4. Kapitel

 

ESAIRS XII: 21-12-'16

 

Sie bezeichneten den Asteroiden als »ESAIRS 89-XII«, und das war die einzige Benennung, die er jemals hatte, und sie entstammte einem uralten Katalog. ESAIRS XII war ein kartoffelförmiger Schlackeklumpen von fünfhundert Metern Länge.

Die Red Consensus schwebte über dem bauchigen Äquator und war dort mit einem Geitau verankert.

Lindsay hangelte sich einhändig die Sicherungsleine hinab. Durch seine Sichtplatte sah der Asteroid dunkel aus, bedeckt von langen Kohlestreifen von Kohleerz. Kalte graue und weiße Flecken kennzeichneten die verschlackten urzeitlichen Einschlagstellen. Die größten Krater hatten einen Durchmesser von achtzig Metern und waren mächtige Kuhlen voller zerborstener Schlacke und Splitterglas.

Lindsay landete. Der Boden unter seinen Stiefeln war wie Bimsstein, eine erstarrte grauweiße Brandung versteinerter Blasen. Er konnte die Längsachse des Asteroiden gut überblicken, seine Breitenausdehnung verschwand ein paar Schritt weit weg hinter der Krümmung des Horizonts.

Er bückte sich und zog sich mit den Greiffingern seiner Handschuhe an Ausstülpungen und Vertiefungen voran. Die rechte Hand war schlimm. Die grobe Innenfütterung fühlte sich für die versengten Nerven seiner Finger weich wie Baumwolle an.

Er kroch mit ziellos hüpfenden Beinen über den Rand eines länglichen Kraters, die vernarbte Rinne einer nur streifenden Kollision. Der Krater war fünfmal so tief, wie Lindsay lang war, den Grund bildete eine lange gasgeglättete Blase aus grünlichem Basalt. Ein langer wulstiger Kamm aus Schmelzgestein hatte sich fast frei in den Raum vorgestülpt, war aber dann mitsamt den kleinsten Riffelungen und Verwerfungen erstarrt...

Das Ding glitt beiseite. Der Felskamm schrumpfte, zerknitterte wie Seide, die Wülste und Dellen enthüllten sich als abgestufte Tarnung auf einer dünnen Plastikhaut.

Darunter gähnte eine Höhlung. Ein Tunnel, der direkt unter die Oberfläche abbog.

Lindsay kletterte vorsichtig den Hang hinab und warf sich dann in die Tunnelöffnung. Er stemmte sich gegen die Wände, streckte sich nach oben und stieß sich von der Decke ab, um auf die Beine zu kommen.

Sonnenlicht kroch über den winzigen Horizont und fiel in den Tunnel. Der Gang war kreisrund und von bei Menschen unüblicher Glätte. Sechs schienenartige dünne Metallbänder waren mit Epoxydkleber befestigt und liefen in Längsrichtung durch den Gang. In dem ungefilterten Sonnenlicht hatten die Schienen die Leuchtkraft von Kupfer.

Anscheinend umgürtete der Tunnel den Asteroiden. Die Krümmung war scharf und dem Horizont angepaßt. Von der Biegung des Tunnels fast verdeckt, sah er undeutlich vor sich braunes Plastik schimmern. Er hüpfte, stieß und schob sich in der Schwerelosigkeit die Wandung entlang darauf zu.

Es war eine Plastikmembran mit darin eingelassener Stoff-Luke. Lindsay zog den Reißverschluß auf und trat hindurch. Hinter sich verschloß er das Schott wieder und zog einen zweiten Verschluß an der inneren Seite der Schleuse auf und kletterte hindurch.

Er war in einem höhlenhaften schwarzen und ockerfarbenen Ballon. Er war in dem Tunnel aufgeblasen worden und füllte ihn prall aus.

Eine Gestalt in einem Dekontaminationsanzug aus Plastik schwebte kopfüber an der Decke, eine hellgrüne Silhouette vor handgesprühten schwarzen Arabesken auf braungelbem Grund.

Lindsays Raumanzug war erschlafft, was auf Umwelt-Gasdruck schließen ließ. Er nahm den Helm ab und atmete vorsichtig ein. Ein Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch, also Standardluft.

Mit betonter Unbeholfenheit drückte Lindsay den rechten Arm an die Brust. »Ich ... äh ... ich habe eine vorbereitete Erklärung zu verlesen. Wenn du keine Einwände dagegen hast.«

»Bitte sprich!« Die Stimme der Frau war dünn und fast undeutlich. Er sah kurz das Gesicht hinter der Gesichtsplatte: kalte Augen, braungelbe Haut, dunkles von einem grünen Netz gehaltenes Haar.

Lindsay las die Worte langsam und ohne Akzentuierung. »Grüße der Fortuna Miners' Democracy. Wir sind eine unabhängige Nation, auf der Grundlage der gesetzlichen Vorschriften und fest eingeschworen auf den Grundsatz der Menschen- und Bürgerrechte des Individuums. Als Immigranten in unseren nationalen Territorialbereich werden neue Mitglieder der Staatsgemeinschaft einem kurzen Einbürgerungsprozeß unterworfen, ehe sie in den Genuß der Vollbürgerschaft gelangen können. Wir bedauern eventuelle Unannehmlichkeiten, die sich durch die Auferlegung einer neuen politischen Ordnung ergeben ...

... Wir vertreten die Politik, daß ideologische Differenzen durch Prozesse der Unterhandlungen bereinigt werden sollen. Zu diesem Zweck haben wir unseren Außenminister abgesandt, um über vorläufige Bedingungen zu verhandeln, die der späteren Ratifizierung durch den Senat noch bedürfen. Es ist der Wunsch und Wille der Fortuna Miners' Democracy - wie in der Gemeinsamen Resolution von Senat und Repräsentantenhaus mit der Ziffer Nr. Sechzehn der Siebenundsechzigsten Sitzungsperiode niedergelegt -, daß ihr unter der Führung unseres Außenministers unverzüglich Verhandlungen aufnehmt, damit der Interimszustand von möglichst kurzer Dauer und möglichst hoher Sicherheit sei ...

... Wir strecken unseren künftigen Bürgern die Hand der Freundschaft entgegen und beglückwünschen sie aus warmem Herzen ...

... Gezeichnet: The President.«

Lindsay blickte auf.

»Ihr werdet davon eine Abschrift brauchen«, sagte er und hielt sie hoch.

Die Shaperfrau schwebte näher. Lindsay erkannte, daß sie schön war. Aber das bedeutete sehr wenig. Schönheit war unter den Shapers sehr billig.

Sie nahm das Dokument entgegen. Aus einem Aktenköfferchen an der Hüfte holte Lindsay mit der linken Hand weitere Dokumente hervor. »Hier mein Beglaubigungsschreiben.« Er streckte der Frau die Papiere entgegen: einen Packen Recycling-Ausdrucke, vollgespickt mit geschmacklosen glitzernden Metallfoliensiegeln der FMD.

Die Frau sagte: »Ich heiße Nora Mavrides. Die übrige Familie hat mich beauftragt, euch zu übermitteln, wie wir die Lage sehen. Wir sind überzeugt, euch davon überzeugen zu können, daß die von euch unternommenen Aktionen übereilt und unbedacht sind und daß es für euch von Nutzen wäre, wenn ihr eure Aufmerksamkeit anderswohin lenktet. Wir bitten euch um weiter nichts als um genügend Zeit, um euch zu überzeugen. Wir haben sogar unser Hauptgeschütz versiegelt.«

Lindsay nickte. »Wie angenehm. Sehr gut. Das dürfte großen Eindruck auf die Regierung machen. Aber, ich würde mir diese Kanone gern mal anschauen.«

»Wir befinden uns in ihr«, sagte Nora Mavrides.

 

AN BORD DER ›RED CONSENSUS‹: 22-12-'16

 

Lindsay sprach: »Ich stellte mich dumm. Aber ich glaube nicht, daß sie es mir abgekauft hat.« Er hielt eine Ansprache vor dem Versammelten Senat und Parlament unter dem Vorsitz der Parlamentspräsidentin. Der Staatspräsident befand sich unter den Zuhörern. Die Obersten Richter hatten Dienst an der Kanone und im Kontrollraum und verfolgten die Sache über Intercom.

Der Präsident schüttelte den Kopf. »Die hat dir geglaubt. Die Shapers halten uns immer für blöd. Verdammt, für Shapers sind wir blöd!«

Lindsay sprach weiter: »Wir sind knapp neben der Öffnung ihres Abschußrings vertäut. Es ist ein langer kreisförmiger Tunnel, ein Ring um den Schwerkraftmittelpunkt des Brockens, dicht unter der Oberfläche ausgegraben. Es gibt Magnetstreifen für die Beschleunigung und eine Art magnetischen Abschußkolben.«

»Davon hab ich gehört«, sagte Richter-3 über das Intercom. Er war der reguläre Kanonier, ein Ex-Minenkumpel und fast ein Jahrhundert alt. »Das fängt mit 'ner ganz kleinen Aufladung an, um den Eimer hochzujagen, ihn magnetisch aufzuladen. Das ruht auf 'nem Magnetpolster, dann beschleunigst du, läßt es 'ne Weile rumschnurren, und dann blockst du exakt hinter der Mündung ab. Der Mörser verlangsamt sich, aber die Ladung schießt mit Klicks pro Sekunde raus.«

»Klicksekunden?« fragte die Parlamentspräsidentin. »Das könnte uns wegpusten.«

»Nein«, sagte der Präsident. »Sie würden dafür 'ne Menge Energie einsetzen müssen, für den Start. Und in dieser geringen Entfernung würden wir die Magnetfelder ausmachen.«

»Sie verweigern uns den Zugang«, sagte Lindsay. »Die Familie lebt sauber. Keine Mikroben, oder doch jedenfalls nur maßgeschneiderte. Und uns sickert das Zaibatsu-Zeug aus allen Poren. Sie bieten uns Beute und Lösegeld, wenn wir abziehen.«

»Das ist aber nicht unser Auftrag«, sagte die Parlamentsvorsitzende.

»Und wir können das Lösegeld nicht richtig bewerten, ohne daß wir zuerst ihre Wohnquartiere besichtigt haben«, sagte Rep-1. Die junge Shaper-Überläuferin strich sich mit emaillierten Fingerspitzen die Haare glatt. In der letzten Zeit hatte sie besonderen Wert auf ihre Aufmachung und Kleidung gelegt.

»Wir können uns mit dem Grabbohrer reinarbeiten«, sagte der Präsident. »Wir benutzen die Sonardaten, die wir gesammelt haben. Wir haben eine recht gute Vorstellung von den oberflächennächsten Tunnels. Wir könnten uns in fünf bis zehn Minuten reinbohren, während der Außenminister neu verhandelt.« Er zögerte. »Sie könnten uns dafür aber auch umbringen.«

In der Stimme der Vorsitzenden schwang kalte Bestimmtheit. »Wir sind sowieso tot, wenn die uns auf Distanz halten. Unser Geschütz reicht nur über Kurzstrecken. Und der Abschußring kann uns noch Stunden nach dem Abflug zupflastern.«

»Das haben sie aber früher nie getan«, sagte Rep-1.

»Aber jetzt wissen sie, wer wir sind.«

»Da gibt's nur eins«, sagte der Präsident. »Laßt drüber abstimmen.«

 

ESAIRS XII: 23-12-'16

 

»Schließlich sind wir aber eine Minendemokratie«, erklärte Lindsay gegenüber Nora Mavrides. »Gemäß der Fortuna-Ideologie hatten wir absolut das Recht zu Bohrungen. Wenn ihr uns einen Plan eures Tunnelnetzes zur Verfügung gestellt hättet, wäre das nicht passiert.«

»Ihr habt alles riskiert«, sagte Nora Mavrides.

»Du mußt zugeben, es hat auch Vorteile. Denn jetzt, wo euer System, wie du sagst, ›kontaminiert‹ ist, können wir einander wenigstens ohne Raumanzüge hautnah begegnen.«

»Das war unbesonnen und rücksichtslos, Außenminister.«

Lindsay legte die linke Hand auf die Brust. »Betrachtet es doch mal von unserem Standpunkt aus, Dr. Mavrides. Die FMD gedenkt nicht unbegrenzt darauf zu warten, ihr Eigentum in Besitz zu nehmen. Ich glaube, wir waren doch recht entgegenkommend.«

»Ihr unterstellt weiterhin, daß wir die Absicht haben, von hier fortzugehen. Wir sind Siedler, keine Briganten und Räuber. Wir lassen uns nicht durch nebelhafte Versprechungen abschieben, und auch nicht durch antimechanistische Propaganda. Wir sind Mineure.«

»Piraten. Schäbige Mech-Söldner.«

Lindsay zuckte die eine Achsel.

»Dein Arm da? Ist der wirklich verletzt? Oder machst du es nur, damit ich glauben soll, daß du ungefährlich bist?«

Lindsay schwieg.

»Ich greife dein Argument auf«, sagte sie. »Es gibt keine wahren Verhandlungen ohne Vertrauen. Irgendwo haben wir eine gemeinsame Basis. Also, suchen wir sie.«

Lindsay streckte den Arm. »Also gut, Nora. Wenn dies ausschließlich zwischen uns beiden gilt, vergessen wir mal das Rollenspiel. Also sprich! Laß hören! Ich kann jede Menge Offenheit verkraften, die du zu zeigen willens bist.«

»Dann sag mir deinen Namen!«

»Der würde dir nichts bedeuten.« Sie schwieg. »Er lautet Abélard«, sagte er. »Nenn mich Abélard.«

»Was für eine Gen-Linie hast du, Abélard?«

»Ich bin kein Shaper.«

»Du lügst, Abélard. Du bewegst dich wie einer von uns. Der Trick mit dem Arm verbarg das, aber deine Unbeholfenheit ist zu bewußt. Wie alt bist du? Einhundert? Wie lange hast du dich als Sundog herumgeschlagen?«

»Spielt das eine Rolle?« fragte Lindsay.

»Du kannst wieder zurück. Glaube mir, es ist jetzt anders. Das Council braucht dich. Ich werde dich fördern. Schließ dich uns an, Abélard! Wir sind dein Volk. Nicht diese giftkeimverseuchten Abtrünnigen.«

Lindsay streckte die Hand aus. Nora wich zurück. Die langen Bänder ihrer Ärmelschlaufen zuckten in der Schwerelosigkeit.

»Siehst du«, sagte Lindsay. »Ich bin genauso verdreckt wie die andern.« Er betrachtete sie intensiv.

Sie war schön. Der Mavrides-Clan gehörte einer Gen-Linie an, die er noch nie gesehen hatte. Große Haselnußaugen mit einer Spur von Epikanthusfalte, eher amerindianisch als orientalisch. Hohe Wangenknochen, gerade Adlernase. Daunenfeine schwarze Brauen und üppige schwarzblitzende Haare, die in der Schwerelosigkeit eine buschige Masse lockiger Ranken bildeten. Das Haar steckte in einem lockeren Kopfputz, einem jadegrünen Plastikturban, mit karmesinrotem Schnürband im Nacken und tannengrünen gezackten Fransen über dem Stirnpony. Die kupferfarbene Haut war makellos und wirkte nichtmenschlich glatt und wie mit einem Hauch von Rot bestäubt.

Insgesamt waren sie sechs. Die Familienähnlichkeit war groß, aber sie waren keine identischen Klone. Diese sechs Personen stellten den winzigen Prozentsatz des Mavrides-Genstranges dar, den man herangezogen hatte: Kleo, Paolo, Fazil, Ian, Agnes und Nora Mavrides. Kleo war die Anführerin. Sie war vierzig. Nora war achtundzwanzig. Die übrigen waren alle siebzehn Jahre alt.

Lindsay hatte sie gesehen. Und sie hatten ihm leid getan. Das Ring Council ging mit Investitionen nicht verschwenderisch um. Ein siebzehnjähriges Genie war für die Aufgabe mehr als genug, und sie waren billig. Sie hatten ihn mit kühlen braungraugrünen Haselaugen begutachtet, mit jenem wachsamen und zugleich angewiderten starren Blick, den ein Mensch für Ungeziefer übrig hat. Sie fühlten sich gedrängt, ihn zu töten, und dies mit einer Gier, die nur durch den Ekel in Schach gehalten wurde.

Doch war es dafür nun zu spät. Sie hätten ihn ganz zu Anfang töten sollen, solange sie noch unangesteckt geblieben waren. Jetzt war er zu nahe an sie herangekommen. Seine Haut, sein Atemhauch, seine Zähne, sogar sein Blut wimmelten von Keimen des Zerfalls.

»Wir verfügen über keine Antiseptika«, sagte Nora. »Es kam uns nie in den Sinn, daß wir sie einmal nötig haben würden. Es wird nicht sehr schön für uns werden, Abélard. Geschwüre, Ausschlag, Entzündungen, Magen-, Darminfektionen. Es gibt keine Mittel dagegen. Selbst wenn ihr morgen wieder fortginget, die Luft in eurem Schiff ... sie wimmelte von Bakterien.« Sie breitete die Hände aus. Die Blusenärmel waren am Handgelenk mit scharlachroten Schnürbündchen versehen und im Unterteil puffig aufgeschlitzt, so daß man die glatte Haut darunter sehen konnte. Die Bluse war ein Wickeltuch, an den Hüften mit Bändern zugebunden und mit einem Gürtel in Taillenhöhe. Sie hatte das Gewand selbst genäht und die Revers mit einem weiß-rosa Gittermuster bestickt. Darunter trug sie am Knie gebundene Shorts und karmesinrote Schnürsandalen.

»Es tut mir leid«, sagte Lindsay. »Aber es ist immer noch besser als sterben. Die Shapers sind pleite, Nora. Sie sind am Ende. Ich verspüre keine besondere Liebe, was die Mechs anbetrifft, glaub mir.« Zum erstenmal machte er weite Bewegungen mit dem rechten Arm. »Laß mich dir etwas sagen, das ich abstreiten werde, falls du es wiederholst. Die Mechs würde es ohne euch nicht geben. Ihre Kartell-Union ist ein Schwindel. Die Verbindung besteht einzig durch das Diktat von Furcht und Haß gegen die Reshaped, die Gengeformten. Und wenn sie den Ring Council zerstört haben, wie sie es tun müssen, werden die Mechs ihrerseits in Trümmer zerfallen ... Bitte, Nora, betrachte es mal einen Augenblick lang aus meiner Sicht, nur um des Arguments willen. Ich weiß, du bist engagiert, du bist deinem Gen-Erbe gegenüber loyal, auch deinen Leuten in deiner Heimat gegenüber. Aber dein Tod wird sie nicht retten. Sie sind erledigt und verurteilt. Hier geht es jetzt nur noch um euch und uns. Achtzehn Menschen. Ich habe unter diesen Fortunaten gelebt. Wir wissen beide, was sie sind. Sie sind Abschaum, Räuber und Plünderer. Versager. Und Opfer, Nora. Sie leben in der Lücke zwischen dem Richtigen und dem Möglichen ... Aber wenn ihr mitspielt, werden sie euch nicht umbringen. Darin liegt eure Chance ... eine Chance für die sechs Personen hier ... Wenn sie euren Laden hier dichtgemacht haben, kehren sie wieder zu den Kartellen zurück. Wenn ihr euch ergebt, nehmen sie euch mit. Ihr seid alle jung. Kaschiert eure Vergangenheit, und dann könntet ihr in einem Jahrhundert vielleicht diese Kartelle beherrschen. Mech ... Shaper ... das sind doch bloße Aufkleber. Die Hauptsache ist, daß wir leben.«

»Ihr seid Werkzeuge«, sagte die Frau. »Opfer, gewiß, das lasse ich gelten. Auch wir selbst sind Opfer. Aber Opfer für eine bessere Sache als die eure. Wir kamen hier nackt an, Abélard. Wir kamen in einem Einwegschlepp, und der einzige Grund, warum wir nicht unterwegs weggepustet wurden, ist, daß der Council für jede echte Mission fünfzig Lockvögel losschickt. Es kostet die Kartelle mehr, uns umzubringen, als wir wert sind ...

