36
Wie so oft hatte sich das Wetter im Peak District innerhalb von achtundvierzig Stunden komplett gewandelt. Sobald es angefangen hatte zu tauen, war alles so schnell gegangen, dass bereits am Dienstag nahezu alle Spuren des Schnees verschwunden waren, mit Ausnahme einiger eisiger Zungen in den Falten des Hochmoors. Das Wasser stürzte von den Bergen, und die Flüsse waren so angeschwollen, dass sie die Brücken wegzureißen drohten.
Ben Cooper fuhr auf den nassen Straßen aus Edendale hinaus und dachte daran, wie anders der Snake Pass an dem Tag ausgesehen hatte, als er mit Sergeant Caudwell zum Wrack der Sugar Uncle Victor hinaufgestiegen war. Damals war der Schnee noch unberührt gewesen und hatte die Sonne so stark reflektiert, dass es in den Augen schmerzte.
Jetzt würde das Wasser im Hof hinter Eden Valley Books in kleinen Bächen von dem Geschützturm und den Motorgehäusen rinnen. Andrew Lukasz' Leiche war längst abgeholt worden, auch wenn die Bergung nicht ganz ohne Schwierigkeiten abgelaufen war. Seine Gliedmaßen waren zusammengefaltet worden, damit er in den Turm passte, und die Leichenstarre hatte die Gerichtsmediziner vor die Frage gestellt, ob sie ihm die Arme ausrenken sollten, um ihn dort herauszubekommen. Aber sie hatten es auch so geschafft, und als sie die Leiche umdrehten, hatten sie das Blut entdeckt, das in den Sitz gesickert war, und die Wunde an Andrews Hinterkopf.
Lawrence Daley tat Cooper Leid. Seine Partner hatten dafür gesorgt, dass er am Tod von Andrew Lukasz mitschuldig wurde. Da Lawrence nicht mehr gegen sie aussagen konnte, würde es schwierig werden, zu beweisen, ob Andrews Sturz von der Feuerleiter ein Unfall gewesen war oder ob jemand nachgeholfen hatte. Vielleicht stimmte es ja, dass sie einfach nur die Tür geöffnet hatten, um ihm den Hof zu zeigen. Die Treppe war schon seit Tagen vereist gewesen, außerdem hatte es gerade erst geschneit. War Andrew also ausgerutscht und gestürzt? Oder war es die einzige Möglichkeit für Baine und seine Freunde gewesen, ihn davon abzuhalten, sich am darauf folgenden Tag mit Nick Easton zu treffen?
Als er mit Diane Fry den Buchladen aufgesucht hatte, um sich den Raum im ersten Stock zeigen zu lassen, hatte Cooper sogar selbst auf der Feuerleiter gestanden und in den Hof hinuntergeschaut. Zu diesem Zeitpunkt hatte Andrew Lukasz' Leiche bereits dort unten gewartet, dass der Schnee so weit taute, dass er von der Kanzelscheibe rutschte. Armer Lawrence. Er hatte nie richtig begriffen, worauf er sich da eingelassen hatte.
Nachdem nun sämtliche Verhöre abgeschlossen waren, galt es Anklage gegen Frank Baine und die Kemps zu erheben. Die MDP war noch immer mit ihren eigenen Ermittlungen beschäftigt. Das Einzige, was nach wie vor fehlte, war Sergeant Eastons schwarzer Ford Focus.
Alison Morrissey war wieder in Kanada, die kleine Chloe in einem Säuglingsheim. Dem Baby war in Mrs Shelleys Obhut, wo es vor Eddie Kemp sicher gewesen war, nichts passiert. Und Marie Tennent hatte von Anfang an zu Unrecht unter falschem Verdacht gestanden. Das Einzige, worum sie sich gesorgt hatte, war die Sicherheit ihres Kindes. Nein, da war noch etwas anderes gewesen: Sie hatte der Toten gedacht.
Doch Ben Cooper hatte den Eindruck, als gäbe es noch jemanden, an dessen Schicksal niemand mehr dachte. Diese Geschichte hatte weder mit Nick Easton noch mit Marie Tennent oder sonst irgendjemandem ihren Anfang genommen - sondern mit Fliegerleutnant Danny McTeague.
Auf dem Irontongue Hill lief das Wasser in alle Richtungen durchs Hochmoor, grub Rinnen in den wieder frei liegenden Torf, formte ihn zu Burgen und Hügeln, schichtete kleine Steine zu Haufen auf und sammelte sich in den Mulden zu dunklen Tümpeln. Weiter unten waren die Bäche braun und führten deutlich mehr Schmelzwasser mit sich, als sie eigentlich verkraften konnten. Inzwischen waren sie nicht mehr malerisch.
Trotzdem lag auf dem Dach von George Malkins Haus in Harrop immer noch Schnee. Normalerweise war dies ein Zeichen für gute Dämmung, die verhinderte, dass die Wärme nach außen drang. In Malkins Fall wusste Cooper jedoch, dass es in der Hollow Shaw Farm schlicht und ergreifend nicht genug Wärme gab, um den Schnee vom Dach zu schmelzen.
Malkin hatte mit dem Gras auf der Wiese hinter seinem Haus Recht gehabt. Sogar jetzt, da die Schneedecke allmählich schwand, sah das Gras dort heller und frischer aus als auf jeder anderen Weide in Derbyshire. Die Schafe hoben die Köpfe mit den schwarzen Gesichtern und sahen zu, wie Cooper den Toyota abstellte und den Weg zum Haus hinaufging. Einige Tiere nickten, als wollten sie sagen, sie hätten das alles kommen sehen.
»Was macht das Kaninchen?«, fragte Malkin, als Cooper ins Haus trat.
