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Frank Baine lehnte an der Wand des Postamts neben dem Einkaufszentrum von Buttercross. Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz in den Schnee, wo es kurz aufzischte, dann zog er kräftig an der Zigarette und hielt sie schützend in der gewölbten Hand, während er zusah, wie zwei Halbwüchsige ihre Fahrräder an das Fenster der Post lehnten und hineinstürzten.

Ein Sattelschlepper kam die Buxton Road herunter auf den Verkehrskreisel zu. Statt auf die Umgehungsstraße abzubiegen, hielt er direkt auf Buttercross zu. Baine stieß eine Lunge voll Rauch aus, und als der Fahrer stark abbremste und der Lkw ein paar Meter vor der Ampel zum Stehen kam, schaute Baine automatisch auf das Kennzeichen. Da der Laster die gesamte Fahrbahn blockierte, bildete sich rasch eine lange Autoschlange dahinter.

Auf der Beifahrerseite kletterte ein Mann aus dem Führerhaus, den Baine jedoch erst richtig sehen konnte, als der Sattelschlepper blinkte und ein Stück näher an die Ampel heranfuhr. Er erkannte George Malkin, der die Straße überquerte. Malkin sah ihn erst an, als er nur noch ein paar Schritte entfernt war.

»Frank Baine?«

»Der bin ich. Tolles Transportmittel.«

Malkin erwiderte nichts.

Baine lächelte und zog an seiner Zigarette. »Na schön«, sagte er. »Reden wir übers Geld.«

Die östlichen Ausläufer des Irontongue Hill waren ausgesprochen beliebt bei Moto-Cross-Fahrern – Motorradfreaks, die mit ihren Maschinen gern abseits der Straßen fuhren und ein bisschen den Schmutz spritzen ließen.

Erst am vergangenen Sonntag, bevor der Schnee kam, war es hier zu einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Wanderer und ein paar Cross-Fahrern gekommen. Seit einiger Zeit schon hatte es Beschwerden gegeben, dass die Motorradfahrer die Wege aufrissen und in Schlammrinnen verwandelten, die für Wanderer nicht mehr zu benutzen waren, wenn sie nicht bis zu den Knien im Matsch versinken wollten.

An diesem Morgen war eine Cross-Maschine von einem Anhänger gestohlen worden, der auf einem Bauernhof außerhalb von Edendale geparkt stand. Einem Streifenwagen fiel ein Motorradfahrer auf einem Parkplatz unweit des Waldes oberhalb des Gasthauses auf der A57 auf. Die Beamten hielten an, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Doch als er sie sah, brauste er davon. Die Polizisten nahmen sofort die Verfolgung auf. Sie fuhren einen Range Rover, wussten aber nur zu gut, dass sie sich keine allzu großen Hoffnungen machen durften, den Fahrer zu erwischen, wenn er die Straße verließ. Etwa hundert Meter weiter gab es ein offenes Tor, das zu einem von den Cross-Fahrern bevorzugten Weg führte.

Das Motorrad schlidderte durch die Einfahrt und pflügte durch eine Schneewehe, so dass eine weiße Fontäne gegen die Steinmauer klatschte. Der Range Rover kam ins Rutschen, als der Fahrer bremste, doch er behielt den Wagen unter Kontrolle und bog in die Zufahrt ab, um dem Motorradfahrer bergauf zu folgen.

Der Weg stieg steil an und wurde immer schmaler.

»Wir blasen die Sache besser ab«, sagte der Beifahrer.

»Nur noch um die nächste Kurve, von dort aus sehen wir, wohin er fährt«, sagte der Fahrer. »Wenn der Schnee dort tiefer wird, kriegt er sowieso Probleme.«

»Pass auf!«, rief der Beifahrer.

Die Kurve war zu eng für den Range Rover. Er geriet wieder ins Schleudern, aber diesmal bekam ihn der Fahrer nicht mehr unter Kontrolle. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab und rutschte ein paar Meter weiter in ein Bachbett, wo er mit Stoßstange und Vorderrädern im Wasser stehen blieb.

Der Fahrer stellte den Motor ab. »Verflucht noch mal!«, stieß er hervor.

»Die von der Werkstatt werden nicht begeistert sein«, sagte der Beifahrer. »Erst letzte Woche ist ein neuer Kühler eingebaut worden.«

»Ruf an«, sagte der Fahrer.

Er öffnete die Tür und trat in mehrere Zentimeter tiefes, eiskaltes Wasser. Das Bachbett war voller Steine, und er hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, als er versuchte gegen die Strömung ans Ufer zu gelangen. Er streckte eine Hand aus und griff nach einem Birkenschössling, der am Ufer wuchs, als er feststellte, dass er sich an etwas anderem festklammerte – an einem Kleidungsstück. Es war ein Hemd. Ein blaues Hemd mit feinen weißen Streifen und weißen Manschetten. Er betrachtete das Etikett auf der Krageninnenseite und sah, dass das Hemd von einem bekannten Hersteller stammte und keines der portugiesischen Billigteile war, die er selbst in den Schnäppchenläden von Edendale kaufte.