Deswegen haben sie euch angeheuert. Die reichen Mechs, die an der Macht, haben euch auf uns gehetzt. Und wir hatten zu überleben begonnen. Wir haben diese Basis hier aus dem Nichts geschaffen, mit unsern Händen, unserm Hirn, unsrer Wetware. Und ihr seid gekommen, uns zu töten.«

»Aber wir sind jetzt hier«, sagte Lindsay. »Was vorbei ist, läßt sich nicht mehr ändern. Ich flehe dich an, mich leben zu lassen, und du kommst mir mit Ideologie. Bitte, Nora ... Bitte gib ein wenig nach. Bring uns doch nicht alle um!«

»Ich will leben«, sagte sie. »Ihr solltet euch uns hier anschließen. Eure Bande ist ja kaum zu was nutze, aber wir könnten euch ertragen. Ihr würdet zwar nie echte Shapers werden können, aber unter unsrer Führung gibt es Platz auch für Ungeplante. Auf die eine oder andere Art überspielen wir doch jede Bewegung, die die Kartelle gegen uns unternehmen.«

»Aber ihr seid umzingelt«, sagte Lindsay.

»Wir brechen aus. Hast du das noch nicht gehört? Die Concate-Nation wird sich zu unsren Gunsten erklären. Ein Zirkumlunar gehört uns bereits: die Mare Serenitatis Circumlunar Corporate Republic.«

Sogar hier noch war Constantins Schatten auf ihn gefallen. »Und das bezeichnest du als Sieg?« fragte er. »Diese dekadenten, abgewirtschafteten Miniwelten? Diese brüchigen Ruinen?«

»Wir werden sie neu aufbauen«, sagte sie mit eisiger Zuversicht. »Ihre Jugend gehört uns.«

 

AN BORD DER ›RED CONSENSUS‹: 1-1-'17

 

»Willkommen an Bord, Dr. Mavrides«, sagte der Präsident und streckte die Hand aus. Nora schüttelte sie ohne Zögern; ihre Haut war unter der dünnen Plastikhaut ihres Raumanzugs abgeschirmt.

»Ein schöner Anfang des Neuen Jahres«, sagte Lindsay. Sie befanden sich im Kontrolldeck der Red Consensus. Lindsay fiel auf, wie sehr er die vertrauten Knall-Pieps-und-Quietschlaute der Instrumente vermißt hatte. Der Lärm breitete sich in seinem Innern aus und löste eine Spannung, die ihm überhaupt nicht bewußt geworden war.

Die Verhandlungen liefen seit zwölf Tagen. Er hatte vergessen, welchen üblen Eindruck die Piraten machten, wie vollkommen verdreckt und schmierig sie waren. Ihre Poren waren von Mitessern verstopft, die Haare ranzig verfettet, die Zähne von schwärzlichem Zahnstein eingefaßt. Für den Blick eines Shapers wirkten sie wie wilde Tiere.

»Dies ist unsere dritte Übereinkunft«, sagte der Präsident formell. »Zunächst das Open-Channels-Gesetz, danach die Vereinbarung über Technologische Wertfestsetzung und Handelsabkommen, und nun ein echter Durchbruch in unserer Politik der Sozialen Gerechtigkeit: das Integrations-Gesetz. Seid willkommen in Red Consensus, Dr. Mavrides. Wir hoffen, ihr werdet jedes Angström dieses Schiffs als Teil eures Nationalerbes betrachten.«

Der Präsident piekte einen computergedruckten Vertrag an ein Schott und unterschrieb schwungvoll. Lindsay drückte - mit der linken Hand - das Staatssiegel darunter. Das hauchdünne Papier zerknitterte dabei ein wenig.

»So, nun sind wir allesamt Landsleute hier«, sagte der Präsident. »Also, machen wir es uns ein bißchen gemütlich. Um uns - hm - sozusagen kennenzulernen.« Er zückte einen Bronzeinhalator und schnüffelte demonstrativ.

»Hast du deinen Raumanzug selbst genäht?« fragte die Parlamentsvorsitzende.

»Jawohl, Frau Vorsitzende. Die Säume sind Drahtfäden und Epoxydkleber aus unsren Wetware-Kanistern.«

»Smart.«

Rep-2 sagte: »Ich mag eure Kakerlaken. Rosa und golden und grün. Die sehen ja beinahe nicht wie Ungeziefer aus. Da hätte ich gern ein paar davon.«

»Ich bin sicher, daß sich das einrichten lassen wird«, antwortete Nora.

»Ich geb dir dafür ein paar Relaxer. Hab ich massenweise.«

»Ich danke dir«, sagte Nora. Sie hielt sich blendend. Und Lindsay verspürte undeutlich so etwas wie Stolz auf sie.

Sie zog den Verschluß ihres Raumanzugs auf und schälte sich aus der Hülle. Darunter trug sie einen dreieckig über die Schulter herabfallenden Poncho, der mit geometrischen Mustern in Weiß und Eisblau bestickt war. Die schmalen Enden des Ponchos waren um ihre Hüften geschnürt, so daß die Beine, bis auf die Schnürsandalen aus Velcro nackt waren.

Taktvollerweise hatten die Piraten auf ihre rotsilbernen Trikotskelette als Kleidung verzichtet. Statt dessen trugen sie sandbraune Coveralls im Zaibatsu-Stil. Sie sahen darin wie Wilde aus.

»So was könnte ich gut gebrauchen«, sagte der Rep-3. Er hielt den Harmonikaarm seines uralten Raumanzugs neben das feine Plastikmaterial an Noras Körper. »Wie steht es mit der Atemluft in dem Lolli?«

»Taugt nicht für den tiefen Raum. Wir füllen ihn einfach mit reinem Sauerstoff und atmen, solange es geht. Zehn Minuten.«

»Ich könnte Tanks an einen anschließen. War doch mehr spacepassend. Der Sonne würde das gefallen.«

»Wir könnten euch beibringen, selber einen zu nähen. Das ist eine Kunst, die zu kennen sich lohnt.« Sie lächelte Rep-3 an, und Lindsay schauderte innerlich. Ihm war klar, wie sehr der Schweißgestank aus dem Anzug des Rep ihr den Magen umdrehen mußte.

Er schwebte zwischen die beiden und schubste Rep-3 wie unabsichtlich beiseite. Und zum erstenmal berührte er dabei Nora Mavrides körperlich. Er legte sacht die Hand auf den weiß-blauen Poncho über ihrer Schulter. Der Muskel fühlte sich unter der Berührung starr wie ein Drahtgeflecht an.

Wieder schenkte sie ihm ein rasches Lächeln. »Ich bin sicher, die andern werden das Schiff hier faszinierend finden. Wir kamen in einem Schlepp her. Unsere Fracht bestand zu neun Zehnteln aus Eis, für die Wetware-Tanks. Wir waren in der Paste, beinahe tot. Wir hatten unsern Roboter und unser Taschen-Tokamak. Der Rest waren diverse Kleinigkeiten. Draht, eine Handvoll Mikrochips, etwas Salz und Spurenelemente. Im übrigen Genetika. Eier, Samen, Bakterien. Wir kamen nackt hierher, um die Beschleunigungsmasse gering zu halten. Alles sonst haben wir mit unseren eigenen Händen gemacht, Freunde. Fleisch gegen Stein. Das Fleisch bleibt Sieger, wenn es klug genug ist.«

Lindsay nickte. Ihr elektromagnetisches Pulsgeschütz hatte sie nicht erwähnt. Keiner sprach über die beidseitigen Waffen.

Sie gab sich gewaltige Mühe, die Piraten zu becircen, aber ihr Stolz reizte sie. Der Stolz der »Familie« war durchaus berechtigt. Sie hatten sich aus dem Nichts zu Wohlstand hochgearbeitet, mit bakteriologischer Wetware aus Gelatinekapseln, die nicht größer waren als Nadelköpfe. Sie hatten Plastikmaterialien in den Griff bekommen; hatten sie einfach aus dem Felsbrocken herausgezaubert. Ihre Kunstprodukte waren so billig wie das Leben selber.

Sie waren in den Felsen hineingewachsen; hatten mit ihrer weichen Körperlichkeit sich in unnachgiebiger Hartnäckigkeit in ihn hineingebohrt. ESSAIRS war von Tunnels durchsiebt; ihre glattgenagten Tunnelringe waren rund um die Uhr in Betrieb. Aus Vinylsäcken und Spanten von Memory-Plastik hatten sie Luftgebläse gebastelt. Diese Rippen atmeten. Sie waren an die Tokamak-Fusionsanlage angeschlossen, und eine geringfügige Voltveränderung, veranlaßte sie dazu, sich zu beugen und zu strecken, auszudehnen und zusammenzuziehen und mit dem Pfeifen plastischer Lungen Luft anzusaugen und sie mit einem animalischen Schnaufen wieder auszuatmen. Im Innern des Felsbrockens die Geräusche des Lebens: das Rasseln der Reifenlungen, das Pusten der Gebläse, das trübe Gurgeln der Fermentiertanks.

Und sie hatten Pflanzen. Nicht etwa nur Algen und Proteinpampe, sondern echte Blumen: Rosen, Phlox, Gänseblümchen - oder jedenfalls Pflanzen, die unter diesen Namen bekannt waren, ehe die Mikroskalpelle in ihre DNS eingegriffen hatten. Sellerie, Salatgewächse, Zwergmais, Spinat, Luzerne. Und Bambus: durch feine Drähte und unerbittliche Geduld konnten sie Bambusrohr zu komplizierten Röhren und Behältnissen verformen. Eier, denn sie hatten sogar Hühner - oder doch tierähnliche Dinger, wie es einst Hühner gewesen waren, bevor shaperische Genspalter sie in Proteinlieferanten für Weltraumbedingungen umgeformt hatten.

Sie waren stark, erfinderisch und klug, und von einem verzweifelten Haß erfüllt. Lindsay wußte, sie warteten nur auf ihre Chance, wägten Vor- und Nachteile ab, kühl und berechnend. Sie würden zum tödlichen Angriff ansetzen, wenn es ihnen möglich war, jedoch nur dann, wenn sie die Chancen ihres eigenen Überlebens maximieren konnten.

Doch er wußte gleichfalls, daß mit jedem Tag, der verging, mit jedem auch nur kleinen Stückchen von Konzession und Übereinkunft, eine weitere hauchdünne Firnisschicht über die offene

Kluft zwischen ihnen gelegt wurde. Tag um Tag bildete sich mühsam ein neuer Status quo heraus, eine zerbrechliche Art Entspannung, die auf nichts weiter beruhte als auf Gewöhnung. Es war nicht viel, aber es war alles, was Lindsay zur Verfügung stand: die Hoffnung, daß im Laufe der Zeit der Scheinfrieden Substanz gewinnen und sich verfestigen werde.

 

ESSAIRS XII: 3-2-'17

 

»He, Außenminister!« Lindsay erwachte. In der geisterhaft unmerklichen Schwerkraft des Asteroiden war er, ohne es zu merken, auf den Boden der Höhle hinabgesunken. Sein Loch bezeichneten sie als »die Gesandtschaft«. Nach der Ratifizierung des Integrationsgesetzes war Lindsay - und der Rest der FMD - in den Steinasterioden übergesiedelt.

Paolo hatte gesprochen, und Fazil war bei ihm. Die beiden jungen Männer waren in bestickte Ponchos gekleidet und trugen auf dem Kopf steife Plastikkronen, die ihre schulterlangen wehenden Haarmähnen zusammenhielten.

Die Hautbakterien hatten ihnen übel zugesetzt. Von Tag zu Tag sahen sie scheußlicher aus. Nacken und Hals von Paolo waren dermaßen stark entzündet, daß es den Anschein erweckte, als habe man ihm die Kehle durchgeschnitten. Fazil hatte eine Infektion im linken Ohr und hielt beständig den Kopf schief.

»Wir möchten dir was zeigen«, sagte Paolo. »Könntest du mitkommen, Mister Außenminister? Ohne Aufsehen?« Die Stimme war sanft, die haselgrünen Augen so klar und ohne Falsch, daß Lindsay sofort begriff, daß der Junge etwas vorhatte. Würden sie ihn umbringen? Nein, noch nicht. Lindsay verschnürte sich in einen Poncho und kämpfte dann mit den verzwickten Verknotungen seiner Sandalen. »Ich stehe zu euren Diensten«, sagte er. Sie schwebten in den Korridor. Die Verbindungen zwischen den Kavernen waren weiter nichts als lange Wurmgänge von einem Meter Durchmesser. Die beiden Mavrides-Clan-Klonburschen bewegten sich mit raschem eidechsenhaften Schwänzeln vorwärts. Lindsay war langsamer. Der verletzte Arm bereitete ihm heute Schwierigkeiten, seine Hand fühlte sich wie eine stumpfe Keule an.

Sie glitten stumm durch das sanfte Gelblicht in einer der Fermentationskammern. Die stumpfen zitzenbesetzten Enden von drei Wetware-Säcken ragten in den Raum herein. Sie waren wie ein Wurststrang in Steintunnels gestopft. Jeder Tunnel enthielt einen Satz Säcke, die durch Filter verbunden waren, und jeder Schlauch transportierte seinen Ausstoß in den nächsten. Der Endsack hatte eine Spinndrüse am Laufen, eine mnemoplastische Maschine, die gemächlich vor sich hinschnatterte. Ein Hohltubus aus makellos klarem Acryl krümmte sich eingeweidehaft in die Schwerelosigkeit und stank beim Abtrocknen.

Sie stiegen in einen anderen, diesmal einen schwarzen Tunnel. Die Gänge waren alle von gleichmäßiger Glätte; also war es nicht nötig, sie zu beleuchten. Jedes simple Genie war leicht in der Lage, sich die Verbindungen einzuprägen.

Links von sich hörte Lindsay das langsame Bohrgeräusch eines Tunnelgrabers. Die Graber waren handgefertigt, ihre Bohrzähne manuell angeordnet und in Plastik verankert, und jeder hatte einen geringfügig andersartigen Ton. Das erlaubte Lindsay die Ortung. Durch das weichere Asteroidengestein konnten sie sich pro Tag zwei Meter weit voranfressen. Und in zwei Jahren hatten sie mehr als zwanzigtausend Tonnen Mineralgestein weggenagt.

Nach der Verarbeitung des Erzes wurde die Spreu ins All geschossen. Alles Ausgestoßene hinterließ ein Loch. Ein zehn Kilometer langes Loch, pechschwarz und so verknotet wie eine verfilzte Angelschnur, bestückt mit Perlen von Lebenshöhlen, Gewächshäusern, Wetware-Kammern und privaten Intimzellen.

Sie zogen in eine Richtung, in die Lindsay vorher nie gegangen war. Er hörte, wie ein Gesteinspropfen knirschend beiseitegehievt wurde.

Dann schwebten sie ein kleines Stück vorwärts, schlängelten sich um den schlaffen Schlauch einer deaktivierten Luftpumpe vorbei. Während Lindsay in der Finsternis daran vorbeikroch, erwachte die Pumpe keuchend wieder zum Leben.

»Hier ist unser Versteck«, sagte Paolo. »Das von mir und Fazil.« Seine Stimme hallte in der Dunkelheit.

Mit weißspritzenden Funken begann etwas zu zischen. Erschreckt machte Lindsay sich zum Kampf bereit. Paolo hielt einen kurzen weißen Stock in der Hand, an dessen einem Ende eine Flamme nagte. »Eine Kerze«, sagte er.

»Kürze?« sagte Lindsay. »Aha, ich verstehe.«

»Wir spielen gern mit dem Feuer«, sagte Paolo. »Fazil und ich.«

Sie befanden sich in einer Werkstatthöhle, die man in eine der großen Gesteinsadern im Innern von ESAIRS XII gegraben hatte. Für Lindsays laienhaften Blick wirkten die Wandungen wie Granit; ein graurosa Gestein, besetzt mit kleinen Glimmerflecken von Gesteinskristall.

»Es hat hier einmal Quarz gegeben«, sagte Paolo. »Silikondioxid. Wir haben es für die Sauerstoffgewinnung abgebaut, und dann hat Kleo die Sache aufgegeben. Also haben wir uns diese Kammer ganz allein gebohrt. Stimmt's, Fazil?«

Fazil mischte sich eifrig ein. »Genauso ist es, Mister Außenminister. Wir haben Handbohrgeräte und Expansionsplastikladungen verwendet. Siehst du, wo das Gestein geborsten und abgebröckelt ist? Den Abraum haben wir unter dem anderen zum Abschub bereitliegenden Schutt versteckt, und keiner hat etwas gemerkt. Wir haben tagelang geschuftet, und das größte Trumm haben wir bis zuletzt gelassen.«

»Da, schau!« sagte Paolo. Er berührte die Wand, und das Gestein schrumpfte unter seiner Hand und löste sich. In einer grob ausgehauenen Nische von der Größe eines Schranks schwebte ein länglicher Felsquader an einem Faden, der seine Drift nach unten verhinderte. Paolo schnappte sich den Faden und zog den Felsbrocken heraus. Er bewegte sich träge. Fazil half ihm das Trägheitsmoment der Masse zu bremsen.

Es war eine zwei Tonnen schwere Skulptur, die Paolos Kopf darstellte.

»Sehr gekonnte Arbeit«, sagte Lindsay. »Darf ich mal?« Er fuhr mit den Fingerspitzen über den glattpolierten Wangenknochen. Die weiten, wachen Augen mit den ausgehöhlten Pupillenlöchern waren so groß wie seine ausgestreckten Hände. Um die gewaltigen Lippen schwebte ein verstohlenes Lächeln.

»Als man uns hier herausgeschickt hat, war uns klar, daß wir nie nach Hause zurückkehren würden«, sagte Paolo. »Wir werden hier sterben, und warum? Nicht etwa, weil unsere Genstruktur schlecht ist. Wir sind ein guter Genstrang. Mavrides-regulär.« Er redete nun hastiger und verfiel in den Tonfall des Ring-Council-Slangs.

Fazil nickte stumm dazu.

»Es ist nichts weiter als schlechte Perzentierung. Zufall. Glück. Der Zufall hat uns gelinkt und am Arsch gekriegt, bevor wir noch zwanzig Jahre alt waren. Die Chance, das Glück, den Zufall, das kannst du einfach nicht rausmendeln. Einige im Genstrang sind dazu bestimmt, zu Versagern zu werden oder auszufallen, damit die übrigen leben können. Und wenn es nicht Fazil und mich getroffen hätte, dann wären es eben unsere Mitkripplinge gewesen.«

»Ich verstehe«, sagte Lindsay.

»Wir sind jung, und wir sind billig. Und sie werfen uns den Feinden zwischen die Zähne, damit die Tusche schwarz ist, nicht etwa rot. Aber wir sind Lebewesen, Fazil und ich. In uns ist etwas Lebendiges. Wir werden bestimmt nicht mal zehn Prozent von dem Leben bekommen, wie es daheim für die anderen möglich ist. Aber wir, wir waren hier. Wir sind Realität.«

»Leben ist aber besser«, sagte Lindsay.

»Du bist ein Verräter«, sagte Paolo, ohne besonderes Ressentiment. »Ohne deinen genetischen Lebensstrang bist du ein blutloses Nichts, ein bloßes Organsystem.«

»Und es gibt Wichtigeres, als zu leben«, fügte Fazil hinzu.

»Wenn ihr genug Zeit bekämt, dann könntet ihr diesen Krieg überleben«, sagte Lindsay.

Paolo lächelte. »Das ist doch kein Krieg. Das ist Evolution - in die Tat umgesetzt. Glaubst du, du wirst darüber hinausleben?«

Lindsay zuckte die Achseln. »Vielleicht. Und was ist, wenn die Aliens kommen?«

Paolo glotzte ihn mit großen Augen an. »Daran glaubst du wirklich? An die Fremden aus dem All?«

»Vielleicht.«

»Du bist in Ordnung«, sagte Paolo.