»War ein echter Lebensretter.«
»Oh, prächtig.«
Auf dem Fensterbrett von Malkins Wohnzimmerfenster türmte sich eine kleine Schneewehe, die der Sturm durch den verzogenen Fensterrahmen hereingedrückt hatte. Der Schnee machte keinerlei Anstalten zu schmelzen, nicht einmal jetzt. Heute wollte Cooper nicht im Haus bleiben.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz mit mir nach draußen zu kommen, Mr Malkin?«
»Meinetwegen.«
Sie gingen ein paar Meter den Hang hinauf zu einer Stelle, von wo aus der Irontongue in der Ferne gerade noch zu erkennen war. Dazwischen erhob sich der Hügel des Blackwood-Reservoirs, dessen Damm senkrecht aus dem Schnee ragte.
»Vorgestern Abend war ich dort oben, im Dunkeln«, sagte Cooper. »Normalerweise gehe ich nicht im Dunkeln auf den Berg, aber vorgestern schon.«
»Hab davon gehört«, sagte Malkin.
»Na ja, wenn man nachts dort oben ist, im Schnee, dann sehnt man sich nach jedem noch so kleinen Lebenszeichen. Eine ganze Weile konnte ich im weiten Umkreis überhaupt nichts sehen - nur ein einzelnes Licht. Es kam von Ihrem Fenster. Ich habe gewusst, dass es Ihr Licht war. Sie ziehen die Vorhänge nicht vor.«
»Ich hab nicht gewusst, dass Sie dort oben waren«, sagte Malkin. »Was hätte ich denn tun sollen?«
»Nichts«, erwiderte Cooper. »Aber wenn ich mich verlaufen und nicht mehr gewusst hätte, in welche Richtung ich gehen soll, wäre ich mit Sicherheit auf Ihr Haus zugelaufen. Es war das einzige Licht weit und breit. Es war wie ein Symbol der Rettung.«
»Wenn Sie meinen.«
»Ich wäre nie in die andere Richtung gegangen, zum Reservoir und von dort hinunter zur Wasserwirtschaftsamtsstraße, die man von da oben ja nicht einmal sehen kann. Man käme nie auf die Idee, dass dort eine Straße verläuft. Um in diese Richtung zu gehen, muss man entweder blind oder dumm sein.«
Malkin schien allmählich zu ahnen, worauf Cooper hinauswollte. »Oder betrunken?«
»Fliegerleutnant McTeague war nicht betrunken«, korrigierte Cooper.
Die Luft war feucht, und Cooper sah, dass die Wolken sich rasch über das Land senkten. Fröstelnd schlug er den Kragen hoch.
»Ich habe den Unfallbericht überprüft«, sagte er. »Der Whisky an Bord der Lancaster SU-V war ein Geschenk für den Kommandeur des Luftwaffenstützpunktes Benson. Der Schwadronskommandeur in Leadenhall hatte eine Quelle auf dem Schwarzmarkt, und davon wollte er seinem alten Freund in Lancashire etwas zukommen lassen.«
»Tatsächlich?«
»Mr Malkin, ich glaube, Sie konnten Fliegerleutnant Mc-Teague unmöglich auf der Straße sehen und ›Show Me the Way to Go Home‹ singen hören.«
»Kann schon sein, dass ich mich geirrt habe«, brummte Malkin. »Nach so langer Zeit spielt einem die Erinnerung schon mal den einen oder anderen Streich.«
»Ich glaube, es gibt ein paar Dinge, an die Sie sich nur allzu gut erinnern.«
Malkin blickte über das Moor. Nebelbänke schoben sich vor den Irontongue Hill, und schon bald wäre er von Hollow Shaw aus nicht mehr zu sehen.
»Wollen Sie es mir nicht erzählen?«, fragte Cooper.
Malkin stand wie erstarrt vor ihm. »Eins müssen Sie verstehen«, sagte er. »Ted und ich hatten gehört, wie unsere Eltern und ein paar von ihren Freunden über gefälschte Banknoten geredet haben, die angeblich von den Deutschen gedruckt worden sind, um unsere Wirtschaft lahm zu legen.«
Cooper runzelte die Stirn. »Was hat das damit zu tun?«
»Na ja, als ich mit Ted zum Wrack hinaufgestiegen bin, haben wir gehört, wie zwei von den Fliegern miteinander geredet haben. Sie haben in einer fremden Sprache gesprochen, deshalb dachten wir, es sind Deutsche.«
»Nein, das müssen die beiden Polen gewesen sein«, sagte Cooper. »Das waren Zygmunt Lukasz und Klemens Wach. Sie sprachen polnisch.«
»Jetzt weiß ich das auch«, gab Malkin ein wenig gereizt zurück. »Deshalb haben wir uns der Besatzung nicht weiter genähert, verstehen Sie? Abgesehen davon hätten wir sowieso nicht gewusst, was wir tun sollten, wenn wir die Verletzten gefunden hätten. Wir wollten irgendwo zu einem Telefon und die Polizei anrufen, aber dann haben wir die Taschen gesehen. Sie waren aus dem Flugzeug geschleudert worden. Ted ist stehen geblieben und hat hineingesehen. So haben wir das Geld gefunden.«
Malkin hielt inne und blickte über das Moor zur Mauer des Blackbrook-Reservoirs hinüber, ehe er ein kleines Tor in der Steinmauer öffnete: »Ted hat gemeint, das sind Millionen. Wir haben Tage gebraucht, um die Scheine zu zählen, aber so viel war's nicht. Wir konnten die Taschen zu zweit kaum tragen. Ich war damals noch klein und bin schnell müde geworden. Wir wollten die Taschen zuerst verstecken und danach die Polizei anrufen. Wir dachten, alle glauben bestimmt, die Taschen sind bei dem Absturz ins Reservoir geschleudert worden, weil rings um das Becken ja jede Menge andere Flugzeugteile lagen.«
»So weit kann ich Ihnen folgen«, sagte Cooper. »Und was ist dann schief gelaufen?«
Malkin starrte immer noch zum Reservoir hinauf. »Wir haben das Licht gesehen«, sagte er. »Draußen auf dem Eis.«
»Ein Licht?«
»Es war ganz weit draußen im Dunkeln. Wir wussten, dass dort eigentlich niemand sein konnte. Es war, als würde das Licht mitten in der Luft schweben. Am Anfang dachten wir, das sind die Geister, die es draußen im Moor geben soll. Wir dachten an Gespenster. Sogar Ted hatte ein bisschen Angst, glaub ich.«
Malkin schien fast in seine Kindheit zurückzukehren. Cooper konnte sich ihn ohne weiteres als aufgeregten, zu Tode erschrockenen kleinen Jungen vorstellen, voller Ehrfurcht vor dem älteren Bruder. Es war nicht allzu schwer, sich auszumalen, wie sich der kleine George Malkin gefühlt haben musste. Auch Cooper war früher manchmal vor Aufregung fast übel geworden, wenn ihn Matt wieder in irgendwelche Abenteuer verwickelt hatte.
