meinen Lebensunterhalt.« Er schlürfte seine Suppe. »Sag mir etwas über deine künftigen Pläne, Mr. Dze. Was hast du vor?«
»Wenn ich es dir sage, wirst du mir dann helfen?«
»Vielleicht. Es war hier in der letzten Zeit ziemlich anödend und langweilig.«
»Es steckt auch Geld drin.«
»Na, das wird ja immer besser«, sagte Ryumin. »Könntest du das vielleicht etwas deutlicher ausbreiten?«
Lindsay stand auf. »Wir werden ein bißchen schauspielern«, sagte er und zog sich die Manschetten glatt. »Vögel mit einem Spiegel ins Netz zu locken, ist die ideale Fangmethode, wie meine ShaperInstruktoren so gern sagten. Ich wußte über die Black Medicals im Ring Council Bescheid. Sie sind keine genetischen Mutanten. Die Shapers verachten sie, also haben sie sich selbst abgesondert. Das gehört sowieso zu ihrer Verfahrensweise, auch hier. Aber sie gieren nach Bewunderung, und darum habe ich mich in einen Spiegel verwandelt und ihnen ihre intimsten Sehnsüchte und Wünsche gezeigt. Ich versprach ihnen Ansehen und Einfluß, wenn sie sich als Gönner und Förderer des Schau-Spiels zeigen würden.« Lindsay griff nach seiner Jacke. »Aber was erwartet sich die Geisha Bank?«
»Geld. Geld und Macht«, sagte Ryumin. »Und natürlich den Ruin für ihre Rivalen, die zufällig eben die Black Medicals sind.«
»Drei verschiedene Angriffslinien«, sagte Lindsay lächelnd. »Dazu bin ich ausgebildet worden.« Dann wurde das Lächeln ein wenig flabbrig, und er preßte die Hand aufs Zwerchfell. »Diese Suppe«, sagte er. »Synthetoprotein, nicht wahr? Ich fürchte, es bekommt mir nicht so recht.«
Ryumin nickte resigniert. »Das sind deine neuen Intestinalmikroben. Es ist wohl vernünftiger, wenn du für die nächsten paar Tage alle Termine in deinem Kalender absagst, Mr. Dze. Du hast nämlich ganz einfach Dysenterie.«