»Aber wie kann ich euch helfen?« fragte Lindsay.

»Es geht um den Abschußring, die Muffe. Wir haben vor, den Kopf da abzuschießen. Ein geheimer Start, Spitzengeschwindigkeit, volle Kraft, und aus der Ekliptikebene hinaus. Vielleicht sieht dann irgendwer irgendeinmal das Ding da. Vielleicht stößt in fünfhundert Millionen Jahren irgendwas, wenn es längst keine Spur mehr von menschlichem Leben gibt, oder irgendjemand zufällig auf mein Gesicht. Außerhalb dieser Ebene gibt es keinen Weltraum-Müll, keinen Staub, keine Zusammenstöße - nur das tödliche, vollkommene Vakuum des Alls. Und das da, das ist feiner harter Stein. Soweit, wie wir hier draußen sind, könnte die Sonne sich in einen Roten Riesen verwandeln, und sie würde den Kopf kaum erhitzen. Und er könnte im Orbit bleiben bis zum Stadium des Weißen Zwerges, vielleicht bis zu dem der Schwarzen Asche, bis die Galaxie explodiert, oder bis der Kosmos beginnt, seinen eigenen Schwanz aufzufressen. Mein Abbild - für ewig.«

»Nur müssen wir es natürlich vorher rausschicken«, sagte Fazil.

»Dem Mister President wird das nicht gefallen«, sagte Lindsay. »In dem ersten Abkommen, das wir unterzeichneten, steht, daß vorläufig keinerlei Raketenstarts mehr erfolgen sollen und dürfen. Vielleicht später einmal, wenn unser Vertrauen sich verstärkt hat.«

Paolo und Fazil wechselten Blicke. Lindsay begriff sofort, daß ihm die Geschichte aus der Hand geglitten war.

»Also, schaut doch mal«, sagte er. »Ihr zwei, ihr seid doch begabt. Ihr habt 'n Menge freie Zeit zur Verfügung, seit der Abschußring geschlossen ist. Ihr könntet doch Porträtköpfe von uns allen machen.«

»Nein!« Paolo brüllte das Wort. »Das geht nur uns zwei was an, keinen sonst!«

»Und wie steht es mit dir, Fazil? Hättest du nicht auch gern einen Kopf?«

»Wir sind tot«, sagte Fazil. »Dafür haben wir zwei Jahre gebraucht. Und diese Zeit reichte nur für einen. Der Zufall hat uns alle beide reingelegt. Einer von uns mußte alles geben, ohne etwas dafür zu bekommen. Also haben wir eine Entscheidung gefällt. Zeig es ihm, Paolo!«

»Er sollte es nicht sehen«, sagte Paolo mürrisch. »Er versteht es ja doch nicht.«

»Ich will aber, daß er es weiß, Paolo.« Fazil blieb fest. »Warum ich folgen muß, und warum du die Führerschaft hast. Zeig es ihm, Paolo!«

Paolo griff unter seinen Poncho und zog ein Deckelkästchen aus durchsichtigem Acryl hervor. Darin lagen zwei Steinkuben - schwarze, quadratische, mit weißen Punkten auf den Flächen. Spielwürfel.

Lindsay fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Derlei hatte er im Ring Council gesehen: Spielleidenschaft als Lokalcharakteristikum. Nicht nur um Geld, sondern um die Kernpersönlichkeit spielten sie. Geheime Absprachen. Dominanzspiele. Sex. Die Kämpfe zwischen, nein innerhalb der Genlinien, zwischen Individuen, die mit öder Sicherheit wußten, daß sie völlig gleichwertig sind. Und die Würfel fielen rasch, und die Entscheidung war endgültig.

»Ich kann euch helfen«, sagte Lindsay. »Handeln wir es aus.«

»Wir haben eigentlich Dienst«, sagte Paolo. »Funküberwachung. Wir müssen weg, Mister Außenminister.«

»Ich komme mit«, sagte Lindsay.

Die beiden Shapers versiegelten den Steindeckel über ihrer versteckten Werkstatt und huschten in der Dunkelheit davon. Lindsay folgte, so rasch er konnte.

Die Shapers hatten über den ganzen Asteroiden verbreitete versenkte Abhörscheiben. Die schüsselförmigen Einschlagkrater waren ideal geeignet für die getarnten kupfernen Maschengeflechte. Alle Antennen wurden in einen Hauptprozessor eingespeist, dessen empfindliche Halbleiter in einer widerstandsfähigen Acrylkonsole abgeschirmt untergebracht waren. In Schlitzen dieser Konsole steckten Kassetten hausgemachter Aufzeichnungsbänder, die beständig an Dutzenden verschiedener Magnetköpfe vorbeirauschten. Eine weitere Vertiefung des Acrylsets enthielt ein Flüssigkristalldisplay für Videokopierung und ein Keyboard mit Handlettern.

Die beiden Genbrüder durchkämmten den Wellenbereich, huschten über ein Spektrum allgemeiner Sendeimpulse aus dem Kartell. Die meisten Bandbreiten boten chiffrierte Statik, anonyme Blips kybernetischer Datenimpulse. »Da, da haben wir was«, sagte Paolo. »Trigonometrier mir das, Fazil.«

»Es ist nahe«, sagte Fazil. »Oh, das ist nur der Irre.«

»Was?« fragte Lindsay. Eine riesige grüne, saftig-violett gesprenkelte Kakerlake flog mit schnarrenden Flügeln vorbei.

»Na, der, der immer den Raumanzug anhat.« Die beiden warfen einander Blicke zu. Lindsay las die Botschaft aus ihren Augen ab. Sie spielten auf den Gestank an, der von dem Menschen ausging.

»Will er reden?« fragte Lindsay. »Schaltet ihn bitte rein.«

»Der quasselt die ganze Zeit«, sagte Paolo. »Meistens singt er. Tobt in irgendeinen offnen Kanal rein.«

»Der steckt in seinem neuen Raumanzug«, sagte Lindsay hastig. »Stellt ihn rein!«

Er hörte den Rep-3 sprechen: »... bröselig, wie das Gesicht meiner Mutter. Traurig, daß ich meinem Freund Mars nicht ciao sagen kann. Schade auch um den Karneval. Ich bin kilometerweit draußen, und da ist dieses Zischen. Erst hab ich gedacht, es ist ein neuer Freund, der mit mir reden will. Ist es aber nicht. Ist nur ein kleines Loch an meinem Rücken, wo ich die Tanks eingeklebt hab. Die Tanks funktionieren prima, aber das Loch noch besser. Ich und meine zwei Häute - bald sind wir alle beide kalt.«

»Versucht ihn hochzukriegen!« sagte Lindsay.

»Ich sag dir doch, er hält den Kanal offen. Dieses Ding ist zweihundert Jahre alt, mindestens. Er kann uns nicht hören, während er selber spricht.«

»Ich werd mich nicht reinspulen, ich bleib hier draußen.« Die Stimme klang schwächer. »Keine Luft mehr zum Reden, und keine mehr zum Zuhören. Also versuch ich es eben und steig aus. Bloß so'n Reißverschluß. Wenn ich 'nen Hauch Glück habe, kann ich ganz aushäuten.« Leises Statikknistern. »Adieu, Sonne. Adieu, Sterne. Danke für ... «

Der Rest verlor sich im Dekompressionszischen. Dann war das statische knisternde Rauschen wieder hörbar. Und es hörte und hörte nicht auf.

Lindsay dachte die Sache durch. Dann sagte er leise: »War ich euer Alibi, Paolo?«

»Was?« Paolo war entsetzt.

»Ihr habt seinen Raumanzug sabotiert. Und dann wart ihr demonstrativ nicht hier, als ihr ihm noch hättet helfen können.«

Paolo war bleich. »Wir sind doch niemals auch nur in die Nähe seines Raumanzugs gekommen, ich schwör es!«

»Aber wieso wart ihr dann nicht hier, auf eurem Posten?«

»Kleo hat mich drangesetzt!« schrie Paolo. »Ian macht den Punkt, der Würfel hat es so entschieden! Ich sollte dabei sauber bleiben!«

»Halt das Maul, Paolo!« Fazil packte ihn am Arm.

Paolo versuchte ihn durch wütende Blicke einzuschüchtern, dann wandte er sich an Lindsay. »Kleo und Ian, die sind es. Denen stinkt es, daß ich soviel Glück habe ...« Fazil schüttelte ihn hin und her.

Paolo schlug ihm heftig ins Gesicht. Fazil schrie auf und schlang die Arme in festem Griff um Paolo, drückte ihn heftig an sich.

Paolo schaute schuldbewußt drein. »Ich war durcheinander«, sagte er. »Ich hab gelogen, bei dem mit Kleo; sie liebt uns alle. Die Sache war ein Unfall. Ja, ein Unfall.«

Lindsay ging weg. Mit dem Kopf voran hangelte er sich durch die Tunnels. Er kam an noch mehr Wetware vorbei und an einem Treibhaus, aus dem ein Gebläse den Duft von frischgemähtem Gras verbreitete.

Er gelangte in eine Kaverne, in der staubigrote Glühlichter jenseits einer gasdurchlässigen Membran leuchteten. In einer Abzweigung von dieser Höhlung befand sich Noras Quartier, hinter dem pfeifenden Wulst ihres persönlichen Luftschlauchs fast abgeblockt. Während der Exhalationsphase quetschte Lindsay sich daran vorbei und schlug gegen die Lichter.

Die Rundwandung des Raums war von violetten Arabeskenmustern bedeckt. Nora schlief.

Ihre Arme, ihre Beine waren in Drähten gefestigt. Handgelenke und Ellbogen, Knie und Fußknöchel steckten in Fesselklammern. Schwarze Myoelektroden klebten wie Mitesser auf den Muskelsträngen unter der nackten Haut. Arme und Beine bewegten sich ruhig im gleichen Takt, seitwärts, seitwärts, vorwärts, zurück. Auf dem Rücken ein langer knubbeliger exosklettaler Stützpanzer über den Ausläufern der Nervenknotenpunkte ihres Rückgrats.

Eine Diplomatentrainingsapparatur. Ein Spinalphthirus. In Lindsays Augenhintergrund blitzte Erinnerung auf, und er drehte durch. Er stieß sich von der Wandung ab und schoß auf die Frau zu. Als er wütend auf sie einzubrüllen begann, zuckten die Augenlider träge und öffneten sich.

Er packte sie am Hals und riß sie nach vorn, er grub die Fingernägel in den Gummisaum, dort, wo die Spinalwanze an ihre Haut stieß. Er zerrte wild und wütend. Ein Teil löste sich. Die Haut darunter schimmerte rot und war schweißglatt. Lindsay packte das zum linken Arm führende Kabel und schnallte es auf. Er zog heftiger; sie gab einen Zischlaut von sich, als ein Fesselband sich schärfer unter dem Rippenbogen in sie hineinschnitt.

Die Krebswanze schälte sich ab. Der Unterleib war scheußlich gespenstisch: eine hundertbeinige Masse von feuchten durchscheinenden Röhrchen, bedeckt mit haardünnen Porenhärchen. Lindsay zerrte weiter. Ein Kabelgeflecht dehnte sich und zerriß, vielfarbige Drähte quollen hervor.

Er stemmte beide Füße gegen den Rücken der Frau und zog. Sie keuchte, als ersticke sie, und krallte sich an den Strapsverschluß; dann öffnete sich der Gurt wie eine Peitschenschnur, und Lindsay hatte den ganzen Apparat in den Händen. Da die Programmierung unterbrochen war, zuckte und krümmte das Ding sich fast wie ein Lebewesen. Lindsay packte es an den Fesselkrampen und wirbelte es mit aller Kraft gegen die Wand. Die zerbrechlichen Plastiksegmente am Rücken des Dings brachen aus der überlappenden Verankerung, es knisterte. Lindsay peitschte das Ding weiter gegen den Fels. Braune Schmierflüssigkeit sickerte hervor und breitete sich dann zu einem schwerelosen Sprühnebel aus, als er erneut zuschlug. Er zertrampelte das Ding unter den Füßen, zerrte an der Fessel, bis sie nachgab. Unter den Platten traten die Eingeweide hervor: rhomboide Biochips, eingebettet in vielfarbige Faseroptik.

Er schmetterte das Ding noch einmal gegen die Wandung, langsamer. Seine Wut begann abzukühlen. Ihm war kalt. Sein rechter Arm zuckte unkontrollierbar.

Nora stand an der Wand und klammerte sich an eine Kleiderhalterung. Der abrupte Abbruch ihrer Nervenprogrammierung bewirkte, daß sie bebte, als hätte sie Schüttellähmung.

»Wo ist das andre?« verlangte Lindsay zu wissen. »Das Ding für dein Gesicht?«

Ihre Zähne schnatterten. »Das hab ich nicht mitgenommen«, sagte sie.

Lindsay kickte mit dem Fuß die Wanze beiseite. »Wie lang schon, Nora? Wie lange hängst du schon von dem Ding ab?«

»Ich trag es jede Nacht.«

»Jede Nacht?! Mein Gott!«

»Ich muß die Beste sein«, sagte sie bebend. Dann fummelte sie sich einen Poncho vom Gestänge und steckte den Kopf durch die Kragenöffnung.

»Aber die Schmerzen«, sagte Lindsay. »Das brennt doch furchtbar.«

Nora glättete den leuchtenden Stoff um die Schultern und strich ihn zu den Hüften hin fest. »Du bist einer von denen«, sagte sie dann. »Unsere Altsemester, die Anfänger. Die Versager. Die Abtrünnigen.«

»Was war denn deine Klasse?« fragte Lindsay.

»Fünfte. Die höchste, die letzte.«

»Ich war in der Ersten«, sagte Lindsay. »Auswärtige Abteilung.«

»Aber - dann bist du ja nicht einmal ein Shaper!«

»Ich bin ein Concatenat.«

»Aber ihr seid doch angeblich alle tot!« Sie schälte sich die zertrümmerten Klammern des Krebses/der Wanze von den Knien und Fußknöcheln. »Ich müßte dich töten. Du hast mich angegriffen. Und du bist ein Verräter.«

»Als ich das Ding da zerschlagen habe, verspürte ich so etwas wie echte Freiheit.« Nachdenklich und ohne dessen gewahr zu werden, rieb er sich den Arm. Er hatte doch wahrhaftig die Kontrolle über sich verloren. Aufsässigkeit und Widerspruch hatten Besitz von ihm ergriffen, ihn überwältigt. Einen Augenblick lang war echte menschliche Wut durch sein Training herauf gezüngelt und hatte in ihm einen weißglühenden Kernpunkt echter Raserei gereizt. Er war durcheinander, fühlte sich jedoch mehr als ein Ganzes, stärker als sein eigenes wahres Selbst, als ihm dies über viele Jahre hin möglich gewesen war.

»Leute wie du haben es für all die andern von uns unmöglich gemacht«, sagte Nora. »Wir Diplomaten müßten ganz oben sein. Wir sollten koordinieren, sollten Frieden stiften. Aber die haben das ganze Programm sausen lassen. Wir sind ›unzuverlässig‹, haben die gesagt. Eine sehr üble Art von Ideologie.

»Sie sähen uns am liebsten tot«, sagte Lindsay. »Das ist auch der Grund, warum man euch dienstverpflichtet hat.«

»Ich wurde nicht eingezogen. Ich bin ein Freiwilliger.« Sie verknotete die letzte Schleife an ihrem Poncho an der Hüfte. »Sie werden mich wie einen Helden begrüßen - wenn ich es schaffe, zurückzukehren. Und das ist die einzige Chance, die ich je bekommen werde, in den Ringen eine Machtposition zu erlangen.«

»Es gibt auch andere Machtzentren.«

»Sicher. Aber keins davon zählt.«

»Rep-3 ist tot«, informierte Lindsay die Frau. »Warum habt ihr ihn umgebracht?«

»Drei Gründe«, sagte Nora. Inzwischen waren sie anscheinend über beschönigende Floskeln hinaus. »Erstens war es einfach. Es verbessert unsere zahlenmäßigen Chancen euch gegenüber. Und drittens: der Mann war verrückt. In einem noch schlimmeren Grad als der Rest eurer Besatzung. Zu unkalkulierbar. Und viel zu gefährlich, als daß man ihn am Leben hätte lassen dürfen.«

»Aber, er war doch ganz harmlos«, sagte Lindsay. »Kein bißchen so wie wir zwei.« Tränen überschwemmten seine Augen.

»Wenn du so gute Kontrolle hättest wie ich, würdest du nicht weinen. Nicht einmal, wenn sie dir das Herz aus dem Leib reißen.«

»Das haben sie schon«, sagte Lindsay. »Und dir auch.«

»Abélard«, sagte sie. »Er war ein Pirat.«

»Und die andern?«

»Glaubst du, die würden um uns weinen?«

»Nein«, sagte Lindsay. »Und trauern würden sie auch nicht besonders um ihre eigenen Leute. Was die suchen würden, wäre Rache und Vergeltung. Was würdest du empfinden, wenn morgen Ian verschwände? Und zwei Monate später findest du zufällig ein paar von seinen Knochen am Auffanggatter einer Fermentationsanlage? Oder - vielleicht ist das sogar noch, besser, da deine Nerven ja dermaßen perfekt gestählt sind: wie wäre es denn mit dir selber an dieser Stelle? Wie würde dir denn die Macht schmecken, wenn du draußen, vor einer Luftschleuse blutigen Schaum aus dir herauswürgen mußt?«

»Es liegt einzig bei dir«, sagte sie. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt, genau wie wir es zwischen uns abgemacht haben. Es liegt bei dir, deine Seite in den Griff zu bekommen.«

»Ich werde nicht in diese Lage versetzt sein«, sagte Lindsay. »Ich dachte, wir beide hätten eine Übereinkunft getroffen?«

Sie wies auf das vor sich hinsickernde Wrack des Spinalkrebses. »Du hast mich nicht um meine Erlaubnis gebeten, ehe du mich angegriffen hast. Du hast etwas gesehen, das zu sehen dir unerträglich war, und du hast es zerstört. Genau das haben auch wir getan.«

»Ich will mit Kleo reden«, sagte Lindsay.

Sie wirkte verletzt. »Das ist gegen unsere Absprache. Du verhandelst über mich.«

»Aber das ist doch Mord, Nora! Ich muß sie einfach sprechen.«

Nora seufzte. »Sie ist in ihrem Garten. Du wirst aber einen sterilen Anzug anziehen müssen.«

»Meiner ist drüben im Consensus

»Nun, dann nimm doch einen von Ian. Komm schon!« Sie führte ihn in die glühlichterfüllte Höhle zurück, dann durch eine lange brüchige Stollenader, einen Arbeitsgang, zu dem Quartier des Ian Mavrides.

Der Schneider von Raumanzügen und Graphikkünstler war wach und bei der Arbeit. Er hatte sich geweigert, seinen Dekontaminationsanzug abzulegen, er trug ihn beständig und hatte so ein steriles Einmann-Environment für sich.

Für den Mavrides-Clan war Ian der Top-Frontmann, der Zielpunkt sämtlicher Bedrohungen und aller Ressentiments. Paolo hatte immerhin soviel ausgeplaudert, aber Lindsay hatte das schon vorher gewußt.

Die gerundeten Wände von Ians Höhle waren säuberlich mit einem Gittermuster verziert. In wochenlanger Arbeit hatte er ein raffiniertes geometrisches Mosaik von L-Symbolen, die sich ineinander verschlangen, gefertigt. Im Laufe der Zeit waren die Zeichen kleiner geworden, folgten einander dichter, waren in besessen krabbelnder Starre zusammengedrängt. Das komplizierte Muster wirkte klaustrophobisch, erstickend; die winzigen Rechtecke schienen sich zu winden, schienen zu flackern.

Als sie eintraten, fuhr Ian herum und steckte die Hand in eine ausgebuchtete Ärmeltasche. »Wir sind's«, sagte Nora.