»Dann haben wir eine Stimme um Hilfe rufen gehört«, fuhr Malkin fort. »Sie war ganz schwach und hallte so merkwürdig. Wir haben dagestanden und zugesehen, wie sich das Licht bewegt hat. Uns war klar, dass es einer von der Besatzung des abgestürzten Flugzeuges sein muss. Aber am Anfang haben wir nicht geglaubt, dass er noch am Leben ist. Wir haben gedacht, er ist ein Gespenst, nur ein Licht und eine Stimme. Er hat auf Englisch um Hilfe gerufen, aber so leicht haben wir uns nicht täuschen lassen. Schließlich haben wir ja gehört, wie sie in ihrer eigenen Sprache gesprochen haben. Wir wussten ja, dass es Deutsche waren.«
Cooper schloss die Augen. »Es waren Polen«, wiederholte er.
Aber Malkin hörte ihn überhaupt nicht. Er war weit weg, durchlebte noch einmal jenen Augenblick, der sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatte. Siebenundfünfzig Jahre hatten seiner Erinnerung nicht das Geringste anhaben können. Mittlerweile klang er, als sei es ihm völlig egal, ob Cooper zuhörte oder nicht.
»Dann hat Ted gesagt, der Flieger muss ganz nah am Beckenrand sein. Er hat gesagt, die Dammmauer ist hinter ihm, weil wir das Echo hören, wenn er ruft. Also haben wir dem Licht noch ein bisschen länger zugesehen. Mir ist im ganzen Leben nicht mehr so kalt gewesen, was aber zum Teil auch an der Angst lag. Ich hab gewusst, dass wir die Taschen nicht mehr tragen können, wenn wir noch länger warten. Ich hab mich umgeschaut, ob wir sie irgendwo verstecken können, aber da war nichts in der Nähe. Überall hat Schnee gelegen. Und dann hat Ted gesagt: >Er ist auf dem Eis.<«
»Das Reservoir war also zugefroren?«, fragte Cooper.
»Auf der Seite da drüben, ja. Der Flieger ist über das Eis gegangen, immer an der Mauer vom Damm entlang.« Malkin stockte. »Ich hab Angst gehabt wegen dem Geld. Der Mann auf dem Eis war das Einzige zwischen uns und dem Geld. Er hätte gemerkt, dass es fehlt. Ich wollte das Geld lieber wieder zurückbringen, aber Ted hat geschimpft, ich soll mich nicht so dumm anstellen. Ich hab gesagt, wenn der Flieger bis zur Wasserwirtschaftsamtsstraße kommt, dann schafft er es auch bis zu der Telefonzelle eine halbe Meile weiter. Aber Ted hat gesagt: >Er kommt aber nicht bis zur Straße.«<
Cooper wollte etwas fragen, besann sich aber eines Besseren. Er durfte Malkin jetzt nicht unterbrechen, da sich die Geschichte langsam ihrem Ende näherte. Cooper war sich sicher, dass sich der alte Mann noch an jedes Wort erinnerte, das damals zwischen den beiden Brüdern gefallen war, während sie den Hilferufen lauschten.
»Und dann haben wir es beide gehört... das Krachen«, sagte Malkin. »Die Nachtluft hat es bis zu uns herübergetragen, und es war schrecklich laut. Als würden zwei Metallstücke aneinander schlagen, und dazu hat es leise geknirscht, als wäre etwas zerbrochen. Dann ist das Licht verschwunden. In der einen Sekunde war es noch da, dann war es weg. Man hat keinen Ruf gehört, keinen Schrei, nicht mal ein Platschen. Vielleicht haben die Flammen vom Flugzeug auf einem Stück Eis aufgeblitzt, das sich schräg gestellt hat. Aber dann ist die Eisscholle zurückgerutscht, und er war weg.«
Erschaudernd stellte Cooper sich den Schock vor, wenn das Eiswasser über dem Kopf zusammenschlug. McTeague musste seine schweren Fliegerstiefel und einen Fallschirmgurt getragen haben. Gefangen unter einer dicken Eisschicht, musste er innerhalb von Sekunden tot gewesen sein.
Der Irontongue war inzwischen im Nebel verschwunden, der rasch über das Moor heranzog. Cooper spürte die Feuchtigkeit bereits im Nacken.