Der Fahrer sah auf und bemerkte erst jetzt, dass das Bachbett mit Kleidungsstücken übersät war. Auf den Steinen lagen Hemden und Hosen, Socken und Unterhosen, über die das Wasser hinweggurgelte. Ein blau-rot gestreifter Schlips baumelte an einem Büschel dürren Heidekrauts. Ein Schuh hatte sich mit Wasser gefüllt und war auf den Grund gesunken, wo seine Schnürsenkel wie Seetang hin und her wogten.

Plötzlich fiel dem Fahrer die Leiche des Unbekannten ein, die ganz in der Nähe gefunden worden war, der Mann, der von einem Schneepflug erwischt worden war. Bei der Leiche hatte man eine Reisetasche gefunden, die jedoch leer gewesen war.

»Hast du schon angerufen?«, rief er seinem Kollegen zu.

»Ja.«

»Dann ruf noch mal an.«

Ben Cooper hatte beschlossen, zu Fuß zur Dam Street zu gehen. Das Haus, in dem Marie Tennent gewohnt hatte, war kaum eine halbe Meile von der Dienststelle in der West Street entfernt, auf der anderen Seite der Stadt, in dem Gewirr von Gassen rings um die alte Seidenspinnerei. Es lohnte sich kaum, den Wagen zu nehmen, jedenfalls nicht, wenn die Straßen immer noch mit dahinkriechenden Fahrzeugen und Fußgängern verstopft waren, die ebenfalls auf der Fahrbahn herumschlitterten, weil die Gehwege noch nicht frei waren. Außerdem gab es rings um die Dam Street kaum Parkplätze, auch wenn kein Schnee lag. Die Häuser der Spinnereiarbeiter waren lange vor der Zeit gebaut worden, als die Leute Garagen oder Straßen brauchten, die breit genug waren, um Autos darauf abzustellen.

Die Spinnerei selbst war erst kürzlich in ein Heimatmuseum umgewandelt worden. Das alte, dreistöckige Steinhaus war immer mehr verfallen und ihm hatte jahrelang der Abriss gedroht, doch jetzt hatte man sogar ein neues Café und einen Laden angebaut. Cooper fragte sich, was um alles in der Welt die Architekten geritten haben mochte, den Anbau aus rotem Backstein zu errichten, wo die alte Spinnerei und sämtliche anderen Gebäude ringsherum aus Naturstein waren. Im Peak District wurde fast alles aus Naturstein gebaut, so dass der Backstein wie ein Fremdkörper wirkte.

An der Ecke Dam Street führte ein Mann einen Dobermann an einer kurzen Leine spazieren. Er musterte Cooper misstrauisch und fasste die Kette noch kürzer, als wollte er damit andeuten, dass der Hund bei der geringsten Provokation angriff.

Cooper wartete, bis der Mann vorbei war, ehe er weiter bis zu Marie Tennents Haus ging. Es war das letzte in einer Zeile von Reihenhäusern, besaß einen kleinen Vorgarten und einen Ausblick über den Mühlteich auf der Rückseite des Heimatmuseums. Es war durch eine hohe Steinmauer vom Nebenhaus getrennt, die jegliche Kommunikation zwischen den Nachbarn verhinderte. An diesem Ende der Straße schien es ganz besonders ruhig zu sein, wie zumindest der kleine, mit einer dünnen Eisschicht überzogene Teich vermuten ließ. Cooper betrachtete die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, an denen sämtliche Fenster und Türen mit Brettern vernagelt waren. Die Häuser warteten entweder auf ihre Renovierung oder auf den Abriss.

Zuerst klopfte er an die Nachbartür, bekam aber keine Antwort. Er hatte gerade beschlossen, es noch einmal zu probieren, nachdem er die Nummer 10 überprüft hatte, als hinter ihm eine Stimme ertönte.

»Ja?«

Es war der Mann mit dem Dobermann, der mit der Kette herumfuchtelte, als wollte er den Hund jeden Augenblick loslassen. Der Hund sah nicht besonders interessiert aus, aber Cooper wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen und stellte sich vor.

»Wohnen Sie hier, Sir?«

»Das will ich wohl meinen. Was wollen Sie?«

»Ich habe ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin Marie Tennent.«

»Dieses Mädchen aus Schottland?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich glaube, sie stammt aus Schottland.«

»Sie heißt mit Nachnamen Tennent.«

»Genau. Wie das Bier. Was hat sie denn angestellt? Platz!«

Mit einem erleichterten Schnaufen ließ sich der Dobermann nieder. Aus der Nähe machte der Hund einen völlig erschöpften Eindruck, als wäre er schon viel zu lange durch die Straßen getrabt. Genau genommen sah er aus wie manche Streifenpolizisten, wenn sie die Schicht getauscht und achtzehn Stunden ununterbrochen Dienst geschoben hatten.