Ians Augen funkelten wild hinter der Helmplatte. »Oh«, machte er. »Zischt ab!«

»Heb dir das für die andern auf«, sagte Lindsay. »Mich würde es weit mehr beeindrucken, wenn du ein bißchen schlafen würdest, Ian.«

»Klar«, sagte Ian. »Damit du hier reinkommen und mir den Anzug ausziehen und mich kontaminieren kannst.«

Nora sagte: »Wir brauchen einen Abzug, Ian. Der Minister besucht den Garten.«

»Ich scheiß auf ihn! Der wird mir nicht einen von meinen Anzügen verstinken! Der soll sich gefälligst selber einen nähen, genau wie Rep-3.«

»Du bist geschickt mit diesen Anzügen, Ian.« Lindsay fragte sich, ob es Ian gewesen war, der Rep-3 ermordet hatte. Möglicherweise hatten sie auch gewürfelt, wer diese Auszeichnung erhalten sollte. Er zog einen Anzug von der Halterung. »Wenn du den ausziehst, den du jetzt anhast, verzichte ich vielleicht auf diesen hier. Was sagst du dazu? Ich würfle mit dir.«

Ian preßte einen Sauerstoffballon an die Aufnahmeschnaupe des Anzugs. »Fordere bloß dein Glück nicht raus, Krüppel!«

Kleo bewohnte das geräumigste Gewächshaus. Es war ein Ziergarten; hier wuchs alles langsamer als in den wurmlochengen Industriegärten, wo die Vegetation in reinem Kohlendioxid unter wachstumsfördernden Lampen üppig aufschoß. Es war ein länglicher Raum, und die Längswände wirkten geriffelt wie das Haus einer Seemuschel. Von fluoreszierenden Röhren entlang der Riffelung strömte grelles Licht.

Der Boden bestand aus Minenabhub und wurde durch die Feuchtigkeit und ein Netz aus feinen Plastikmaschen festgehalten. Und wie die Shapers selbst, waren auch die Pflanzen genetisch verändert, so daß sie ohne Bakterien leben konnten. Es waren überwiegend Blumen: Rosen, Gänseblümchen, Ranunkeln, so groß wie Fäuste.

Kleos Bett war ein überdachtes Himmelbett, eine Korbflechtarbeit aus gebogenem Bambus. Sie war wach und arbeitete an einem Stickrahmen. Die Haut war dunkler als die der übrigen Mitglieder der »Familie« - die Wachstumsleuchten hatten sie gebräunt. Sie trug einen ärmellosen weißen Kittel, in der Taille gegürtet, der in vielen feinen Falten gerafft war. Beine und Füße waren nackt. Über dem Herzen sah man ein gesticktes Rang-Logo.

»Hallo, meine Liebe«, sagte sie.

»Kleo.« Nora schwebte in das Korbgeflecht und küßte Kleo flüchtig auf die Wange. »Da er darauf bestand, habe ich ...«

Kleo nickte knapp. »Ich hoffe, du wirst es kurz machen«, beschied sie Lindsay. »Mein Garten ist nicht für Ungeplante.«

»Ich möchte über die Ermordung des Dritten Repräsentanten sprechen.«

Kleo stopfte eine krause Locke unter das geflochtene Haarnetz zurück. Die Proportionen ihres Handgelenks, der Handflächen und Unterarme ließen erkennen, daß sie älter war als die übrigen, aus einem früheren Produktionsgang stammte. »Unsinn«, sagte sie. »Eine absurde Unterstellung.«

»Ich weiß, daß du ihn umbringen ließest, Kleo. Vielleicht hast du es sogar selbst getan. Sei ehrlich mit mir.«

»Der Tod dieses Mannes war ein Unfall. Es gibt keine gegenteiligen Beweise. Deshalb trifft uns keine Schuld.«

»Ich bemühe mich, unser Leben zu retten, Kleo. Bitte verschone mich mit ideologischem Gewäsch. Wenn Nora die Wahrheit eingesteht, wieso kannst dann nicht auch du es tun?«

»Was du mit unserem Unterhändler in einer Geheimsitzung diskutierst, Mister Außenminister, geht uns nichts an. Die Familie Mavrides kann und will nicht unbewiesene Behauptungen anerkennen.«

»Ach, so ist das also?« fragte Lindsay hinter seiner Gesichtsplatte. »Jenseits eurer Ideologie existieren für euch keine Verbrechen? Und ihr erwartet von mir, daß ich mich dieser Fiktion anschließe, für euch lüge, euch beschütze?«

»Wir sind dein Volk«, sagte Kleo und blickte ihn fest mit ihren klaren Haselnußaugen an.

»Aber ihr habt meinen Freund getötet.«

»Diese Annahme ist nicht beweisbar, Mister Außenminister.«

»Das hat keinen Sinn«, sagte Lindsay. Er beugte sich vor, ergriff einen dornlosen Rosenstrauch und riß ihn mitsamt den Wurzeln aus. Dann schüttelte er die Pflanze; feuchte Erdbrocken flogen. Kleo war zusammengezuckt. »Da, sieh her!« sagte Lindsay. »Verstehst du immer noch nicht?«

»Ich verstehe, daß du ein Barbar bist«, sagte Kleo. »Du hast etwas Schönes zerstört, nur um ein Argument zu unterstreichen, von dem du genau weißt, daß ich es nicht gelten lassen kann.«

»Gib ein bißchen nach«, bat Lindsay. »Hab Erbarmen!«

»Das ist nicht im Rahmen unseres Auftrags«, beschied ihn Kleo.

Lindsay machte kehrt und ging. Direkt außerhalb der Luftschleuse schälte er sich aus dem feuchtklebrigen Raumanzug.

»Ich hab dir ja geraten, es nicht zu versuchen«, sagte Nora.

»Sie ist eine Selbstmörderin«, sagte Lindsay. »Warum? Warum folgt ihr ihr?«

»Weil sie uns liebt.«

 

ESSAIRS XII: 23-2-'17

 

»Ich will dir was über Sex sagen«, sagte Nora. »Gib mir deine Hand.«

Lindsay reichte ihr die Linke. Sie faßte ihn am Handgelenk, zog ihn nach vorn und steckte sich seinen Daumen tief in den Mund. Dort hielt sie ihn fest und gab ihn dann frei. »Beschreib mir, was du gespürt hast.«

»Es war warm«, sagte Lindsay. »Naß. Und unangenehm intim.«

»So ist Sexualität, wenn man unter Appetenzhemmern steht«, sagte sie. »In der ›Familie‹ gibt es Liebe, aber keine erotischen Spielchen. Wir sind Soldaten.«

»Also sozusagen chemische Kastraten?«

»Aus dir spricht ein Vorurteil. Du hast das selbst noch nicht erlebt. Und deshalb kommt die Orgie, die du vorschlägst, überhaupt nicht in Frage.«

»Der Carnaval ist keine Orgie«, protestierte Lindsay. »Es handelt sich um eine Zeremonie. Um gegenseitiges Vertrauen, um Gemeinschaftsgefühl, Vereinigung. Er bindet die Gruppe zusammen. Wie bei Tieren, die sich aneinanderschmiegen.«

»Es ist zuviel verlangt«, sagte sie.

»Dir ist nicht klar, was auf dem Spiel steht. Sie wollen gar nicht deinen Körper haben. Sie wollen euch umbringen. Sie verabscheuen eure sterilen Eingeweide. Du hast keine Ahnung, wie ich auf sie eingeredet, sie bedrängt, sie überredet habe ... Hör zu, sie benutzen dabei Halluzinogendrogen. Das Gehirn wird im Carnaval zu Pudding. Du weißt nicht, was deine eigenen Hände sind - und schon gar nicht, was die Genitalien eines andern sind... du bist ganz hingegeben und preisgegeben ... Alle sind es, und das ist das Wichtige dabei. Schluß mit den Spielchen, Schluß mit der Politik. Keine Rangordnung mehr, kein oben und unten, kein Groll oder Neid. Kein Selbstgefühl. Und wenn der Carnaval zu Ende ist, dann ist es wie der Erste Schöpfungstag. Alles lächelt.« Lindsay wandte blinzelnd die Augen ab. »Nora, das ist was Wirkliches. Es ist nicht ihre Regierungsform, die sie am Leben erhält; die ist nur die Hirnseite davon. Der Carnaval aber ist das Blut, das Mark, der fruchtbare Schoß.«

»Aber es ist nicht unsere Art, Abélard.«

»Und doch, wenn ihr euch mit uns verbinden könntet, ein einziges Mal, nur für ein paar kleine Stunden! Dann würden sich diese Spannungen von uns lösen, und wir könnten einander ehrlich vertrauen. Hör mich an, Nora! Sex, das ist nicht irgendeine technische, mechanische Fertigkeit. Sex ist wirklich, fundamental wirklich, menschlich, er ist eins der allerletzten Dinge, die uns noch geblieben sind. Ach, verdammt! Was habt ihr denn schon zu verlieren?«

»Es könnte sich um einen Hinterhalt handeln«, sagte sie. »Ihr könntet unser Hirn durch Drogen verbiegen und weichmachen, um uns zu töten. Es ist ein Risiko.«

»Selbstverständlich ist es das, aber es gibt Möglichkeiten, das zu vermeiden.« Er stellte festen Augenkontakt zu ihr her. »Ich sage dir das alles wegen des tiefen Vertrauens, das zwischen dir und mir besteht. Wir könnten es doch wenigstens einmal versuchen

»Mir gefällt das nicht«, sagte Nora. »Ich mag Sex nicht. Ganz besonders nicht mit den Ungeplanten.«

»Es geht aber darum, oder du mußt deinen eigenen Gensaft nehmen«, sagte Lindsay. Aus der Fronttasche zog er eine aufgezogene Injektionsspritze und steckte die Nadel auf. »Mein Stachel ist bereit.«

Sie warf einen seitlichen Blick darauf, dann produzierte sie ihre eigene Nadel. »Es wird dir vielleicht nicht gut bekommen, Abélard.«

»Was ist es?«

»Ein Sedativum. Kombiniert mit Phenylxanthin, um deinen IQ hochzujagen. Damit du begreifst, wie und was wir empfinden und denken.«

»Das da ist nicht die hochpotenzierte Carnavalmischung«, sagte Lindsay. »Bloß die Aphrodisiaka, fünfzigprozentig, und Muskelrelaxatoren. Ich glaube, du hast das nötig, da ich den Spinalkrebs ja kaputtgemacht habe. Du wirkst ein bißchen fickerig.«

»Du scheinst mir übergenau zu wissen, was ich brauche.«

»Darin stehe ich dir kaum nach.« Lindsay streifte den losen Ärmel seiner Wickelbluse hoch. »Das ist es jetzt, Nora. Du könntest mich jetzt ganz leicht töten und die Schuld auf eine allergetische Reaktion schieben, oder auf Streß oder sonst etwas Beliebiges.« Er betrachtete die vulgäre Tätowierung auf seinem Arm. »Tu es nicht!«

Auch sie war argwöhnisch. »Zeichnest du das hier auf?«

»Ich laß in meinem Zimmer keine Bänder zu.« Aus einem Styrenschränkchen holte er zwei Elastoschlingen und reichte ihr die eine.

Dann band er sich am Bizeps den Oberarm ab. Sie tat das gleiche. Sie ließen die Ärmel hochgestreift und warteten stumm, bis die Venen hervortraten. Es war der intimste Augenblick, den sie je zusammen erfahren hatten. Diese Vorstellung erregte Lindsay.

Sie ließ die Nadel in die Armbeuge gleiten und fand die Vene, die sich an der plötzlich sich bildenden Blutrosette am Kanülenende zeigte. Er tat es ihr nach. Sie blickten einander fest in die Augen und drückten den Kolben durch.

Der Augenblick verging. Lindsay zog die Nadel heraus und drückte einen sterilen Plastikpunkt auf die Einstichstelle an Noras Arm. Dann tat er dies auch bei sich selbst. Sie schnürten die Pressionsschläuche auf.

»Anscheinend stirbt keiner von uns«, sagte sie.

»Ein gutes Zeichen«, sagte Lindsay und warf die Tourniquets in den Raum. »Soweit, so gut.«

»Aaah.« Sie schloß halb die Lider. »Es haut rein. Oh, Abélard.«

»Was fühlst du?« Er ergriff sie an der Schulter. Der Nexus von Skelett und Muskel schien unter seiner Berührung nachgiebiger zu werden. Sie atmete flach, mit geöffneten Lippen, die Augen umdunkelt.

»Als würde ich zerschmelzen«, antwortete sie.

Das Phenylxanthin wirkte bei ihm zuerst. Er fühlte sich königlich. »Du hast mir nichts antun wollen«, sagte er. »Wir sind aus dem gleichen Stoff, du und ich.«

Er zog die Schleifen auf und zog ihr die Hemdbluse aus, dann schälte er ihr wie eine abgezogene Haut die Hosen von den Beinen. Die Sandalen ließ er an ihren Füßen. Seine eigenen Kleider klatschten, als er sie von sich warf. Sie schwebten, langsam kreisend, mitten in der Luft.

Mit funkelnden Augen zog er sie an sich.

»Hilf mir atmen!« flüsterte sie. Die Entspannungsdroge wirkte sich auf ihre Lungen aus. Lindsay faßte ihr mit der Hand unter das Kinn, öffnete ihr den Mund und versiegelte ihre Lippen mit den seinen, die er darum herumschloß. Er blies sanft und spürte, wie ihre Rippen sich an seiner Brust zu weiten begannen. Ihr Kopf rollte nach hinten;

ihre Nackenmuskeln waren weich wie Wachs. Er umklammerte mit seinen Beinen von innen her die ihren und beatmete sie.

Schlaff schloß sie ihre Arme um seinen Hals. Dann zog sie einen Hauch weit ihren Mund von dem seinen und hauchte: »Versuch es jetzt.«

Er mühte sich, in sie einzudringen. Trotz seiner Erregtheit führte es zu nichts; die aphrodisiakische Kombination hatte bei ihr noch nicht durchgeschlagen, und sie war noch völlig trocken.

»Tu mir nicht weh«, sagte sie.

»Ich will dich«, sagte Lindsay. »Du gehörst zu mir. Nicht zu diesen anderen.«

»Sag das nicht«, murmelte sie mit belegter Stimme. »Das da ist nur ein Experiment.«

»Für die, vielleicht. Nicht für uns.« Das Phenylxanthin hatte ihn sicher gemacht, und in seiner Sicherheit wurde er rücksichtslos und brutal. »Die andren zählen überhaupt nicht. Sag bloß ein Wort, und ich bring jeden davon um. Ich liebe dich, Nora. Sag, daß du mich auch liebst.«

»Das kann ich nicht.« Sie stöhnte. »Du tust mir weh!«

»Dann sag wenigstens, daß du mir vertraust.«

»Ich vertraue dir. So. Es ist geschehen. Bleib mal eine Weile still.« Sie umschloß ihn mit ihren Beinen, bewegte die Hüften her und hin, bis er ganz in sie eingedrungen war, und schmiegte sich an ihn. »So ist das also, Sex.«

»Ja, kennst du das denn nicht?«

»Doch. Einmal in der Akademie, nach einer Wette. Aber das war gar nicht so wie jetzt.«

»Ist es dir angenehm?«

»Ich mag es. Mach weiter, Abélard!«

Nun war seine Neugier geweckt. »Haben sie dir auch das Lustzentrum angezapft? Ich hab das einmal mitgemacht. Eine Interrogationsbohrung.«

»Aber gewiß haben sie das gemacht. Nur, das hatte überhaupt nichts Menschliches, das war bloße blanke Ekstase.« Sie schwitzte. »Nun mach schon, Liebster!«

»Nein. Warte doch noch ein bißchen.« Er mußte blinzeln, als sie seine Hüften umklammerte. »Ich verstehe, was du meinst. Das ist blöd, nicht wahr? Wir sind doch schon Freunde.«

»Ich will dich jetzt haben, Abélard! Komm schon und mach mich fertig!«

»Wir haben uns den Beweis geliefert. Und außerdem, ich starre vor Dreck!«

»Es ist mir verdammt egal, wie verseucht du bist! Um Himmels willen, mach endlich, beeil dich!«

Daraufhin mühte er sich, ihr zu Gefallen zu sein, und rackerte sich fast eine ganze Minute lang mechanisch ab. Sie biß sich auf die Lippen und begann erwartungsvoll zu stöhnen und den Kopf in den Nacken zu werfen. Doch für Lindsay war es auf einmal, als hätten ekelhafte Würmer dem Ganzen den Sinn und die Bedeutung ausgesaugt. »Ich kann nicht weitermachen«, sagte er. »Ich sehe einfach keinen Sinn darin, daß wir uns die Mühe machen sollen.«

»Dann laß mich doch einfach machen. Laß mich dich benutzen! Na, komm schon!«

Er bemühte sich, an etwas sexuell Stimulierendes zu denken. Die gewohnte feuchtdumpfe wirbelnde Bilderwelt seiner erotischen Phantasievorstellungen kam ihm abstrakt vor und war so, als habe sie nichts mit ihm zu tun, wie das Kopulationsverhalten einer fremdartigen biologischen Gattung. Er dachte an seine Ex-Frau. Ihr Sexualverhalten war dem hier ziemlich ähnlich gewesen, ein Akt gegenseitiger Höflichkeit, eine Art Verpflichtung.

Er blieb bewegungslos und ließ sich von ihren klatschenden Stößen behämmern. Endlich entrang sich ihr ein verzweifelter Lustschrei.

Sie entzog sich ihm langsam, dann tupfte sie sich mit dem Blusenärmel den Schweiß von der Stirn und dem Hals. Ihr Lächeln war scheu.

Lindsay schob es mit einem Achselzucken weg. »Ich begreife deine Argumente. Es ist Zeitverschwendung. Wahrscheinlich wird es mir nicht leicht werden, die anderen davon zu überzeugen, aber immerhin, ich kann es versuchen und ihnen Vernunft predigen ...«

Sie schaute ihn hungrig an. »Ich hab was falsch gemacht! Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß es derart scheußlich für uns beide wird. Jetzt hab ich das Gefühl, ich war furchtbar egoistisch, weil du überhaupt nichts davon gehabt hast.«

»Nein. Ich bin okay«, sagte Lindsay nachdrücklich.

»Du hast gesagt, du liebst mich.«

»Ach, das - das waren bloß meine Hormone, die da gesabbert haben. Natürlich, ich empfinde eine tiefe Hochachtung dir gegenüber, ein Gefühl der kameradschaftlichen ... Es tut mir leid, daß ich das zu dir gesagt habe. Verzeih mir. Natürlich meine ich es nicht so.«

»Natürlich«, sagte sie und zog sich das Blusenhemd über.

»Sei doch nicht so bitter«, sagte Lindsay. »Nimm es mir nicht übel. Da, vielleicht solltest du davon ein bißchen was nehmen. Ich bin dankbar für das eben. Ich kann es jetzt in einer Weise sehen wie nie zuvor. Liebe ... das ist eine leere Sache, keine Substanz drin. Vielleicht funktioniert das ja für andere Leute, irgendwo anders, in irgendeiner anderen Zeit.«

»Aber nicht für uns.«

»Nein. Nicht für uns. Ich mach mir jetzt üble Gewissensbisse. Weil wir unsere Verhandlungen durch ein übliches Sexualklischee erniedrigt haben. Du mußt das als eine schwere Beleidigung empfunden haben. Als völlig unpassend.«

»Mir wird übel«, sagte sie.

 

ESSAIRS XII: 24-2-'17

 

»Jetzt biste wieder auf Draht, wah?« Der Präsident verzog die runzelige kurze Nase. »Schluß jetzt mit dem Scheiß, von wegen, daß ihr uns den Saft abdrehn wollt?«

»Nein, Sir. Nein.« Schaudernd schüttelte Lindsay den Kopf. »Es geht mir schon besser jetzt.«

»Das reicht mir. Bind ihn los, Rep-2!«

Die Frau löste Lindsays Fesseln und befreite ihn so von der Höhlenwandung.