»Ich hab nicht begriffen, was da passiert ist«, sagte Malkin. »Erst später. Am nächsten Morgen sind wir rauf zum Reservoir und haben nachgeschaut. Erst da hab ich gesehen, dass es nur auf der Ostseite dick genug zugefroren war, dass man drauf laufen konnte. Die Eisfläche war verschneit, hat also im Dunkeln genau wie der andere Boden ausgesehen. Es ist nie einfach, übers Moor zu gehen, geschweige denn im Schnee und im Dunkeln. Überall sind kleine Gräben, über die man muss.«
»Als der Flieger das Reservoir erreicht hat, muss er schon ziemlich erschöpft gewesen sein«, sagte Cooper.
»Ja. Er konnte es nicht ahnen. Aber auf der anderen Seite, beim Wehr, hat sich das Wasser noch bewegt. Das Eis war dünn. Nicht dick genug, um einen Menschen zu tragen. Am Morgen war höchstens noch ein feiner Riss in der Oberfläche zu sehen, wo er eingebrochen war. Der Bursche ist über Deutschland gewesen, ist zurückgekommen und hatte gerade einen Flugzeugabsturz überlebt. Und dann hat er sein Leben in die Hände von zwei Kindern gelegt. Und wir haben ihn krepieren lassen.«
Cooper wusste, dass seine Vorstellungskraft nicht ausreichte, um sich auszumalen, was Malkin durchmachte. Der alte Mann hatte den Vorfall wieder und wieder durchlebt.
»Ich dachte immer, er kommt zurück und verfolgt uns hier draußen im Moor«, sagte Malkin. »Nachts kommt er zurück. Aber nur in meinen Albträumen.«
Cooper blickte zum Reservoir hinüber, das in einer Senke zwischen den schneebedeckten Hügeln lag. Er nickte, während er wieder an Zygmunt Lukasz dachte.
»Keine Vergebung. Kein Vergessen«, sagte er.
Und plötzlich war Malkin wieder im Hier und Jetzt. Er lief dunkelrot an, die Adern auf seiner Stirn traten hervor, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer unkenntlichen Fratze.
»Glauben Sie vielleicht, ich will mich daran erinnern?«, stieß er hervor. »Glauben Sie, ich hätte das nicht schon oft genug durchlebt, seit der Nacht, in der es geschah? Was glauben Sie, wie oft ich seit damals diesen Albtraum hatte? Wie oft wohl?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Cooper.
»In wie vielen Nächten in siebenundfünfzig Jahren?«, sagte Malkin. »Rechnen Sie es selbst aus, Sie sind doch ein schlaues Kerlchen.«
George Malkin drehte sich um und ging zum Hof zurück. Ben Cooper tastete nach seinem Funkgerät. Sollte er die Zentrale anrufen? Aber das wäre albern. Hier handelte es sich mit Sicherheit um einen Tod durch Unfall, der dazu noch siebenundfünfzig Jahre zurücklag. Der Zeuge war damals ein achtjähriger Junge gewesen. Nach allem, was sich in jüngster Zeit ereignet hatte, hielten ihn seine Kollegen mit Sicherheit für übergeschnappt, wenn er ein Drama daraus machte. Dann sah er, dass Malkin nicht auf das Haus zuging, sondern auf die große Scheune, in der Rod Whittaker seinen Lastwagen unterstellte. Malkin schob das Tor zurück und verschwand im Inneren.
»Mr Malkin?«, rief Cooper. Allmählich kam er sich auf der Wiese albern vor. Als er einen Dieselmotor anspringen hörte, lief er zum Schuppen und warf vorsichtig einen Blick hinein. Der DAF war nicht da, wohl aber der große Renault-Traktor, hinter dem die dazugehörige Ausrüstung fein säuberlich an der Wand aufgereiht war: ein Heuwender, eine Egge, ein Schneepflugblatt. George Malkin saß hoch oben in der Fahrerkabine des Traktors.
»Mr Malkin!«, rief Cooper. »Helfen Sie Rod Whittaker auch gelegentlich in seiner Firma?«
»Nein. Ich hab keinen Lkw-Führerschein«, rief Malkin zurück.
»Aber Sie fahren doch auch diesen Traktor!«
Cooper sah, wie Malkin einen Gang einlegte, machte einen Schritt beiseite und zog sich auf das Trittbrett hinauf, um durch die Beifahrertür zu klettern.
»Sie haben mir erzählt, Rod Whittaker hätte einen Vertrag mit der Bezirksverwaltung. Dazu gehört bestimmt auch, dass er manchmal Schnee räumt. Es kommt die Verwaltung doch viel billiger, Bauern und ortsansässige Unternehmer zu bezahlen, als selbst teure Schneepflüge zu kaufen.«
»Genau«, erwiderte Malkin, als sich der Traktor in Bewegung setzte.
»Sie könnten diesen Traktor also auch als Schneepflug benutzen, wenn die Straßen hier in der Umgebung frei gemacht werden müssen?«
»Ich denke schon.«
Der Traktor holperte über den Hof und hielt auf das offene Tor zum Moor zu. Cooper rief sich seinen Abstecher zum Snake Inn ins Gedächtnis, bei dem die Angestellten ausgesagt hatten, an dem Morgen, als Nick Eastons Leiche gefunden wurde, hätten die Fahrer eines Schneepflugs Halt gemacht und ihre Thermosflaschen aufgefüllt. Aber nur die Fahrer eines Pflugs. Sie hatten auch gesagt, die Fahrer, die von Norden über den Pass kamen, seien keine städtischen Angestellten. Sie arbeiteten auf Vertragsbasis, deshalb lag es in ihrem eigenen Interesse, die Arbeit möglichst schnell zu erledigen. Und einer davon würde einen großen Traktor mit einem Schneepflug fahren. Er sei schon sehr früh unterwegs gewesen und müsse aus der Nähe von Glossop gekommen sein, hatten sie gesagt. Gut möglich, dass er aus Harrop kam.