»Ich hab's versiebt«, sagte Lindsay. »Das sehe ich jetzt ein, aber als die Downers auf mich runterhämmerten, da ist einfach alles kristallklar geworden. Nahtlos klar.«

»Was dich angeht, ist es okay, aber wir haben schließlich so was wie die Ehe«, sagte Senator-1 grimmig und umklammerte fest die Hand von Rep-1.

»Ich bin untröstlich«, sagte Lindsay und rieb sich die Arme. »Die stecken hier alle unter dem Zeug. Außer Nora, aber erst kürzlich. Mir ist nie klar geworden, wie tief das runterreicht. Diese Leute sind wirklich unerbittlich. Sie haben einfach keine Ahnung von dem anständigen Durcheinander und der schönen Verwirrung, die eben zum Sex gehören. Die greifen so sauber einer in den anderen hinein wie Zahnräder. Wir werden sie richtig verführen müssen.« Lindsay ließ den Blick über die Leute schweifen: Senator-3, mit ihrem kurzgeschorenen Kürbiskopf, Richter-3, der sich gemächlich mit einem Fingernagelspan in den Zähnen stocherte. »Das wird nicht leicht werden.«

»Immer mit der Ruhe, Außenminister.« Der Präsident fuhr glättend über eine der roten Plastikbuffen seiner Schlitzärmel. »Du hast die Scheiße lang genug vom Explodieren abgehalten. Und die Scheißer haben uns Rep-3 weggepustet.«

»Dafür haben wir aber keine Beweise.«

»Du weißt, daß sie ihn umgebracht haben, und wir wissen das auch. Du hast die Leute gedeckt, Außenminister, und vielleicht war das ja richtig, aber es bedeutet einfach, daß du zu tief mit drinsteckst. Es ist nicht unser Auftrag, all diese Leute umzulegen. Und wenn wir sie beseitigen wollten, dann hätten wir nicht unser Geschütz aus der Consensus auf diesen Felsbrocken da rübergeholt.«

»Aber darin liegt doch unser Triumph. Der Sieger aller! Wir haben die Armageddon-Kanonen zum Schweigen gebracht, oder? Und danach, danach ist alles möglich!«

»Wir müssen der Bedrohung den Garaus machen. Das ist unser Auftrag. Und dafür werden uns die Mechs - vielleicht - bezahlen. Während du dir die Lunge aus dem Hals gequasselt hast, haben wir Forschungsarbeit betrieben. Die Tunnelgänge sind kartographiert. Wir wissen ausreichend über ihre Maschinen Bescheid, um sie zerstören zu können. Wir werden dies Nestchen hier ausnehmen. Und dann husch und ab in die Kartelle und ins feine Leben.«

»Ihr wollt sie hier in einem Wrack zurücklassen?«

Die Parlamentsvorsitzende zeigte ein verkniffenes Grinsen. »Wir können ihnen ja unsere Kanone dalassen. Wir werden die dort nicht brauchen, wo wir hingehen.«

Richterin-2 berührte Lindsays sandalenbeschuhten Fuß. »Ist doch ganz leicht, Außenmann. Wir sind im Themis-Kartell, ehe du nur pieps denken kannst, und schlabbern uns randvoll in irgend so 'nem verpißten Provinznest. Wir verpassen den Mechs 'ne Maulsperre, wenn wir die Fummel da anhaben.« Sie zupfte am Schulterband ihres Plastikgewands. Ihre Hand war venenübersät. Zwei der Senatoren kicherten hämisch.

»Wann?« fragte Lindsay.

»Das wirst du schon erfahren. Aber inzwischen läßte mal besser den Deckel drauf!«

»Und was ist, wenn einer von denen zu uns überlaufen will?« fragte Lindsay.

»Na, dann bringst du sie halt mit«, sagte der Präsident.

 

ESSAIRS XII: l-3-'17

 

Lindsay schleppte sich durch die Dunkelheit voran und zerrte eine Ladekiste hinter sich her. Immer wieder pochte er unterwegs gegen den Fels. »Paolo! Fazil!«

Ein Gesteinspfropfen bewegte sich knirschend zur Seite, in gespenstischem Kerzenschimmerlicht tauchte Paolo auf. Er stemmte sich bis zu den Ellbogen heraus und neigte sich Lindsay zu. »Ja? Was steht zu Diensten?«

»Paolo, reden wir über die Bedingungen.«

»Geht es schon wieder um diese Orgiengeschichte?«

»Wir bereiten einen Abschuß vor«, sagte Lindsay. Er wies mit dem Daumen auf den beladenen Kasten hinter sich. »Aber, wenn wir zu einer Übereinkunft kommen könnten, dann könnten wir zwei Starts machen.« Lindsay lächelte. »Ein kleiner Gefallen gegen den andern, klar? Ich verschaffe euch euren Abschuß ... und als Gegenleistung unterstützt ihr mich bei meiner Carnavalsache.«

Paolos Gesicht verzog sich in Fältchen. Behutsam fuhr er sich über die nässenden Schwären unter seinem Kinn. »Du willst, daß wir unsern Körper für unsre Kunst verhökern. Gib's auf, Außenminister! Die andern würden da niemals mitspielen. Oder kannst du dir Kleo vorstellen ...« - seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern ab -, »wie sie für diesen Strolch und Piratenkapitän die Beine breitmacht?«

»Ich habe nichts davon gesagt, daß es wirklich passieren muß«, sagte Lindsay. »Ich wollte euch nur dazu bewegen, daß ihr mich unterstützt. Wollt ihr euren Kopf ins All starten, oder wollt ihr das nicht?«

Paolo warf einen Blick in den Gang hinter sich. »Also, ich bin dafür«, sagte Fazils Stimme.

»Schön. Dann möchte ich, daß einer von euch in die Abschußkammer geht und beim Aufstellen der Parameter hilft. Und der andre soll mit mir kommen und mir helfen, den Abschußring aufzuladen. Und kein Wort über unsere Abmachung - zu keinem! Ist das klar?«

»Du verschaffst uns unsern Abschuß. Dann sorgen wir dafür, daß du damit bei den andern glatt runtergehst. Also, so wie wenn du uns durch dein pures Charisma dazu überredet hast, klar?«

»Das sind die Bedingungen, die ich zu bieten habe«, sagte Lindsay. »Ihr bewahrt meine Geheimnisse. Ich die euren. Also, und jetzt, wer von euch beiden wird den Abschuß vorbereiten?«

»Das werde ich«, sagte Paolo. Er wand sich an Lindsay vorbei und verschwand in der Finsternis des Tunnels in Richtung zum Kontrollraum der Raketenstarts. Fazil spähte durch die Öffnung. »Was ist in dem Kasten?« fragte er.

»Beweismaterial«, sagte Lindsay. »Erinnerungsstücke an frühere Überfälle und so. Halt so Zeug, das uns mal peinlich werden könnte, wo wir uns jetzt hier auf Dauer niederlassen wollen.« Es war - in Lindsays Überzeugung - sogar halb wahr. Eine Peinlichkeit würde sich kaum innerhalb ESSAIRS ergeben, sondern bei den Mech-Kartellen, und zwar wenn die Piraten sich von ihrer besten und wohlerzogensten Seite würden zeigen müssen. Bedeutendere Kartelle wie Themis waren da recht eigensinnig: Offenkundige Piraterie war dort nicht einmal in den miesesten hinterwäldlerischen Pißorten gern gesehen.

Die Piraten hatten den Container ohne seine Kenntnis oder Inspektionsmöglichkeit beladen und ihm aufgetragen, ihn abzuschießen. Und daraus schloß er, daß der geplante Coup ziemlich knapp bevorstand.

Fazil kam mit seiner Kerze in den Tunnel. »Kann ich mir das mal ansehen?« Er griff an Lindsay vorbei und legte eine Hand auf die Packkiste. Ein pechschwarzer Kakerlake zwängte sich kopfüber zwischen den Plastikstreben hervor und ließ seine armlangen peitschendünnen Kopffühler tasten. Mit einem angeekelten Zischen riß Fazil die Hand zurück. Lindsay versuchte rasch, das Ungeziefer zu packen, verfehlte es aber.

»Dreckig«, murmelte Fazil. »Komm, hilf mir mit dem Kopf!«

Lindsay folgte ihm in die Werkstatt. Gemeinsam hievten und schoben sie die massive Kopfbüste in den Gang hinaus. Das war in dem engen Tunnel gar nicht so einfach. »Vielleicht sollten wir das Ding schmieren«, sagte Lindsay.

»Paolos Gesicht wird nicht mit 'ner verpopelten Nase in die Ewigkeit eintreten«, sagte Fazil. Dann pustete er die Kerze aus und versiegelte das Atelier. Danach schob er die Skulptur vor sich her auf den Abschußring zu. Lindsay, die Kiste hinter sich herziehend, folgte ihm.

Die Strecke war umständlich und gewunden, führte durch leergenagte Adern im Gestein, in denen schale Luft hing. Das Verladedock des Rings lag dicht an der Außenfläche des Asteroiden in einer Wandung des bedeutendsten Produktionszentrums von ESSAIRS. Dort, in nächster Nähe zum Abschußring, fertigten sie die Tarnflugzeuge an.

Der Tarnkomplex bestand aus einem traubenförmigen Gebilde von Fermentationssäcken, die durch biegsame hydraulische Rohre miteinander verbunden waren. Vertäut waren sie mit Geiseilen, und um sie herum befanden sich Batterien von scharfschimmerndem blauen Wachstumslicht. Die Traube hing in halber Höhe, die durchsichtigen Kammern schäumten träge.

Sie hatten die Anlage nicht gänzlich stillgelegt; das hätte ihre Wetware umgebracht. Aber die Produktion war fast auf Null gedrosselt. Die Blasebälge waren mit der Ausstoßleitung in den Abschußring abgekoppelt worden. Statt der dünnen Membranfilme über die Tarnballons, produzierten sie nun eine dichte farblose Gischt. Die Luft stank nach dem scharfen Fiebergeruch erhitzten Plastikmaterials.

Der Roboter der Familie tat Dienst. Er hielt mitten in seinem Arbeitsprogramm inne, als Fazil mit der Kopfbüste an ihm vorbeidriftete. Als Lindsay vorbeischwebte, hockte sich der Roboter still nieder und umklammerte mit den Vordermanipulatoren fest ein Staubgebläse. Das eine mächtige Auge verschob sich und folgte mit zahnradhaftem Klicken seiner Bewegung.

Der Roboter bestand ganz aus Draht und Gelenken, seine sechs Skelettgliedmaßen waren aus leichtgewichtigem Schaummetall. Das Ding war größer als Lindsay. Hirn und Antrieb steckten abgesichert hinter dem faßdaubenähnlichen Rippentorso. Am Vorderende gab es Sensoren und zwei lange mit Gelenken ausgerüstete Kneif- und Greifarme. Vom Hinterende sproßten vier kreuzweise angeordnete Drehgliedmaßen, die für die Arbeit in der Schwerelosigkeit so angeordnet waren. Außerdem besaß das Ding noch einen rotierenden Spindelschwanz für Bohraufgaben.

Dem Roboter fehlte die Glätte einer Mech-Maschine, dafür aber wirkte er alarmierend lebendig. Wie ein in Bewegung gesetztes Skelett, wie ein viviseziertes Tier, das man bis auf ruckartige reflektorische Gelenkzuckungen ausgeschlachtet hat.

Als Lindsay außer Reichweite schwebte, kam der Roboter tickend wieder in Bewegung, stieß sich von einer Wand ab und steckte die Öffnung seines Gebläses in die feuchte Röhrenöffnung eines Fermentationssacks.

Fazil kroch über den Kopf und stemmte ihn gegen die Wand.

Der Abschußring besaß eine Luftschleuse aus durchsichtigem Plastik. Fazil pflückte einen fest zusammengefalteten grünen Raumanzug von der Wand und schüttelte ihn aus. Er verschloß sich mit dem Reißverschluß in dem Anzug, zog den Verschluß der Luftschleusenwand auf und trat hindurch.

Lindsay reichte ihm die Kiste.

Fazil zog den Schleusenverschluß zu und öffnete die Ladungskammer. Ein gekrümmtes rechtwinkeliges Wandstück hob sich auf gefederten Außenscharnieren nach oben. Luft zischte in das Vakuum des Abschußrings. Die hauchdünnen Wände der Luftschleuse wurden nach außen gesogen und hingen wie Seifenschaum an einer Stützverstrebung in ihrem Innern.

Aus dem Kasten brachen fünf gewaltige Kakerlaken und ein Schwarm kleinerer aus und krümmten die Beinchen im Vakuum. Hinter der durchsichtigen Helmscheibe stieß Fazil einen lautlosen Schrei aus. Er fuchtelte wild um seinen Kopf herum, während die Kakerlaken konvulsivisch zuckten und ihre papierdünnen Flügel verkrümmt schlugen. Die Dekompression ließ ihre Abdomina anschwellen. Aus den Verbindungsstellen an Rumpf und Gelenken drang Schaum hervor.

Dicht vor Lindsays Gesicht klebte eine würgende Schabe am Plastik. Sie mußte etwas in der Kiste gefressen haben. Etwas Dickflüssiges, Rotes.

Aus dem Kasten stiegen dünne Dampfsträhnen auf. Fazil bemerkte es nicht; er drückte die Kakerlaken in den Abschußring hinaus.

Fazil stieg durch das Schott in den Ring und zerrte den Kasten hinter sich drein. Dann hievte er ihn in den Abschußkorb.

Er kam zurück, kickte die letzten toten Insekten durch die Kammerschleuse und verriegelte sie. Ein grünes Betriebsbereitlicht leuchtete auf, als die Schleusentür den Kontakt schloß. Ein LED durchraste die Ziffern, als die Startenergie in die Magneten schoß.

Fazil zog den Eingangsverschluß auf, Luft rauschte hinein. Die Plastikschleuse flatterte wie ein Segel. Fazil kletterte heraus. Er zitterte. Sein Brüllen klang unter dem Anzug gedämpft. »Hast du das gesehn?« Er riß sich seinen Zip bis zur halben Brusthöhe auf. »Was war in dem Kasten? Was haben die gefressen?«

»Ich war beim Packen nicht dabei«, sagte Lindsay. »Die könnten alles mögliche reingesteckt haben.«

Fazil untersuchte den verschmierten Ärmel seines Anzugs. »Sieht wie Blut aus.«

Lindsay beugte sich näher heran. »Riecht aber nicht wie Blut.«

»Das ist ein Beweisstück«, sagte Fazil und klopfte auf den Anzug.

Lindsay dachte angestrengt nach. Die Piraten hatten ihn belogen. Sie hatten versucht clever zu sein, so raffiniert wie die Shapers. Sie hatten versucht, jemanden verschwinden zu lassen. »Es dürfte wohl am besten sein, Fazil, wenn wir diesen Anzug rausschössen.«

»Hast du Ian heute schon gesehen?« fragte Fazil.

»Ich hab nicht nach ihm gesucht.«

Sie blickten einander in die Augen. Lindsay sagte nichts. Fazil warf einen hastigen argwöhnischen Blick über die Schulter auf den LED. »Ist abgefeuert«, sagte er.

»Wenn du den Anzug rausschießt«, schlug Lindsay vor, »dann mache ich die Innenschleuse sauber.«

»Ich werde diesen Anzug da nicht zusammen mit dem Porträtkopf abschießen.«

»Du könntest ihn auch in eine der Kammern einspeisen.« Lindsay deutete dorthin. »Die Fermentationskessel.« Er dachte schnell nach. »Wenn du das tust, helfe ich dir, die Anlage auf volle Kapazität einzustellen. Dann kannst du wieder Tarn-Enten herstellen.« Lindsay zog einen anderen Anzug von der Wand und schüttelte ihn aus. »Wir wollen jetzt den Kopf rausschießen. Wir wollen den Anzug loswerden. Wir werden die zwei Sachen jetzt zuerst erledigen, und dann werden wir reden. Ist das okay?«

Der Moment, in dem der Angriff erfolgen konnte, war, als Lindsay halb hilflos mit den Beinen im Anzug steckte. Der Moment verstrich, und Lindsay begriff, daß er sich wieder etwas Zeit eingehandelt hatte.

Gemeinsam mit Fazil hievte er den Kopf in die Schleuse. Fazil zog den Verschluß hinter ihnen zu. Lindsay öffnete die rechteckige Luke.

Licht ergoß sich in das glasige Innere des Abschußrings und funkelte auf den kupfernen Leitschienen. Die Eisengitter des Starkorbs glänzten von einem dünnen Film von kondensiertem Dampf, der von dem Körper ausgegangen war, der sich in dem Kasten befunden hatte.

Lindsay trat in den Abschußring. Er schob die Kopfbüste in den Korb und legte die Krampen an.

Fazils Schatten zog vor dem Licht vorbei. Er wollte gerade die Luke schließen. Lindsay wirbelte um seine Achse und sprang los.

Es gelang ihm, den rechten Arm noch hindurchzuschieben. Der Schottdeckel prallte von Fleisch und Knochen ab, und Lindsays Anzug füllte sich sogleich mit Blut.

Lindsay knurrte, während er Kopf und Schultern am Lukendeckel vorbeizwängte. Er packte mit der Linken Fazil am Bein. Seine Fingerspitzen gruben sich tief in die Gelenkpfanne des Fußknöchels, und er schmetterte das Schienbein des Mannes gegen die scharfe Kante des Schotts. Knochen knirschten, Fazil, nach rückwärts kippend, löste den Griff.

Lindsay schlitterte in die Schleuse, er hatte Fazil noch immer im Griff, und jetzt stieß er mit aller Kraft seinen Fuß Fazil zwischen die Beine. Als Fazil sich zusammenkrümmte, packte Lindsay das Bein des Mannes, bog es zurück und rammte einen Arm hinter Fazils Knie. Er stemmte sich gegen den Leib des Shapers, zerrte ihn nach oben und riß so den Schenkelknochen aus der Hüftpfanne.

Blind vor Schmerz scharrte Fazil durch die Luft, um irgendwo Halt zu finden. Seine Hand schlug gegen den Lukendeckel, der krachend zufiel. Der Stromkreis des Abschußrings schloß sich, das grüne Startlicht flammte auf.

Lindsay hielt noch immer das Bein umklammert und verdrehte es.

In seinem Helm stiegen zwei Kugeln seines Blutes auf. Geblendet nieste er, und Fazil trat ihm mit dem Fuß gegen den Hals. Er mußte seinen Griff lösen, und der Shaper griff sofort an.

Mit der Kraft, die nur panischer Verzweiflung entspringen kann, warf er Lindsay die Arme um die Brust. Lindsay keuchte und während vier lauter Herzschläge wollte ihn schwarze Bewusstlosigkeit fast überwältigen. Dann trat er wild um sich, und sein Fuß stieß auf den Rand des Stützgerüsts der Luftschleuse.

Einander umklammernd wirbelten sie umher. Lindsay trieb den Ellbogen seitlich gegen den Kopf des Shapers. Der Griff lockerte sich. Lindsay schwang den beweglichen Arm über Fazils Kopf hinweg und drückte ihm den Hals mit einem Zwingengriff zu. Fazil seinerseits drückte ebenfalls zu, und Lindsays Rippen bogen sich unter dem Druck der shaper-gestählten Arme.

Dann fing Lindsay durch die blutbespritzte Sichtscheibe Fazils Blick ein. Lindsays Gesicht verzog sich zu einem scheußlichen Ausdruck. Fazils Augen wurden vor Entsetzen ganz weit und schielten, und er mühte sich, sich durch Krallen und Kratzen zu befreien. Lindsay brach ihm das Genick. Lindsay keuchte heftig. Die Anzüge waren ohne Lufttanks; sie waren nur für kurze Aufenthalte im luftleeren Raum gebaut. Er mußte hier raus und in die Luft.

Er wandte sich dem Ausgang der Schleuse zu. Dort erwartete ihn Kleo. Ihre Augen waren dunkel vor fasziniertem Entsetzen. Sie hielt die Außenlasche des Reißverschlusses fest.

Lindsay starrte sie an. Er mußte blinzeln, weil ein Bluttröpfchen sich an seinen Wimpern festgesetzt hatte. Und Kleo zückte ihre Lieblingswaffe: eine Nadel und Faden.

Lindsay kickte sich von Fazils Leichnam frei. Schwerfällig grapschte er nach der Verschlußlasche. Mit einigen wenigen geschickten Bewegungen vernähte Kleo den Reißverschluß.

Lindsay zerrte wie rasend daran. Aber der feine rosa Faden war stark wie Stahldraht. Er schüttelte den Kopf. »Nein!« Um ihn herum: das Vakuum. Er war abgeschnitten; Worte, die sonst stets die Rettung für ihn bedeutet hatten, vermochten diese Kluft nicht zu überspringen.

Sie blieb wartend da, um ihn sterben zu sehen. Droben raste das LED durch die Anzeigen. Die Lichter wurden blasser. Ein Abschuß aus der Ekliptik erforderte volle Energie.

Linkshändig zerrte Lindsay an der Schleuse. Durch die Finger kam eine kaum merkliche Vibration. Er trat dreimal wütend und heftig gegen die Schleuse, und etwas gab nach. Er zerrte mit aller Kraft. Das Schott öffnete sich - einen Finger breit.

Die Sicherungen brannten durch. Und alle Lichter erloschen.

Danach ließ sich die Schleuse leicht öffnen. Die Finsternis war total.

Er wußte nicht, wie lange es dauerte, bis der kreisende Startkorb innerhalb des Rings knirschend zum Stillstand kommen werde. Wenn der noch immer mit Klicks/sec. vorbeiwirbelte, würde er ihm einen Arm oder ein Bein so säuberlich wegscheren wie ein Laserstrahl.

Er hatte nicht die Zeit, lange zu warten. Die Luft in seinem Anzug war schwer und stickig von seinem Atem und dem Geruch seines Blutes. Er entschloß sich also und steckte kurzerhand den Kopf in den Ring.

Und er lebte.

Jetzt stand er vor einem weiteren Problem. Der Korb ruhte irgendwo innerhalb des Ringes und blockierte ihn. Wenn er auf seinem Weg nach draußen darauf stoßen sollte, würde er kehrtmachen müssen und Atemluft vergeudet haben. Also: Links oder rechts?

Links. Er atmete nur flach. Er schonte den Arm. Er hüpfte die Innenseite des Ringes entlang. Die Arme barg er an der Brust, bewegte sich nur mittels der Beine voran, stieß sich ab, schlug Saltos, schlitterte.

Dreihundert Meter - der halbe Ring. Mehr würde er nicht vordringen müssen. Was aber, wenn das Tarnplastik die Mündung des Ringes verschlossen hielt? Was, wenn er, ohne es zu merken in der Finsternis und Schwärze am Ausgang bereits vorbeigekommen war?

Sternenlicht! Lindsay sprang wie irre hoch, und es fiel ihm erst im letzten Moment ein, sich am Rand abzufangen. ESSAIRS hatte eine so geringe Schwerkraft, daß er sich mit seinem Sprung in einen Zirkumsolarorbit katapultiert haben würde. Wiederum war er also außerhalb des Asteroiden und inmitten verkohlter und grauweißer Aschensümpfe.

Er hoppelte durch einen Schildkrater und schaffte beinahe die andere Kante nicht. Während er über ein Bimssteinfeld stolperte, zerbröselte der Fels unter seinen Fingern und begann langsam dicht über dem Grund zu kreisen.

Er rang nach Luft, als er die zweite Luftschleuse fand: eine Plastikmembrane mit Tarnfärbung, eingelassen in die Oberfläche von ESSAIRS, wo die »Familie« ihren ersten Bohrer angesetzt hatte. Er schob die Tarnschicht beiseite und begann das Lukenrad zu drehen. Sein rechter Arm blutete beständig weiter. Und er hatte das Gefühl, als sei er erneut gebrochen.

Das Schott ging mit leisem Knall auf. Er glitt in die Luftschleuse und ließ das Außenschott krachend hinter sich zufallen. Und dann kam das nächste. Er keuchte unablässig; mit jeder Lungevoll bekam er weniger Luft, und im Mund hatte er den Geschmack von eingeatmetem Blut.

Dann öffnete sich das zweite Schott. Er zog sich hindurch, und auf einmal war die Finsternis von hektischen Bewegungen erfüllt. Er hörte, wie sein Anzug aufriß. Kalter Stahl drückte sich an seinen Hals, seine Beine wurden gepackt, und er brüllte laut auf, als in der Schwärze Hände nach seinem verletzten Arm griffen und ihn herumdrehten.

»Rede!«

»Mister President!« keuchte Lindsay sofort. »Mister President!«

Das Messer zog sich von seiner Kehle zurück. Er hörte ein ohrenbetäubendes Sägekreischen, und Funken sprühten. In dem abrupten geisterhaften Licht erblickte Lindsay den Präsidenten, die Parlamentsvorsitzende, den Obersten Richter und Senator-3.

Die Funken erloschen. Die Parlamentsvorsitzende hatte die Schneide ihrer kleinen Elektrosäge gegen ein Stück Leitungsrohr gedrückt.

Der Präsident riß den Kopfhelm von Lindsays Anzug. »Mein Arm! Mein Arm!« jaulte Lindsay. Der Oberrichter ließ den Arm los; Senator-3 gab seine Beine frei. Lindsay atmete tief durch und füllte sich die Lungen mit Luft.

»Beschissener Präventivschlag«, brummte der Präsident. »Verabscheue das Zeug.«

»Sie haben versucht mich zu ermorden«, sagte Lindsay. »Die Ausrüstung - habt ihr sie zerstört? Können wir jetzt weg von hier?«

»Irgendwas hat sie auf die Spur gebracht«, murrte der Präsident.

»Wir waren mit Paolo in der Startzentrale. Wollten rauskriegen, wie man die Abschußkontrollen zerstört. Und dann kommen auf einmal Agnes und Nora. Die angeblich Schlafperiode haben. Und auf einmal - alles zappenduster, wie bei 'nem Feuer ...«

»Stromausfall«, sagte die Parlamentsvorsitzende.

»Ich schreie Überfall«, sagte der Präsident. »Bloß, alles ist finster und schwarz. Und die haben die besseren Chancen: sind weniger, also ist die Gefahr nicht so hoch, die eignen Leute zu treffen. Also kümmere ich mich um die Maschinen. Ein Messer im Ärmel und das in den Stromkreis. Wir hören Senator-2 aufheulen, Fleisch platzt auf.«

»Irgendwas Nasses kam mir ins Gesicht«, sagte der Oberrichter. Die uralte Greisenstimme kam schleppend, war aber voll furchtloser Zufriedenheit. »Die Luft war voller Blut.«

»Sie waren bewaffnet«, sagte der Präsident. »Das da hab ich bei dem Gerangel erwischt. Fühl mal, Außenminister.«

In der Dunkelheit drückte der Präsident Lindsay etwas in die linke Hand. Etwa handtellergroß - eine abgeflachte, kompakte Steinscheibe, mit geflochtenem Draht umwickelt. An einigen Stellen klebrig.

»Das hatten die sich auf die Rippen geklebt, glaube ich. Schleuderwaffen. Totschläger. Würgeschlingen. Die Drähte sind so dünn, daß sie schneiden können. Wo es mich erwischt hat, geht der Schnitt bis auf den Daumenknochen.«

»Wo sind die übrigen von uns?« fragte Lindsay.

»Wir hatten einen Kontingenzplan, um für Eventualitäten gewappnet zu sein. Die zwei Reps mußten sich nach Ian saubermachen - sie sind jetzt an Bord der Consensus und machen sie startklar.«

»Warum habt ihr Ian getötet?«

»Ihn getötet?« fragte die Parlamentspräsidentin. »Dafür gibt es überhaupt keinerlei Beweis. Er evaporierte.«

»Wir in der FMD nehmen keine Verletzungen hin, ohne sie zurückzuzahlen«, sagte der Präsident. »Wir hatten angenommen, wir würden beim Morgengrauen abgezogen sein, und wir dachten uns: Ha, sollen die doch glauben, er ist zu uns übergelaufen und mitgegangen! Schlau, was?« Er schniefte. »Der Senat war bei uns, aber zwei sind versprengt worden. Sie werden sich hier einfinden, weil hier der Treffpunkt ist. Die Richter Zwei und Drei sind mit Beuterequisition beschäftigt und klauen ein bißchen was von dem heißen Wetware-Zeug der Shapers. 'ne gute Prise für uns. Wir haben uns das so vorgestellt - wir besetzen den Ausgang. Wenn nötig, hüpfen wir eben nackt zur Consensus rüber. Das könnten wir schaffen, ohne viel mehr als Nasenbluten zu kriegen und Bauchschmerzen, dreißig Sekunden brutales Vakuum.«

Durch den Korridor hallte ein Pochen. Es war während des Stimmgewirrs unmerklich nähergekommen. Es pflanzte sich mit schwacher rhythmischer Präzision fort, das stumpfe Klicken von Plastik auf Stein.

»Ach, Scheiße«, sagte der Präsident.

»Ich geh hin«, sagte der Oberrichter.

»Das ist weiter nichts«, sagte Senator-3. »Ein Gebläse, das sich abschaltet.« Lindsay hörte den Werkzeuggurt der Senatorin klirren.

»Ich bin weg«, sagte der Oberrichter. Lindsay verspürte einen schwachen Lufthauch, als der Alt-Mechano an ihm vorbeischwebte.

Fünfzehn Sekunden verstrichen in Finsternis. »Wir brauchen Licht«, zischte die Parlamentsvorsitzende. »Ich nehm noch mal die Säge und ... «

Das Pochen brach ab. Der Oberrichter rief laut: »Ich hab es! Es ist ein Stück ...«

Ein plötzliches ekelhaftes Knirschen schnitt ihm die Stimme ab.

»Richter!« schrie der Präsident. Alles stürzte den Gang entlang, blindlings gegen die Wand und gegen einander prallend.

Als sie die Stelle erreicht hatten, zog die Parlamentsvorsitzende ihre Säge hervor, und Funken sprühten. Das Geräusch stammte von einer einfachen steifen Plastikklappe, die über den Eingang eines abzweigenden Tunnels geklebt war und an der man mittels einem langen Faden zog. Der Mörder - Paolo - hatte tief im Innern des Gangs gelauert. Als er die Stimme des alten Mechanisten hörte, hatte Paolo sein Geschoß abgefeuert, mittels einer Schleuder. Ein schwerer Steinkubus - Paolos sechsflächiger Würfel - steckte halb in dem aufgesplitterten Schädel des toten Piraten.

In dem knappen grellen Funkenlicht erkannte Lindsay, daß den Kopf des Toten eine flache Blutmasse bedeckte, die durch Oberflächenspannung an der Haut um die Wunde haftete.

»Wir könnten weggehen«, sagte Lindsay.

»Nicht ohne das, was uns gehört«, sagte der Präsident. »Und nicht ohne den zu bestrafen, der dies getan hat. Die haben jetzt nur noch fünf Mann übrig.«

»Vier«, korrigierte Lindsay. »Ich habe Fazil erledigt. Und nur noch drei, wenn ich mit Nora reden kann.«

»Keine Zeit mehr für Gerede«, sagte der Präsident. »Du bist verwundet, Außenminister. Also bleib hier und bewache die Luftschleuse. Wenn die andern zu dir stoßen, sag ihnen, wir sind losgezogen, um die restlichen vier zu erledigen.«

Lindsay mußte sich zwingen, weiterzusprechen. »Wenn aber Nora sich ergibt, Mister President, dann hoffe ich, daß du ...«

»Gnade, das war sein Ressort«, sagte der Präsident. Lindsay hörte, wie er an dem Körper des toten Richters zu zerren begann. »Hast du eine Waffe, Außenminister?«

»Nein.«

»Dann nimm das da!« Er reichte Lindsay den mechanischen Arm des Toten. »Wenn einer von denen sich hierher verirrt, dann töte ihn mit der Faust des alten Mannes.«

Lindsay umklammerte die Kabelstränge an dem steifen Handgelenk der Prothese. Die anderen verschwanden hastig, mit einem Klicken, einem Rascheln, dem leisen Schaben von schwieliger Haut gegen Stein. Lindsay schwebte durch den Tunnel zurück zur Luftschleuse hinauf, stieß sich mit Knien und Schultern die glatte Steinwandung entlang und dachte an Nora.

Die alte Frau wollte nicht sterben, und das war das Grauenvolle an der Sache. Wenn es so sauber und rasch gegangen wäre, wie Kleo es versprochen hatte, Nora hätte es ertragen, hätte es ausgehalten, wie sie immer alles zu ertragen pflegte. Doch als sie die gewichtbeschwerte Schärpe in der Finsternis der alten Piratin um den Hals geschleudert und zugezogen hatte, war das gar nicht schnell gegangen, und es war keineswegs glatt und sauber verlaufen.

Das alte Weib - die Piraten nannten sie Richter-2 - ... der Hals war eine Masse aus Sehnen und Knorpeln, zäh wie Leitungskabel unter der täuschenden Weichheit der Haut. Zweimal, nachdem Nora geglaubt hatte, die Alte sei tot, war sie mit einem qualvollen Röcheln in der Dunkelheit zuckend wieder zum Leben erwacht. Von den abgebrochenen Nägeln der Alten blutete Nora heftig an den Handgelenken. Der alte Leib stank.

Nora roch auch ihren eigenen Schweiß. Ihre Achselhöhlen waren übersät von schmerzhaften Ausschlagpusteln. Sie trieb still im pechschwarzen Abschußkontrollraum, die nackten Füße auf den Schultern der Toten, und hielt in den Händen je ein Ende der Schärpe.

Sie hatte keinen guten Kampf gekämpft, als die Piraten in der plötzlichen Finsternis ihren Überraschungsangriff gestartet hatten. Sie hatte jemanden getroffen, als sie ihre Steinbola kreisen ließ, aber dann war sie ihr in dem Gerangel abhanden gekommen. Agnes hatte tapfer gekämpft und war von der Handsäge der Parlamentsvorsitzenden verwundet worden. Und Paolo hatte wie ein Superheld gekämpft.

Kleo murmelte vom Eingang her die Parole, und kurz darauf wurde es hell im Raum. »Ich sagte dir doch, daß sie funktionieren werden«, sagte Paolo.

Kleo hielt die Plastikkerze von sich fort; das Natrium an der Dochtspitze spuckte noch, wo die Flamme gezündet hatte. Das wachsartige Plastik stank, je weiter der Docht abbrannte. »Ich habe alle mitgebracht, die du angefertigt hast«, erläuterte Kleo. »Du bist ein gescheiter Junge, mein Lieber.«

Paolo nickte voll Stolz. »Mein Glück war stärker als diese Kontingenz. Und ich hab zwei erledigt.«

»Du hast die Kerzen gemacht«, sagte Agnes. »Und ich hab gesagt, es wird nicht funktionieren.« Sie schaute ihn voll Bewunderung an. »Du bist der Richtige, Paolo. Gib mir deine Befehle!«

Im Kerzenlicht erblickte Nora das Gesicht der toten Piratin. Sie löste den Würgegürtel und band ihn sich um die Hüften.

Erneut fühlte sie sich von Schwäche überwältigt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie empfand plötzlich ein Gefühl von Entsetzen und Bedauern gegenüber der Frau, die sie umgebracht hatte.

Das kam von den Drogen, die Abélard ihr gegeben hatte. Sie war dumm gewesen, sich diese erste Injektion applizieren zu lassen. Sich mit Aphrodisiaka aufzuheizen, das war der Preisgabe gleichgekommen, der Auslieferung nicht bloß an den Feind, sondern an bruchstückhafte Reste von Versuchung und Zweifel, die noch in ihr lauerten. Ihr ganzes Leben lang waren diese zu immer blasseren Schatten verblichen, je heißer und heller ihre Überzeugung in ihr gebrannt hatten, waren zu zuckenden, kriechenden Schemen geworden.

Auf sich selber gestellt - vielleicht hätte sie standhalten können. Aber es gab das fatale Musterbeispiel der anderen Diplomaten. Der Verräter. In der Akademie hatte man sie niemals offiziell erwähnt, vielmehr dies den versteckten Bereichen von Tratsch und Gerüchten überlassen, wie sie unablässig in jeder Shaper-Kolonie vor sich hinköchelten. Die Gerüchte verbreiteten sich wie eiternde Geschwüre in der Obskurität und nahmen dabei alle nur erdenklichen Erscheinungsformen des Verbotenen an.

Für ihre persönliche Wertskala war Nora eine Kriminelle geworden: in sexueller, ideologischer und beruflicher Hinsicht. Es waren ihr Dinge geschehen, über die sie nicht einmal Kleo gegenüber zu sprechen wagen durfte. Ihre Familie wußte nichts von dem Diplomatentraining, dem brennenden Glosen in jedem Muskel, nichts von den Angriffen auf Gesicht und Gehirn, die aus ihrem eigenen Körper ein ihr fremdes Objekt gemacht hatten, ehe sie noch sechzehn Jahre alt war.

Wäre es irgend jemand gewesen, nur nicht gleichfalls ein Diplomat, sie hätte kämpfen können und wäre mit der Überzeugung und heiteren Unbekümmertheit, die Kleos Charakteristika waren, wohl auch anstandslos gestorben. Doch nun war sie ihm begegnet, und sie hatte begriffen. Abélard war nicht so klug wie sie selbst, doch er hatte Einfälle, Erfindungsgabe und war schnell. Sie würde zu etwas ihm Vergleichbaren werden können. Dies war die erste echte Alternative, die sich ihr in ihrem ganzen Leben je gestellt hatte.

»Ich habe uns das Licht gebracht«, prahlte Paolo und ließ seine Bola in einer verkrümmten Acht kreisen, ehe er die Leine auf seinen gepolsterten Unterarmen abfing. »Ich hab auf Sieg gewettet, trotz äußerst mieser Chancen. Und ich hab Ian geschlagen, und ich hab Fazil geschlagen, und ich hab zwei von denen umgebracht.« Die Ärmelbänder peitschten an seinen Ellbogen, als er sich auf die Brust trommelte. »Ich sag nur: Aus dem Hinterhalt, heimlich, Überraschungsangriff!« Die Bola hatte sich auf seinen Arm aufgewickelt und ruhte dort, und er zog die Schleuder aus dem Gurt.

»Sie dürfen nicht entkommen«, sagte Kleo. Ihr Gesicht war im Rahmen der goldenen Krone ihres Haarnetzes im Schein der Kerzen freundlich und ruhig. »Wenn es Überlebenden gelingt zu entrinnen, kommen andere zurück mit ihnen. Wir können überleben, ihr Lieben. Sie sind nämlich dumm. Und sie sind sich uneins. Wir haben zwei verloren, sie sieben.« Kurz zuckte ein Hauch von Schmerz über ihr Gesicht. »Der Diplomat war schnell, aber die Chancen stehen gut, daß er im Abschußring gestorben ist. Die übrigen können wir überspielen, genau wie ihre Richter.«

»Wo sind die beiden Volksvertreter?« fragte Agnes. Die Handsäge der Parlamentsvorsitzenden hatte ihr einen tiefen Schnitt über dem linken Knie zugefügt; sie war bleich, doch immer noch voller Kampfeseifer. »Wir müssen diese Gendefiziente erwischen. Die bedeutet nämlich Ärger.«

»Was wird mit der Wetware?« fragte Nora. »Die verdirbt uns doch, wenn wir die Energiezufuhr weiter abgeschaltet halten. Wir müssen den Strom wieder einschalten.«

»Und dann wüßten sie, daß wir im Kraftwerk sind!« sagte Paolo. »Einer könnte die Maschinen einschalten, die andern bleiben versteckt im Hinterhalt! Angriff und Rückzug, Angriff und Rückzug!«

»Zuerst schaffen wir mal die Leichen in ein Versteck«, sagte Kleo. Sie machte kehrt, stemmte die Beine gegen den Schleusenrahmen und begann Hand über Hand ein Seil einzuholen. Es tauchte der Dritte Richter auf; sein runzeliger Hals war von Kleos drahtfeiner Garotte nahezu abgesägt worden. Die Aufzugsröhrchen an seinem Leib waren voll gestohlener Wetware. Wie den Richter-2 hatte es ihn bei seinem Raubversuch erwischt.