»Damit kommen Sie doch bis zum Snake Inn, oder?«, schrie Cooper über das Dröhnen hinweg. »Wenn die Straße für den Verkehr gesperrt ist, wundert sich niemand über einen Schneepflug. Das Personal vom Snake Inn hat das jedenfalls nicht getan. Sie haben keine anderen Fahrzeuge gesehen und gehört, nur die Schneepflüge, die den Pass herunterkamen, und dann, etwas später, noch einen, der heraufkam. Den Pflug, dessen Fahrer Nick Eastons Leiche gefunden haben. Und ich glaube, dass einer von denen, die vom Pass herunterkamen, sie dort abgelegt hat.«
Vor ihnen tauchte das Blackbrook-Reservoir im Nebel auf. Malkin kurbelte am Steuerrad und setzte rückwärts durch den nassen Torf auf ein mit einem Vorhängeschloss versperrtes Gatter zu.
»Halt!«, rief Cooper.
»Keine Angst. Ich halte schon an.«
Malkin ließ den Motor laufen, während Cooper vom Traktor sprang und das Tor weit öffnete, wobei ihm auffiel, dass das Schloss aufgebrochen worden war.
»Sie haben Frank Baine geholfen, die Leiche zu beseitigen«, sagte Cooper. »Hat Baine Sie erpresst?«
»Nein, so war es nicht.«
Malkin fuhr den Traktor rückwärts an den Rand des Reservoirs, wo eine Betonrampe bis ins Wasser führte. Dann stieg er ab und werkelte hinter dem Fahrzeug an etwas herum. Cooper sah, dass er eine dicke Kette mit einem großen Haken an einem Ende in der Hand hielt. Verwundert sah er zu, wie Malkin bis zur Hüfte in das eiskalte Wasser watete. Dann bückte er sich und befestigte den Haken an etwas, das sich unter der Wasseroberfläche befand. Als er zum Traktor zurückkam, war Malkin völlig durchnässt und bleich vor Kälte.
»Frank Baine ist vor ein paar Wochen hier vorbeigekommen«, erklärte er. »Er hatte herausgefunden, dass ich das Geld hab. Ich hab Lawrence Daley einen Haufen anderen Kram verkauft, und Baine ist kein Dummkopf. Er hat Daley gefragt, wo die Scheine herkommen, und hat zwei und zwei zusammengezählt.« Malkin kletterte wieder in die Fahrerkabine. »Baine hat gesagt, die weißen Fünfer wären einen Haufen Geld wert. Er hat gesagt, es wären Sammlerstücke, und dass es Leute gibt, die richtiges Geld dafür zahlen. Viel Geld. Er hat mir angeboten, es für mich zu verkaufen, natürlich gegen einen gewissen Anteil am Erlös. Wir haben ausgerechnet, dass alles zusammen über hunderttausend Pfund wert ist. Genug, um Florence zur Behandlung nach Amerika zu schicken.«
»Es muss Ihnen wie ein Wunder vorgekommen sein«, meinte Cooper.
»Ja. Nach all den Jahren kam endlich das Wunder, für das ich gebetet habe. Wahrscheinlich halten Sie mich nicht für jemanden, der betet, aber genau das hab ich getan, und ich hab mir gedacht, Baine hat mir zu meinem Wunder verholfen.« Malkin schüttelte den Kopf. »Dann ist der Polizist von der Air Force gekommen. Natürlich war es da schon viel zu spät. Und alles, was ich danach gemacht hab, war sinnlos.«
Er legte den Gang ein, worauf sich die Kette straffte. Cooper stand am Beckenrand und schaute hinab. Das Wasser war schwarz und ölig von dem Schlamm, der von dem vielen Schmelzwasser aufgewirbelt worden war. Es konnte alles Mögliche darin herumschwimmen.
Doch als der Traktor langsam anzog, tauchte etwas Metallisches, Glänzendes aus dem Wasser auf. Nach und nach wurden Einzelheiten erkennbar: eine Stoßstange, ein Nummernschild und eine Heckscheibe. Schließlich stand der ganze Wagen auf der Betonrampe. Wasser strömte aus seinem Inneren, Schlamm rann träge über die Windschutzscheibe.
»Suchen Sie an dem Ding mal nach Fingerabdrücken«, sagte Malkin.
»Das ist Nick Eastons Ford Focus«, stellte Cooper fest.
»Schlaues Kerlchen.«
Diesmal rief Ben Cooper in der Zentrale an, während George Malkin wartete, bis er fertig war. Sein Blick ruhte auf der Hollow Shaw Farm, als sähe er sie zum letzten Mal. Das Haus, in dem er sein ganzes Leben verbracht, der Ort, der alle seine Geheimnisse bewahrt hatte.
Cooper betrachtete den tropfenden Wagen und schüttelte den Kopf.
»Sie haben also gedacht, Nick Easton sei gekommen, um Ihnen das Geld wegzunehmen?«
»Klar«, antwortete Malkin. »Gerade als ich dachte, ich hätte das Glück endlich zu fassen gekriegt, kam er, um es mir wieder wegzuschnappen. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Und deshalb haben Sie ihn umgebracht?«
»Ich war völlig panisch. Ich glaube, ich hab gar nicht richtig gewusst, was ich tat.« Malkins Stimme zitterte. »Als er tot war, konnte ich überhaupt nicht mehr richtig denken. Ich habe keine Ahnung, was ich in den Stunden danach gemacht hab, bis ich merkte, dass es mitten in der Nacht war. Und da hatte es schon angefangen zu schneien. Ron hatte den Schneepflug schon am Traktor befestigt, falls er zum Straßenräumen rausmusste, also hab ich die Leiche hinten reingepackt und bin zum Snake runtergefahren.«
»Und es waren keine anderen Autos unterwegs«, ergänzte Cooper.
»Genau. Niemand kümmert sich um einen Schneepflug. Aber wissen Sie was? Bevor ich den Burschen rausfallen ließ, hab ich seine Taschen geleert, und erst als ich seine Schlüssel gefunden hab, ist mir aufgegangen, dass er ein Auto haben musste. Wie blöd kann man sein? Das Auto stand nicht weit vom Hof weg. Ich hab es nicht gesehen, als ich weggefahren bin, sonst hätte ich vielleicht dran gedacht, ihn gleich mit im Reservoir zu versenken. Aber am Anfang wollte ich den Kerl nur so weit wie möglich wegbringen. Wie gesagt, ich hab nicht mehr normal denken können.«
Cooper runzelte die Stirn. »Und woher wusste Nick Easton, dass Sie das Geld haben? Wer hat es ihm gesagt?«
Malkin ließ sein heiseres, rasselndes Lachen hören, das im feuchten Schweigen des Hochmoors seltsam deplatziert wirkte.
»Ich«, erwiderte er. »Ich hab's ihm selber gesagt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist schon Jahre her. Ich hab schon lange gewusst, dass die Scheine wertlos sind. Aber sie haben mein Gewissen belastet, und ich musste immer dran denken, dass Florence sie eines Tages finden könnte. Ich hab mir gedacht, wenn ich das Geld zurückgebe, dann hab ich auch den Flieger nicht mehr auf dem Gewissen... dann verfolgt er mich nicht mehr in meinen Träumen. Also hab ich mir die Nummer von der RAF-Polizei besorgt und dort angerufen. Ich hab meinen Namen und meine Adresse hinterlassen und ihnen gesagt, dass ich weiß, wo das Geld von der abgestürzten Lancaster ist.« »Die hatten wahrscheinlich keinen Schimmer, wovon Sie reden.«
»Natürlich nicht«, sagte Malkin. »Niemand hat mehr an diese alte Geschichte gedacht. Nur ich.«
»Was hat die RAF dann unternommen?«
»Überhaupt nichts. Sie haben sich für die Information bedankt und gesagt, dass sich vielleicht jemand mit mir in Verbindung setzt. Aber es kam nie jemand. Wahrscheinlich hatten sie was Besseres zu tun. Es war ihnen zu lange her, klar. Ich schätze, die haben irgendwo einen Zettel an eine Akte geheftet, dass irgend so ein alter Trottel aus Harrop angerufen hat, und dann haben sie mich mit meinen Albträumen wieder allein gelassen.«
»Bis Andrew Lukasz seine Geschichte Sergeant Easton erzählt hat. Und Easton muss die alten Akten wieder ausgegraben haben, bevor er nach Edendale fuhr.«
»Genau.«
Cooper betrachtete einen Augenblick die kleinen Wellen, die immer noch die Wasseroberfläche kräuselten und sich träge an der Betonrampe brachen.
»In diesem Reservoir kann man so ziemlich alles verstecken«, sagte er. »Ohne dass es jemals wieder an die Oberfläche kommt. Danny McTeagues Leiche jedenfalls ist nicht wieder aufgetaucht.«
Malkins Gesicht verzog sich wieder. »Aber ja«, sagte er.
Cooper verstand ihn zunächst nicht richtig und dachte, Malkin wollte ihm lediglich zustimmen. Doch in der Stimme des alten Mannes lag eine Schroffheit, die die Worte in seiner Kehle erstickten.
»Mr Malkin?«
»Er ist wieder an die Oberfläche gekommen, als das Eis getaut ist«, erklärte Malkin. »Vier Tage später.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Zuerst nicht. Das Eis ist immer dünner geworden - so dünn, dass wir von oben auf der Mauer durchgucken konnten. Am dritten Tag haben wir ihn gesehen. Er hat auf dem Rücken gelegen und uns angestarrt. Sein Gesicht war gegen das Eis gedrückt. Es war, als würde er uns Grimassen schneiden, uns die Zunge rausstrecken und zurufen, dass er uns doch noch drangekriegt hat.«
»Was haben Sie mit der Leiche gemacht? Haben Sie es Ihrem Vater erzählt?«
Malkin lachte. »Von wegen. Der hätte uns mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen und uns in den Kohlenschuppen gesperrt, weil wir Lügengeschichten erzählen. Und dann hätte er es der Polizei gesagt. Wir dachten, wir kommen wegen Mordes ins Gefängnis. Wir haben ja geglaubt, dass wir ihn ermordet haben, verstehen Sie? Wir waren schuld, dass er tot war.«
»Aber wenn die Leiche dort geblieben wäre, hätte sie früher oder später doch jemand finden müssen.«
»Niemand hat sie gefunden, weil wir sie wieder auf den Grund geschickt haben. Zum Reservoir gehörte ein kleines Ruderboot. Das haben wir mit Steinen gefüllt, dann haben wir aus dem Schuppen das Fischernetz von unserem Vater geholt. Später hat er gemerkt, dass es nicht mehr da war, aber er hat immer geglaubt, irgendwelche Zigeuner hätten es geklaut.«
Allmählich wurde es nass und ungemütlich.