Paolo schälte aus der Geheimkammer der Startzentrale Camoplastik. Die Leichen der Senatoren 1 und 2, die Agnes und Paolo erledigt hatten, schwebten bereits dort drin. Sie schoben die anderen Toten ebenfalls dort hinein, obwohl sie sie nur ungern berührten. »Sie werden es merken, daß die hier sind«, sagte Agnes. »Sie werden sie riechen.« Und sie nieste heftig.

»Nein, sie werden glauben, der Gestank kommt von ihnen selbst«, sagte Paolo, während er die dünne Scheinwand wieder richtig zu glätten begann.

»Auf zum Tokamak«, sagte Kleo. »Ich nehme die Kerzen; Agnes - du bist Avantgarde.«

»Schön.« Agnes zog sich die Hemdbluse und den schwarzen Netzhaarputz vom Körper. Mit ein paar losen Stichen befestigte sie beides aneinander. In der Schwerelosigkeit quoll das auf und wirkte in dem Dämmerschein fast wie eine menschliche Gestalt. Sie glitt in den engen Korridor und schubste den Köder mit dem ausgestreckten Arm vor sich her.

Die anderen folgten ihr. Nora bildete die Nachhut.

An jener Kreuzung hielten sie inne, lauschten und schnüffelten. Agnes schob die Kleiderpuppe vor sich her, dann spähte sie rasch über den Rand der Öffnung. Kleo reichte ihr sodann die Kerze, und Agnes leuchtete umher, ob sich da jemand versteckt hatte.

Als sie näher an die Tokamak-Energiefabrik heranrückten, mußte Agnes erneut laut niesen und kurz darauf roch auch Nora es: einen atemberaubenden fremden Gestank. »Was ist denn das?« flüsterte sie Kleo zu, die vor ihr war.

»Feuer, glaube ich. Rauch.« Kleos Stimme klang, als knirsche sie mit den Zähnen. »Die Umgemodelte ist gescheit. Ich glaube, sie ist zum Tokamak gegangen.«

»Schaut!« flüsterte Agnes laut. Aus dem zu ihrer Linken abzweigenden Korridor wogte im Schein der Kerze ein dünner grauer Strom heran. Agnes fuhr mit den Fingern hindurch, und der Rauch zerteilte sich zu flüchtigen Kräuseln. Agnes hustete heftig und stützte sich an der Wand ab; ihre entblößten Rippen wogten lautlos.

Kleo blies die Kerze aus. In der Dunkelheit erkannten sie ein schwaches Schimmern von Licht, das von den Biegungen und Krümmungen des glatten Tunnelgesteins reflektiert wurde.

»Feuer«, sagte Kleo. Zum erstenmal hörte Nora nun Furcht in der Stimme ihrer Anführerin. »Ich geh voran.«

»Nein!« Agnes drückte die Lippen an Kleos Ohr und begann hastig auf sie einzuflüstern. Die beiden Frauen umarmten einander, dann ließ Agnes ihre Kleider zurück, preßte sich eng an die Wand und schlich sich weiter nach vorn. Als Nora den anderen folgte, konnte sie den verschmierten kalten Schweiß von Agnes auf dem Stein fühlen.

Nora spähte nach hinten, um den Rücken zu sichern. Aber wo war Abélard? Nein, tot ist er nicht, dachte sie. Wenn er doch nur jetzt hier wäre, mit seiner endlosen Glattzüngigkeit, mit diesem tierhaften Leuchten des Überlebenswillens in seinen grauen Augen ...

Ein plötzliches scharfes Klack hallte den Tunnel herauf. Es verging eine Sekunde, dann schrie Agnes laut, und die Luft tränkte sich mit dem scharfen metallischen Gestank von Säure. Es gab schmerzliche und haßerfüllte heulende Laute, man hörte das Schnappen der Zwingenschleuder Paolos. Noras Rücken und Schultern verspannten sich so urplötzlich, daß sie in eine Krampfstarre gerieten, und sie taumelte kopfunter den Tunnel hinab, während ihr die eigenen Schreie ohrenbetäubend im Kopf gellten.

Die Gendefiziente wirbelte taumelnd im roten Feuerschein herum und fuhr Agnes mit der Mündung ihrer Waffe, eines Blasebalgs, scharf kreuz und quer über das Gesicht. Die Luft war erfüllt von schwirrenden Korrosionssäurekügelchen, die aus einem Wetware-Tank angesaugt wurden. Vor der nackten Brust von Agnes kräuselte Dampf. Daneben rang Kleo schlagend und stoßend mit der Rep-2. Der Arm der dickleibigen Frau war durch Paolos Schleudergeschoß zertrümmert. Und gerade zog Paolo wieder einen schweren Stein aus seinem Hüftbeutel.

Nora riß sich die Schärpe von den Hüften, es zischte seidig, und sie stürzte sich auf die feindliche Shaper. Die Frau sah ihre Annäherung. Sie schlang ein Bein um Agnes' Kehle und zerquetschte sie, dann fuhr sie los, die Arme zum Ringkampf gespreizt.

Nora schmetterte die beschwerte Stola der Frau ins Gesicht. Diese fing sie ab, grinste mit ihren schiefen Zähnen und fuhr mit zwei gespreizten Fingern auf Noras Gesicht zu, um ihr die Augen auszustechen. Nora entging dem durch eine Drehbewegung, aber die Nägel fetzten ihr über die Wangen; Blut spritzte. Sie trat zu, verfehlte das Ziel, trat mit dem anderen Bein und verspürte einen plötzlichen beißenden Schmerz, als die im Nahkampf ausgebildete Piratin ihr die Finger in das Kniegelenk bohrte. Sie war stark, verfügte über die geschmeidige trügerisch versteckte Kraft der Genetischen. Nora fummelte am anderen Ende ihrer Schärpe herum und schmetterte das Gewicht der Piratin gegen die Wange. Rep-1 grinste, und Nora spürte einen Riß, und ihre Kniescheibe gab mit einem schmatzenden Laut nach. Und plötzlich war sie blutbespritzt, als der Schleuderstein Paolos der fremden Frau den Kiefer zerschmetterte.

Der Mund hing im Feuerschein blutig offen, und die Piratin kämpfte jetzt mit der plötzlichen wilden Kraft verzweifelter Entschlossenheit. Beim Sprung auf Paolo zu rammte sie Nora schmerzhaft die Ferse in den Solarplexus. Paolo war für sie bereit; seine Bolakugel peitschte aus dem Nichts von oben mit der Wucht eines Hackbeils herab, riß der Frau das Ohr ab und schlug schwer auf das Schlüsselbein. Sie taumelte, und Paolo stampfte ihren Leib gegen die Wand.

Der Kopf der Piratin krachte gegen den Fels, und Paolo war sofort über ihr und schlitzte ihr mit der Bolaschnur die Kehle auf. Hinter ihm rangen Kleo und die andere Frau in halber Höhe, die Piratin zappelte mit den Beinen und einem gebrochenen Arm, während sich Kleos Daumen wie Schraubenzwingen erbarmungslos in ihren Hals gruben.

Nora rang nach dem Tritt nach Luft. Ihr ganzer Brustkorb erstarrte in einem sich plötzlich ausbreitenden Krampf. Irgendwie saugte sie ein wenig rauchige Luft in die Lungen, keuchte, atmete erneut, bekam das Gefühl, als stecke ihre Brust voll geschmolzenen Bleis. Agnes starb vor ihren Augen. Ihre Haut dampfte von dem Säurespray.

Paolo erledigte die Shaper-Frau. Kleo würgte noch immer die zweite Frau, die bereits tot war; Paolo schmetterte seine Bola in den Schädel der Toten, und Kleo ließ sie los und riß die starr gewordenen Hände weg. Sie rieb sie gegeneinander, als verreibe sie eine Lotion. Sie atmete heftig. »Macht das Feuer aus«, sagte sie.

Paolo näherte sich dem flammenden klebrigen Haufen von Heu und Plastikstoffen vorsichtig. Er wand sich aus seiner schweren Kittelbluse, die von nadelfeinen Säurelöchern übersät war, und warf sie über das Feuer, als wollte er ein Tier fangen. Er trampelte rachsüchtig darauf herum, und es wurde finster. Kleo spuckte auf die Natriumspitze einer neuen Kerze, die knisternd zu brennen begann.

»Nicht gut«, sagte Kleo. »Bin verletzt. Nora?«

Nora blickte auf ihr Bein, betastete es. Die Kniescheibe war losgerissen, steckte verschoben unter der Haut. Schmerz verspürte sie noch nicht, nur eine traumatische Dumpfheit. »Mein Knie«, hustete sie. »Sie hat Agnes getötet.«

»Nur noch drei übrig«, sagte Kleo. »Die Parlamentsvorsitzende, ihr Mann und Senator-3. Wir haben sie. Ach, meine armen geliebten kostbaren Lieblinge!« Sie schlang die Arme um Paolo, der sich unter der plötzlichen Geste der Zuneigung versteifte, dann aber wieder entspannte und den Kopf in der Halsgrube Kleos barg.

»Ich werde das Kraftwerk in Gang setzen«, sagte Nora. Sie schwebte zum Wandpaneel und tippte auf Schalter, die die Anfangssequenz steuerten.

»Paolo und ich bewachen die Zugänge und lauern ihnen dort auf«, sagte Kleo. »Nora, du gehst in den Funkraum. Alarmiere den Council! Erstatte Bericht! Wir treffen uns dann dort wieder.« Sie reichte Nora die Kerze und verschwand.

Nora steckte die Kerze oben auf das Kontrollband des Tokamak und schaltete ihn auf Stufe Eins hoch. Durch die polarisierte Schutzscheibe sickerte ein bläulicher Schimmer, während die Magnetfelder in der Kammer sich kräuselnd dehnten. Der Tokamak flackerte unruhig, während er sich langsam zur Fusionsgeschwindigkeit hocharbeitete. Künstliches Sonnenlicht erstrahlte gelb, als die Ionenströme zusammenprallten und brannten. Das Feld stabilisierte sich, und plötzlich brannten sämtliche Leuchtkörper wieder.

Vorsichtig drückte Nora die Kerzenflamme an der Wand aus.

Paolo rieb sich gereizt die Säureblasen an den ungeschützten Händen. »Ich bin es, Nora«, sagte er. »Ich bin das eine Prozent, das für das Überleben bestimmt ist.«

»Ich weiß, Paolo.«

»Aber ich werde an dich zurückdenken. An euch alle. Ich hab euch geliebt, Nora. Das wollte ich dir nur noch einmal sagen.«

»Es ist eine Auszeichnung, in deiner Erinnerung fortzuleben, Paolo.«

»Adieu, Nora.«

»Wenn ich je Glück hatte«, sagte Nora. »Ich schenke es dir.«

Er lächelte und schwang prüfend seine Schleuder.

Nora ging fort. Sie hielt das eine Bein steif und glitt rasch durch die Tunnels. Wellen von Schmerz gruben sich in sie, ballten sich zu Knoten in ihrem Körper. Ohne den Spinalkrebs vermochte sie die Krämpfe nicht länger aufzuhalten.

Die Piraten hatten in der Funkzentrale wüst gehaust. Sie hatten in der Finsternis wild um sich geschlagen. Die Transmittoren waren zersägte Trümmerstücke; die Tischkonsole war fortgerissen und beiseite geschleudert worden.

Aus dem Flüssigkristall-Display sickerte es. Nora zog Nadel und Faden aus ihrem Haarnetz und nähte den Riß im Schirm zu. Das CPU funktionierte noch; von den Parabolantennen wurden ankommende Signale eingespeist. Aber die Dechiffrierprogramme waren zusammengebrochen. Die Übertragungen aus dem Ring Council waren ein wüstes Durcheinander.

Sie fing auf einer allgemeinen Propagandafrequenz Signale ein. Das aufgeschlitzte TV funktionierte noch, wenn auch entlang den Stichen ein wenig verschwommen.

Und da war sie: die Draußenwelt. Sie war nicht besonders grandios: Worte und Bilder, Zeilen auf einem Bildschirm. Sacht fuhr sich Nora mit den Fingerspitzen über die sengend-schmerzende Stelle in ihrem Knie.

Sie konnte nicht glauben, was die Gesichter auf der Scheibe ihr sagten, was die Bilder zeigten. Es war, als wäre der kleine Sichtschirm in den Tagen der Finsternis irgendwie in Fermentation geraten, als brodelte und schäumte die Welt hinter ihm über und als hätten sich sämtliche ihrer Gifte zu Wein-Wetware vergoren und geläutert. Die Gesichter der Shaper-Politiker strahlten in ungläubigem Triumph.

Wie festgenagelt schaute sie auf den Schirm. Die schockierten öffentlichen Statements der Mechanisten-Führer: gebrochene Männer, schreckerfüllte Frauen, aller gewohnten Routine und Systeme beraubt. Die Rüstungs- und Katastrophenpläne der Mechs waren weggekratzt wie ein Schorf und zeigten sie als rohe menschliche Fleischbrocken. Sie plapperten und stammelten, grapschten nach der Kontrolle der Dinge, jeder sagte das Gegenteil von seinem Vorredner. Einige trugen ein verkniffenes Lächeln zur Schau, das wie chirurgoprothetisch verdrahtet wirkte, andere hatten den glasigen Glanz religiöser Erschütterung aus zweiter Hand, wie von einem Glaubenströdler, in den Augen, gestikulierten verschwommen, und ihre Gesichter waren so arglos und klar wie die von Kindern.

Und die Doyens des shaperischen Akademisch-Militärischen Komplexes: diese glattgesichtigen Sicherheitstypen, umgänglich und gewandt, triumphierend, noch immer viel zu glücklich über den erstaunlicherweise geglückten Coup, als daß ihr eingefleischter Argwohn schon wieder sichtbar werden könnte. Und die Intellektuellen, ganz benommen von den sich bietenden Möglichkeiten, voll wilder Spekulationen, ihre Objektivität in Stücke zerfetzt.

Dann sah Nora den Einen. Es waren mehr, ein ganzes Dutzend von ihnen. Sie waren riesig. Allein schon die Beine waren so lang wie Menschen, gewaltige gerippte Massen von Muskeln, Knochen und Flechsen unter glattpolierter welliger Haut. Schuppen. Braunschuppige Panzerhaut zeigte sich unter der Kleidung: sie trugen Röcke, glitzernde Perlkugeln auf Drahtschnüren.

Die mächtige Brust war nackt, mit prächtigem Brustbein und Rippen wie die Spanten eines Schiffskiels. Neben den baumstammwuchtigen Beinen und den massiv ragenden Schwänzen wirkten die Arme lang und schlank und besaßen flinke Finger mit ausgeweiteten Spitzen und seltsam angesetzte Daumen. Die Schädel waren enorm, so groß wie der Oberleib eines Mannes, und von einem mächtigen höhlenbreiten Grinsen gespalten; daumengroße abgeflachte Stiftzähne ragten aus den Kiefern. Anscheinend besaßen sie keine Ohren, und ihre schwarzen Augäpfel, die faustgroß waren, lagen unter linsenartigen Lidern und grauweißen Nickhäuten geschützt. Regenbogenbunte Fransenbänder schmückten den Hinterkopf.

Da waren Menschen, die mit ihnen redeten, die Kameras auf sie richteten. Shaper-Leute. Sie schienen sich furchtsam vor den Fremden zusammenzudrängen; die Rücken waren gekrümmt, sie rutschten kriecherisch von einem Alien zum anderen. Nora erkannte: das lag an der Schwerkraft. Die Fremden verwendeten eine hohe Schwerkraft.

Und sie waren echt! Sie bewegten sich mit entspannter gewichtiger Grazie. Einige hielten Cliptafeln in der Hand. Andere redeten mit kannellierten Vogelzungen, die so lang wie ein menschlicher Unterarm waren.

Schon durch ihre Größe beherrschten sie das Geschehen. Das Ganze wirkte überhaupt nicht formell oder theatralisch; nicht einmal die Feierlichkeit des Berichts vermochte den Wesenskern dieser Begegnung zu überdecken. Die Aliens empfangen weder Furcht, noch waren sie besonders beeindruckt. Da war kein bedrohliches Sturmesbrausen und keine mystische Feuersäule. Sie gaben sich völlig geschäftsmäßig. Wie Steuereintreiber.

Paolo kam plötzlich mit irren Augen hereingeplatzt, seine langen Haare waren blutverdunkelt. »Schnell! Sie kommen ganz dicht hinter mir her!« Er spähte im Raum umher. »Gib mir die Paneelhülle da!«

»Es ist zu Ende, Paolo!«

»Noch nicht!« Paolo packte den breiten Konsolendeckel mitten aus der Luft. Ein Schwanz von Drähten hing davon herab. Er katapultierte sich durch den Raum und rammte die Konsolenverschalung quer vor den Tunneleingang. Flach dagegen gedrückt, bildete sie so eine primitive Barrikade. Paolo riß eine Tube Epoxydkleber aus dem Gurt und verklebte den Konsolendeckel mit dem Stein.

An einer Seite blieb ein Spalt offen; Paolo spannte seine Zwinge und feuerte in den Korridor hinein. Man hörte ein entferntes Aufheulen. Paolo preßte das Gesicht an den Spalt und begann kreischend zu lachen.

»Das TV, Paolo! Neuigkeiten aus dem Council! Die Belagerung ist vorbei!«

»Die Belagerung?« fragte Paolo und blickte zu ihr zurück. »Scheiße, was hat denn das mit uns zu tun?«

»Die Belagerung, der Krieg«, sagte sie. »Und es hat nie einen Krieg gegeben, so lautet jedenfalls die neue offizielle Parteilinie. Nur ... Mißverständnisse ... Engpässe ...« Paolo achtete nicht auf sie, sondern starrte weiter in den Gang und bereitete einen nächsten Schuß vor. »Wir waren nie Soldaten. Niemand hat jemals jemand anderen umzubringen versucht. Die menschliche Rasse ist friedfertig, Paolo, sie besteht aus lauter - guten und verläßlichen Handelspartnern ... Die Aliens sind da, Paolo. Die Ganz-Fremden.«

»Ach-Gott«, stöhnte Paolo. »Ich brauch nur noch zwei umzulegen, mehr nicht, und die Frau hab ich schon getroffen. Hilf mir doch erst, die da fertigzumachen, dann kannst du mir alles erzählen, wozu du Lust hast.« Er drückte die Schulter gegen die Barrikade, solange der Kleber sich noch nicht gehärtet hatte.

Nora schwebte über ihn und schrie durch eins der ausgestanzten Instrumentenlöcher in die Finsternis hinaus: »Mister President! Hier ist der diplomatische Unterhändler! Ich erbitte eine Verhandlungspause!«

Es blieb einen Moment lang still. Dann: »Du wahnsinniges Hurenstück! Komm raus und stirb!«

»Alles ist vorbei, Mister President! Der Belagerungszustand ist aufgehoben! Das System lebt wieder im Frieden, verstehst du nicht? Aliens, Mister President! Die Außerirdischen sind gekommen, sie sind bereits seit Tagen da!«

Der Präsident lachte. »Aber klar doch, komm nur einfach raus hier, Süße. Aber vorher schickst du mir erstmal den kleinen Wichser mit der Schleuder raus.« Plötzlich hörte Nora das Wimmern der Stromsäge.