»Wir haben das Netz an der Leiche festgemacht«, fuhr Malkin fort. »Wir haben die Enden am Fliegeranzug und an seinem Fallschirmgurt festgebunden, überall wo es ging. Dann haben wir es mit Steinen gefüllt und über den Bootsrand gewuchtet. Am Anfang haben wir gedacht, er geht nicht unter, aber dann hat uns sein Gesicht nicht mehr angestarrt. Die Steine haben ihn bis auf den Grund gezogen, und es waren nur noch ein paar Blasen zu sehen. Ich hab immer wieder nachgesehen, ob er noch mal hochkommt. Monatelang habe ich nachgeschaut, bis zum Sommer. Ich hab so oft und so lange in das Reservoir gestarrt, dass mein Vater schon dachte, ich werde wunderlich. Aber der tote Flieger ist nie wieder aufgetaucht.«
»Wir müssen Taucher hinunterschicken, um nach den Überresten zu suchen«, sagte Cooper. »Vielleicht müssen wir das Wasser ablassen.«
»Das hat keinen Sinn«, sagte Malkin. »Man hat das Reservoir schon vor fünfunddreißig Jahren abgelassen.«
»Aber...«
»Damals war das Becken alt und hat geleckt, deshalb haben sie das Wasser abgelassen, um einen Zementboden zu legen. Seitdem ist es noch zweimal abgelassen worden, zur Instandhaltung. Man lässt ein Reservoir nicht sechzig Jahre einfach so stehen, sonst hätte es längst so viele Löcher, dass kein Tropfen Wasser mehr drinbleibt.«
Cooper fragte sich, ob sich der alte Mann die ganze Geschichte vielleicht nur ausgedacht hatte. Aber Malkins Miene war ernst. Sein Gesicht war aschgrau, und er machte keine Anstalten, die mit dem Nebel aufziehende Feuchtigkeit von seinen Wangen zu wischen.
»Erzählen Sie mir auch die Wahrheit, Mr Malkin?«, fragte Cooper. »Oder ist das nur eine Kinderfantasie?«
»Jedes Wort, das ich Ihnen erzählt hab, ist wahr. Aber die Zeit vergeht, und die Dinge ändern sich. Eine Leiche bleibt nicht bis in alle Ewigkeit eine Leiche, nicht im Wasser, nicht, wenn Fische dran rumknabbern. Als das Reservoir damals abgelassen wurde, haben auf dem Boden wahrscheinlich nur noch ein paar Knochen und ein paar Stofffetzen im Schlamm gelegen. Haben Sie schon mal ein abgelassenes Reservoir gesehen? Der Schlamm liegt über einen Meter hoch, und es stinkt zum Himmel.«
»Ja, ich erinnere mich an das Dürrejahr, in dem alle Reservoirs langsam ausgetrocknet sind. Der Gestank war meilenweit zu riechen.«
»Damals war es sogar noch schlimmer. Es war so übel, dass man fast ohnmächtig geworden ist. Man hat den Dreck rausgebaggert und auf Lastwagen verladen. Niemand ist auf die Idee gekommen, ihn durchzusieben und nachzusehen, ob da irgendwelche Leichen drin liegen. Die wollten das Zeug so schnell wie möglich loswerden. Man hat alles auf eine Deponie gekippt, weiter drüben, wo früher mal Bents Steinbruch war. Später wurde Muttererde drübergegeben und das Ganze eingeebnet. Nach ein, zwei Jahren war alles schön mit Gras bewachsen, und heute ist es eine hervorragende Weide. Genau genommen die Weide, die Rod Whittaker für seine Schafe benutzt.«
Malkin zeigte in Richtung Hollow Sky Farm, wo Cooper ein paar versprengte Gestalten zwischen den verbliebenen Schneeflecken erkannte.
»Dort liegt Ihr vermisster Pilot«, sagte Malkin. »Er hilft, die Muttertiere zu weiden.«
Cooper sah die Schafe an. Eines der Tiere hob den Kopf und erwiderte seinen Blick. Seine Kiefer mahlten unablässig, und sein Gesicht strahlte träge Überheblichkeit aus. Cooper spürte ein irrationales Aufwallen von Wut. Diese Geschichte hatte eine so dramatische Wendung genommen, nur um auf einer Wiese voller Schafe zu enden.
»Eines hab ich mich seit damals oft gefragt«, sagte Malkin. »Was glauben Sie, hätten die Leute in Manchester wohl gesagt, wenn sie gewusst hätten, was da in ihrem Trinkwasser liegt?«
Endlich kam der erste Streifenwagen von Harrop den Feldweg mit den Schlaglöchern heraufgeholpert. George Malkin zog seinen Mantel über und ging mit Cooper dem Wagen entgegen.
»Diese Kanadierin... haben Sie ihr vertraut?«, fragte er.
»Natürlich. Ich wusste, dass ihre Informationen nicht ganz korrekt waren«, antwortete Cooper. »Frank Baine hat ihr nicht alles gesagt.«
»Das meine ich nicht. Sie wusste schon seit Dienstag, wie ihr Großvater gestorben ist. Sie ist hierher gekommen, um mich wegen der Medaille zu fragen, da hab ich es ihr erzählt.«
Cooper blieb wie angewurzelt stehen. »Die Medaille?«
»Ich hab sie in der Nacht, als die Maschine abgestürzt ist, im Moor aufgehoben. Sie hat in einer kleinen Ledertasche gesteckt, aber bei der ganzen Aufregung wegen dem Geld und dem Mann auf dem Eis hab ich erst viel später wieder daran gedacht. Ich hab gesehen, dass sogar der Name und die Adresse des Fliegers auf die Innenseite der Tasche gestickt waren.«
»Dann haben Sie ihr also die Medaille geschickt!«
»Ich hab sie zurückgeschickt, weil ich all das schon viel zu lange mit mir rumgeschleppt hab. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich wusste, dass Florence doch sterben muss. Ich wollte die Sache nicht mehr auf dem Gewissen haben. Aber ich hab keinen Absender auf den Brief geschrieben, sondern nur gesagt, dass ich einer der Jungs bin, die Danny McTeague damals gesehen haben, als er von dem Wrack weggelaufen ist.«
Cooper verzog das Gesicht, als er plötzlich wieder diesen vertrauten Geschmack im Mund hatte - einen bitteren, metallischen Geschmack, eine Bitterkeit, die ihm die Kehle zuschnürte. Alison Morrissey war in Hollow Shaw gewesen, nachdem er am Dienstag Malkins Namen erwähnt hatte, und von diesem Zeitpunkt an hatte sie alles gewusst. Und am nächsten Morgen hatte sie bereits im Flugzeug nach Toronto gesessen. War sie wirklich so aufrichtig gewesen, wie sie behauptet hatte? Hatte sie nur an ihre Obsession gedacht, sogar in dem Augenblick, als sie ihn vor dem Cavendish Hotel geküsst hatte? Alison Morrissey hatte ihm nicht gesagt, dass es ein Abschiedskuss war. Aber Diane Fry hatte zugesehen, und sie hatte es gewusst. Was Morrissey betraf, hatte sie die ganze Zeit über Recht gehabt.
»Ich hab all das nur für Florence getan, wissen Sie«, sagte Malkin. »Sie war der einzige echte Schatz, den ich im Leben hatte, nicht das Geld. Ich hab die Schuld so lange mit mir herumgetragen, dass ich daran gewöhnt war, niemandem zu trauen. Jemand könnte ja hinter mein Geheimnis kommen. Florence war der einzige Mensch, bei dem ich diese Bedenken nicht hatte. Ich hab ihr vertraut, ich hab sie geliebt, und ich hab alles für sie getan, was ich konnte.«
Ein Streifenpolizist öffnete die Tür des Einsatzwagens, und Malkin zog den Kopf ein, um in den Fond zu steigen. Doch zuvor wandte er sich noch einmal nach Cooper um.
»Es ist ganz wichtig, jemanden zu haben, dem man vertrauen kann«, erklärte er. »Auch wenn derjenige ab und zu einen Fehler macht, weiß man doch, dass er bei allem, was er tut, aufrichtig ist. Solche Menschen findet man nicht oft. Wenn Sie schlau sind, mein Junge, suchen Sie sich so jemanden und halten ihn so gut es geht fest.«
Cooper starrte Malkin wortlos an. Inzwischen fing es richtig zu regnen an. Cooper war froh, dass er den Himmel nicht sehen konnte, der hinter grauen Wolken verborgen lag. Froh, dass er die vorwurfsvollen Gesichter der Schafe nicht sah. Und ganz besonders froh war er, dass er die hoch aufragende Zunge aus schwarzem Stein nicht sehen konnte, mit ihrer reptilienartigen Biegung an der Spitze, ihren Graten und Felsspalten. Der Irontongue hatte zu viele Leben zerstört. Cooper hätte seinen ungerührten Hohn jetzt nicht ertragen.
»Noch was«, sagte Malkin. »Vielleicht möchten Sie das Messer hier haben.«
Er zog eine Klinge aus der Tasche und hielt sie Cooper hin. Sie war sehr scharf und voller Blutflecken.
»Keine Bange«, sagte Malkin. »Das ist nur Schafsblut. Mit dem Messer hab ich tote Lämmer abgezogen. Ziemlich eklige Arbeit, aber irgendeiner muss sie ja machen. Ich kann's nicht mit ansehen, wenn die Waisen ohne Mutter bleiben.«
Nachdem Malkin weggebracht worden war, blieb Cooper noch eine Weile stehen und lauschte dem Regen, der durch den Nebel auf das Torfmoor tröpfelte. Das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. Es war ein ganz und gar natürlicher Rhythmus, eine Versicherung, dass die Welt rings um ihn herum wie gewohnt weiterging, ganz egal, was in seinem eigenen Leben passierte. Die Feuchtigkeit kondensierte in der kühlen Luft, wie sie es immer schon getan hatte, und die Regentropfen prasselten auf den nassen Boden, wie sie es auch tun würden, selbst wenn er hier und jetzt aufhören würde zu existieren.
Letztlich bestand das Geheimnis, sein Leben zu leben, darin, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. In Augenblicken wie diesen kamen ihm alle seine Sorgen trivial vor. In Edendale warteten alle möglichen Probleme auf ihn. Er musste sich Aufgaben und Kränkungen stellen, komplexe Sachverhalte erklären und immer wieder enorme Anstrengungen unternehmen, um auch nur ein Mindestmaß an Versöhnung und Vergebung zu erlangen. Aber solange er hier im Moor stehen bleiben und dem Regen lauschen konnte, waren diese Probleme und Ängste so klein, dass sie leicht zu überwinden waren, so unbedeutend, dass sie einfach vom Regen davongespült wurden. Hier draußen war das Leben einfach und schmerzlos.
Cooper nickte. Dann stellte er den Kragen hoch und kehrte der Hollow Shaw Farm den Rücken zu. Als er zurück zu seinem Wagen ging, wurde das Tröpfeln des Regens auf dem Torfmoor hinter ihm immer leiser.
Das Zitat aus »Won't you let me take you on a sea cruise?«, einem Rock-'n'-Roll-Klassiker von Frankie Ford, wurde mit Erlaubnis von Sea Cruise Productions, Inc. verwendet.