Schnaubend stieß Paolo sie zur Seite und schoß seine Zwinge in den Tunnel ab. Sie hörten fünf, sechs scharfe schmatzende Laute, als das Geschoß den Gang hinunter rikoschettierte. Der Präsident krächzte triumphierend. »Wir werden euch fressen«, sagte er, und es klang völlig ernst. »Wir werden euch die verdammten Lebern rausreißen und sie auffressen.« Dann mit gedämpfterer Stimme: »Hol sie raus, Außenminister!«

Nora krallte sich an Paolo vorbei an die Barrikade und brüllte laut: »Abélard! Abélard! Es ist wahr! Ich schwöre es bei allem, was zwischen uns ist! Abélard, du bist doch nicht hirnlos, laß uns doch leben! Ich will leben ... «

Paolo preßte ihr die Hand über den Mund und riß sie zurück. Sie klammerte sich an die Barrikade, die inzwischen fest verklebt war, und starrte den Gang hinunter. Dort schwebte eine weiße Gestalt. Ein Raumanzug. Keiner von den mavridischen, sondern einer der aufgeblähten Schutzanzüge von der Red Consensus.

Gegen diesen Panzeranzug nutzte Paolos Schleuder nichts. »Da ist es«, murmelte er. »Jetzt kommt die Spitze.« Er gab Nora frei und zog aus seiner Bluse eine Kerze und eine flache mit Flüssigkeit gefüllte Blase. Er rollte die Blase um die Kerze und verschnürte das Ganze mit einer seiner Ärmelfransen. Er schwang die Bombe. »Jetzt werden sie brennen.«

Nora schlang ihm ihre Schärpe um den Hals. Sie stemmte das gesunde Knie in sein Kreuz und zerrte heftig. Paolo gab einen Laut von sich, der wie das Platzen eines Rohres klang, und stieß sich vom Eingang weg. Seine Finger krallten sich in die Schärpe. Er war stark. Er war der, der Glück hat.

Nora zog fester zu. Abélard lebte. Der Gedanke verlieh ihr Kraft. Sie zog noch fester. Paolo zerrte genauso heftig dagegen. Seine Fäuste umklammerten den grauen Stoff des Gurtes so gewaltsam, daß aus seinen von Nägeln zerfetzten Handflächen kleine halbmondförmige Blutblasen austraten.

Schreie draußen im Gang, weiter unten. Schreie und das Zischen der Handsäge.

Und nun hatten sich der Knoten, der Krampf in Noras Schultern, der nie verschwunden war, bis in ihre Arme ausgebreitet, und Paolo mußte gegen Muskeln ankämpfen, die starr wie Eisen waren. In der plötzlich eintretenden Stille hörte sie seinen Atem nicht mehr. Der zerknautschte Saum des Gürtels war in seinem Nacken verschwunden. Er war tot, aber er zerrte immer noch weiter.

Sie ließ die Enden der Schärpe aus den verkrampften Fingern gleiten. Paolo drehte sich langsam in der Schwerelosigkeit um sich selbst. Sein Gesicht war schwarz angelaufen, die Arme erstarrt in der letzten Bewegung. Es sah gerade aus, als strangulierte er sich selbst.

Durch das sichelförmige Loch am Rand der Barrikade schob sich eine blutbedeckte behandschuhte Hand. Aus dem Innern des Raumanzugs drang ein gedämpftes Summen. Er versuchte zu ihr zu sprechen.

Sie eilte zu ihm. Er lehnte den Kopf gegen die Außenfläche der Barrikade und schrie in seinem Kopfhelm: »Tot! Sie sind tot!«

»Nimm den Helm ab«, sagte sie.

Er zuckte mit der rechten Schulter unter dem Anzug. »Mein Arm!« schrie-flüsternd er.

Sie steckte eine Hand durch den Spalt und half ihm, den Helm abzuschrauben. Mit einem saugenden Schmatzen löste sich der Helm, und dann roch sie den vertrauten Gestank seines Körpers. Unter seinen Nasenlöchern saßen halbkoagulierte Blutbatzen, und hinter dem linken Ohr ebenfalls; eine auch in seinem linken Ohr. Er war unter Dekompression geraten.

Behutsam fuhr sie ihm mit der Hand über die verschwitzte Wange. »Wir leben noch, oder nicht?«

»Sie wollten dich umbringen«, sagte er. »Das konnte ich nicht zulassen.«

»Genau wie bei mir.« Sie warf einen Blick nach hinten, auf Paolo. »Ihn zu töten, das war wie Selbstmord. Ich glaube, ich bin tot.«

»Nein. Wir gehören zueinander. Sag es, sag, daß es so ist, Nora.«

»Ja, es ist so!« Sie preßte das Gesicht blindlings an den Spalt, der sich zwischen ihnen auftat. Er küßte sie, und der Kuß hatte den scharfen salzigen Geschmack von Blut.

Die Zerstörung war gründlich erfolgt. Kleo hatte die Sache zu Ende gebracht. Sie war in einem Raumanzug hinausgekrochen und hatte das Innere der Red Consensus mit einem klebrigen Kontaktgift ausgesprüht.

Aber Lindsay war vor ihr dort gewesen. Er war über das Loch des nackten Raums gesprungen, hatte sich dekomprimiert, um sich einen der Raumanzüge zu holen. Er hatte Kleo in der Kommandozentrale ertappt, und in ihrem dünnen Anzug war sie ihm nicht gewachsen; er hatte ihren Anzug aufgerissen, und sie war an ihrem eigenen Gift gestorben.

Sogar der Roboter der »Familie« hatte gelitten. Während sie durch die Tarnkammer zogen, hatten die beiden Reps ihm eine Lobotomie verpaßt. Der Betrieb im Abschußring lief mit manischer Geschwindigkeit, denn der hirnlos gemachte Roboter schaufelte Tonne um Tonne Kohlenerz in die überladene und rülpsende Wetware. Ein schäumender Ausstoß plastischen Materials ergoß sich in den Abschußring, der selbst bereits durch den hin- und herrutschenden Abschußkorb unbrauchbar geworden war. Doch war dies das geringste ihrer Probleme.

Das größte und schlimmste Problem war die Sepsis. Die aus dem Zaibatsu eingeführten Mikroorganismen lösten in den empfindlichen Biosystemen in ESSAIRS XII die Katastrophe aus. Fünf Wochen nach dem Gemetzel war Kleos Garten nur noch eine leprazerfressende Parodie seiner selbst.

Die verzärtelten Blüten des Shaper-Paradieses wurden von Fäulnisschimmel befallen und starben unter der Wucht roher, nackter Menschhaftigkeit ab. Die Vegetation brachte absonderliche neue Formen hervor, während sie litt und sich krümmte; die Stengel und Halme wanden sich in perversem korkenzieherhaften, pestbeulenbesetztem Wucherwuchs. Lindsay inspizierte den Garten täglich, und seine Nähe beschleunigte die verderbliche Entwicklung nur noch mehr. Es roch hier wie im Zaibatsu, und der Nostalgiegestank füllte ihm schmerzlich die Lungen.

Und er, er hatte das hierher mitgebracht. Egal, wie schnell er voranzog, er schleppte unweigerlich den Kondensstrahl seiner Vergangenheit hinter sich drein, und der war fatal.

Er nicht, und Nora auch nicht, würden jemals davon frei sein. Es ging nicht nur um die Verseuchung oder um seinen unbrauchbaren Arm. Auch nicht um das galaktische Pustelgesprenkel, von dem Nora über Tage hin entstellt wurde, das ihre makellose Haut mit krustigem Schorf überzog und einen Schimmer von versteinertem stoischen Gleichmut in ihren Augen hervorrief. Es reichte zurück bis in die Ausbildung, die sie beide durchlaufen hatten, war die Folge des ihnen zugefügten Schadens. Dadurch wurden sie zu Gleichberechtigten und Partnern, und Lindsay erkannte, daß dies das Beste war, was ihm das Leben jemals geboten hatte.

Er dachte über den Tod nach, während er dem Shaper-Roboter bei der Arbeit zusah. Unablässig, ohne zu ermüden, füllte die Maschine Erz in die angeschwollenen Röhrensysteme der Köder-Wetware. Und wenn sie beide erstickt waren, würde die Maschine unbegrenzt diese hyperaktive Parodie von Leben fortsetzen. Gewiß, er hätte den Roboter ausschalten können, doch er empfand eine gewisse Verwandtschaft zu ihm. Diese sture, blinde Hartnäckigkeit gab ihm irgendwie Auftrieb. Und die Tatsache, daß der Roboter Tonnen von Plastikschäumen in den Abschußring pumpte und ihn damit unbrauchbar machte, bedeutete, daß die Piraten gesiegt hatten. Es wäre ihm unerträglich gewesen, hätte er sie dieses nutzlosen Sieges berauben sollen.

Als die Luft immer faulig-stickiger wurde, waren sie gezwungen, den Rückzug anzutreten. Sie verschlossen die Tunnels hinter sich luftdicht, hielten sich in der Nähe der letzten noch arbeitenden Gartenfabriken auf, atmeten flach die nach Heu duftende Luft, kopulierten miteinander und versuchten einander zu heilen.

Mit Nora und durch sie trat er wieder in das Shaper-Leben ein; in seine Subtilitäten, seine Illusionen, seine schmerzhafte Luzidität. Und - langsam - glätteten sich an Lindsays Seite die schärfsten Kanten an Nora. Sie legte ihre schlimmsten Macken ab, die verkrampftesten Knoten lösten sich in ihr, die unerträglichsten Stress-Levels wurden abgebaut.

Sie reduzierten die Energiestärke, damit die Tunnelgänge abkühlen mußten und die Ausbreitung der Infektion verzögert werde. Nachts klammerten sie sich aneinander, in eine teppichgroße Hülle gewickelt, die Nora auch prompt zwangsneurotisch zu besticken begann.

Sie wollte einfach nicht aufgeben. In ihr steckte ein abnormes Quantum von Energie, mit dem Lindsay es nicht aufnehmen konnte. Tage hindurch hatte sie Reparaturen in der Funkzentrale vorgenommen, obschon sie genau wußte, daß es sinnlos war.

Die Shaper-Ring-Sicherheitsdienste hatten den Sendebetrieb eingestellt; ihre paramilitärischen Außenposten waren inzwischen anstößig geworden. Mechanistensysteme evakuierten sie und führten die Repatriierung der shaperischen Belegschaft in den Ring Council unter Beachtung der allerfeinsten vom diplomatischen Protokoll vorgesehenen Delikatesse durch. Einen Krieg - hatte es nie gegeben. Niemand kämpfte. Die Kartelle kauften ihre Piraten-Klientel auf und versuchten sie in aller Hast zu befrieden.

Diese ganze Situation wartete im Grunde nur auf Lindsay und Nora. Sofern sie sich Gehör verschaffen konnten. Aber ihr Sendesystem war zerstört; die Schaltungen waren unersetzbar; und beide waren sie keine Techniker.

Lindsay hatte sich mit dem Tod abgefunden. Keiner konnte sie hier herausholen, keiner würde es tun. Man würde einfach unterstellen, daß der Außenposten ausgelöscht sei. Irgendwann einmal, stellte er sich vor, wird dann jemand der Sache nachgehen, aber erst in vielen Jahren.

Einmal, nachts, nachdem sie einander geliebt hatten, blieb Lindsay wach und spielte an dem Mechano-Arm des toten Piraten herum. Das Ding faszinierte ihn, es bot irgendwie Trost; dadurch daß er jung starb, überlegte Lindsay sich, war ihm wenigstens die jetzige Situation erspart geblieben. In Lindsays eigenem rechten Arm war nahezu überhaupt kein Gefühl mehr vorhanden. Nach der Geschichte mit dem Geschütz hatte sich der neurotransmittorische Zustand Lindsays rapide verschlechtert, und die Kampfverwundungen hatten das nur beschleunigt.

»Diese verdammten Geschütze«, sagte er laut. »Irgendwer wird irgendwann einmal hierherkommen. Wir sollten diese Scheißwaffen in Stücke brechen, um der Welt zu demonstrieren, daß wir so was wie Anstand besaßen. Ich würde das ja selbst tun, aber ich bring es nicht über mich, das Zeug anzufassen.«

Nora sagte schlaftrunken: »Na, und wenn schon? Sie funktionieren doch nicht mehr.«

»Klar. Entschärft sind sie.« Und das war eine seiner triumphalen Großtaten. »Aber sie könnten erneut scharfgemacht werden. Das sind bösartige Dinger, Liebes. Wir sollten sie total zerstören.«

»Wenn dir dermaßen viel dran liegt...« Noras Augen öffneten sich. »Abélard, wie war das, wenn wir eins davon abschießen würden?«

»Nie!« sagte er sofort.

»Und wenn wir die Consensus mit dem Teilchenstrahler zur Explosion bringen? Das würde doch bestimmt jemand sehen.«

»Sehen was? Daß wir Verbrecher sind?«

»Früher hätte das nur bedeutet, daß da ein paar Piraten krepiert sind. Und das Geschäft wäre reibungslos weitergelaufen. Aber jetzt wäre das ein Skandalon, ein ungeheuerlicher Stolperstein, Sie würden einfach jemand rausschicken müssen, der uns holt. Und sei es nur, um sicherzustellen, daß so was nie wieder geschieht.«

»Du wärest also bereit, diese Fassade der Friedfertigkeit aufs Spiel zu setzen, die sie den Außerirdischen vorgaukeln? Auf die bloße Chance hin, daß jemand kommt und uns hier rausholt? Oh, Feuer und Tod, denk doch bloß mal daran, was die uns antun würden, wenn sie hierher kämen!«

»Na, was denn? Sie könnten uns töten. Na und? Wir sind doch bereits tot. Ich aber will, daß wir leben!«

»Auch als Verbrecher? Verachtet und angespuckt von allen?«

Nora lächelte bitter. »Für mich wäre das nichts Neues.«

»Nein! Nora, es gibt Grenzen.«

Sie streichelte ihn zärtlich. »Ja, ich verstehe.«

Zwei Nächte darauf erwachte er voller Entsetzen, weil der Asteroid erbebte. Nora war fort. Zunächst dachte er an eine Meteoritenkollision, was selten genug vorkam, aber dennoch furchteinflößend war. Er horchte auf das Zischen eines Lecks, aber die Tunnelgänge schienen noch immer dicht zu sein.

Als er dann Noras Gesicht sah, begriff er, was wirklich der Fall war. »Du hast das Geschütz abgefeuert.«

Sie war durcheinander. »Ich habe die Consensus losgemacht, bevor ich sie abgeschossen habe. Ich bin rausgegangen auf die Außenseite. Da draußen ist etwas Komisches, Abélard. Aus dem Abschußring ist Plastik in den Raum hinausgequollen.«

»Davon will ich nichts hören.«

»Ich mußte es tun. Für uns. Verzeih mir, mein Liebster. Ich schwöre dir, ich werde dich nie wieder hintergehen.«

Er dachte dumpf und verschlossen nach. »Und du meinst, sie werden kommen?«

»Es ist eine Chance für uns. Und ich wollte, daß wir eine Chance bekommen.« Sie war nicht ganz bei der Sache. »Tonnen von Plastik. Wie Paste hinausquellend. Wie ein riesiger dicker Wurm.«

»Eine Panne«, sagte Lindsay. »Wir werden denen sagen müssen, daß es nur eine Panne war.«

»Und jetzt werde ich das Geschütz vernichten.« Sie schaute ihn schuldbewußt an.

»Was passiert ist, ist eben passiert.« Er lächelte betrübt, dann streckte er die Hand nach ihr aus. »Aber das hat Zeit.«

 

ESSAIRS XII: 17-7-'17

 

Irgendwann inmitten seiner Träume vermerkte Lindsay ein wiederholtes Pochen. Wie stets erwachte Nora zuerst und war sofort hellwach. »Abélard, da ist ein Lärmen ...«

Lindsays Erwachen war schmerzlich, seine Augenlider wie verklebt. »Was ist denn? Schon wieder ein Leck?«

Nora glitt unter der Bettdecke hervor und stieß sich mit dem nackten Fuß von Lindsays Hüftbein ab. Sie drosch auf den Lichtschalter. »Steh auf, Liebster! Egal, was es ist, es kommt direkt auf uns zu.«

Dies war zwar nicht die Art und Weise, wie Lindsay sich seinen Tod gewünscht hätte, doch er war bereit, an Noras Seite zu bleiben. Also zog er sich die Schnürsenkelhosen über und stülpte sich einen Poncho über den Kopf.

»Keine Luftbewegung«, sagte sie, während er noch mit einem komplizierten Shaperknoten kämpfte. »Keine Dekompression.«

»Aber dann ist es ein Rettungstrupp! Die Mechs!«

Sie bewegten sich eilig durch die lichtschwächeren Tunnels auf die Luftschleuse zu.

Einer ihrer Retter - er mußte wirklich extrem mutig sein - hatte es fertiggebracht, seinen breiten Leib durch die Luftschleuse und in den Laderaum zu quetschen. Er zupfte mit betonter Geschäftigkeit an den riesigen vogelkrallenähnlichen Zehen seines Raumanzugs herum, als Lindsay aus der Mündung des Wartetunnels hervorspähte, wobei er sich vorsichtshalber die Augen bedeckte und blinzelte.

Das Alien trug auf dem Nasenkamm seines ausgehöhlten Weltraumfahrerhelmes einen starken Suchscheinwerfer. Das abgestrahlte Licht war so stark wie das eines Schweißbrenners: grell und von elektrischem Blau, mit starken UV-Beimischungen. Der Raumanzug war braungrau und übersät von Steckdosen und an den Gelenken mit Akkordeonpuffern versehen.

Das Licht wischte über sie hinweg, und Lindsay kniff die Augen zu und wandte das Gesicht ab. »Ihr könnt mich den Insignaten nennen«, sagte der Fremde in Handelsenglisch. Höflich begab er sich auf ihre Vertikalachse, indem er nach oben griff und auf die Fingerspitzen die Wand entlangging.

Lindsay legte die Hand auf Noras Unterarm. »Ich bin Abélard. Dies ist Nora«, sagte er.

»Wie geht es euch? Wir möchten gern über diesen Besitz hier sprechen.« Der Fremde griff in eine Seitentasche und holte einen Packen Papier heraus. Mit rascher, vogelhafter Bewegung schüttelte er das Gewebe aus, und es wurde zu einem TV-Gerät. Er drückte den Bildschirm an eine Wand. Lindsays argwöhnisch wachsamen Augen entging nicht, daß es auf dem Schirm keine Scanzeilen gab, sondern daß das TV-Bild sich vielmehr aus Millionen winziger farbiger Sechsecke aufbaute.

Das Bild zeigte ESSAIRS XII. Aus dem Abschußloch des Startrings ergoß sich eine Plastikschaumröhre, die mindestens einen halben Kilometer lang sein mußte. An der Spitze der wurmartigen Schlauchwindung befand sich ein grober Knubbel. Lindsay begriff geschockt, aber er unterdrückte dies sofort, daß es sich um Paolos steinerne Kopfbüste handeln müsse, die da hübsch eingerahmt in den blütenhaften Trümmern des Abschußkorbes hing. Die Gesamtmasse war einfach glatt und geschmeidig in die Leckageabsonderungen der Tarnproduktion eingebettet und danach unter hohem Druck in einem gewundenen Spiralbogen aus Plastikmaterial hinausgepreßt worden.

»Verstehe«, sagte Lindsay.

»Bist du der Künstler?«

»Ja«, sagte Lindsay und deutete auf den Bildschirm. »Bitte den raffinierten Schattierungseffekt zu bemerken, wo unser jüngster Beschuß die Skulptur etwas dunkler lasierte.«

»Wir haben die Explosion vermerkt«, sagte der Fremde. »Eine ungewöhnliche Kunsttechnik.«

»Wir sind eben ungewöhnlich«, antwortete Lindsay. »Wir sind einmalig.«

»Ganz meiner Meinung«, stimmte der Insignat höflich zu. »Wir bekommen nur selten Kunstwerke von diesem Kaliber zu sehen. Möchtet ihr mit uns über einen Ankauf verhandeln?«

Lindsay lächelte. »Schön, reden wir.«