»Sie hatte leider einen Unfall«, sagte Cooper.

»Typisch Bullensprache! Ihr könnt nie sagen, was ihr wirklich meint. Sie ist tot, stimmt’s?«

»Ja. Kannten Sie sie gut?«

»Praktisch überhaupt nicht. Sie hat ziemlich zurückgezogen gelebt.«

»Vielleicht hatte sie Angst vor Hunden.«

Der Mann schaute Cooper nach, als er zur Tür von Nummer 10 ging und sie mit dem Schlüssel aufschloss, den er von der Hausverwaltung bekommen hatte. Cooper drehte sich kurz um. Aus dem Maul des Dobermanns trieften lange Speichelfaden auf das Pflaster. Die Muskeln in seinen Schultern und Hinterläufen waren gespannt. Cooper war froh, dass die Tür gleich beim ersten Versuch aufging, so dass er das kalte Haus von Marie Tennent betreten konnte.

Das Erste, was er in der Diele sah, war das grüne Blinklicht eines Anrufbeantworters. Er drückte auf den Knopf und hörte eine schottisch klingende Stimme. Nicht aus dem Hochland, sondern eher städtisches Schottisch – vielleicht Glasgow oder Edinburgh, die beiden Dialekte konnte er nie genau auseinander halten. Es war eine Frau mittleren Alters, die weder ihren Namen noch eine Telefonnummer nannte.

»Marie, ruf mich an, wenn du wieder da bist. Sag mir, wie es vorangeht, damit ich mir keine Sorgen um dich machen muss.«

Auf einem Tisch stapelten sich Rechnungen, und am unteren Spiegelrand klebten gelbe Haftzettel. Hinter der Tür hing ein roter Mantel an einem Haken, unter dem Tisch stand ein Paar Schuhe, und auf dem Boden lag ein Postpaket mit Büchern, das aber noch nicht ausgepackt war.

Cooper blieb stehen und versuchte, die ersten Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Irgendetwas schien nicht zu passen. In einem offensichtlich leeren Haus fiel jedes unpassende Geräusch sofort auf. Aber er hatte kein Geräusch gehört. Er wandte prüfend den Kopf, schnüffelte nach Gas- oder Brandgeruch oder nach dem Gestank von Tod und Zersetzung. Aber er bemerkte nichts, was seine Alarmglocken normalerweise zum Schrillen gebracht hätte. Im Flur hing lediglich ein flüchtiger Duft, der sich ihm sofort wieder entzog, bevor er ihn einordnen konnte. Er war nicht sicher, aus welcher Richtung er kam. Möglicherweise war es ein Rest Raumspray oder ein Hauch kürzlich benutzten Desinfektionsmittels.

Es war kalt im Flur, aber nicht kälter als in jedem anderen Haus, das seit Tagen unbewohnt war. Vermutlich gab es in den Cottages keine Zentralheizung. Und wenn doch, dann war bestimmt eine Zeituhr eingestellt, um Gas zu sparen. In diesem Fall war jetzt eine Tageszeit, zu der Marie normalerweise nicht zu Hause war, was wiederum bedeuten könnte, dass sie einer geregelten Arbeit nachging.

Cooper blieb reglos stehen und lauschte. Irgendwo tickte eine Uhr. Eines der übelsten Geräusche, die es gab: das Ticken einer Uhr in einem leeren Haus, dessen Bewohner verstorben war. Es erinnerte einen daran, dass sich die Welt, wenn man tot war, einfach weiterdrehte, dass der Sekundenzeiger nicht einmal kurz innehielt, wenn man vom Leben zum Tod überwechselte. Das Geräusch löste stets eine Urangst aus – das Wissen, dass die Zeit unaufhaltsam verrann, dass deine Uhr bis zu deinem Tod unerschütterlich ablief.

Die Uhr eines Menschen sollte bei seinem Tod stehen bleiben. Cooper wusste, dass dieser Wunsch völlig irrational war und aus einem tiefen Aberglauben herrührte. Trotzdem wäre er am liebsten auf einen Küchenstuhl gestiegen und hätte die Batterie aus der Uhr genommen oder ihr Gegengewicht abgenommen, um die Zeiger zum Stillstand zu bringen. Er wollte sich in Gegenwart des Todes stummen Respekt ausbitten. Aber er tat es nicht. Stattdessen ließ er es zu, dass ihn das Ticken durch das ganze Haus verfolgte, von einem Zimmer zum anderen, dass es ihn verhöhnte wie das Kichern eines bösartigen Spielzeugs.

Die erste Tür, die vom Flur abging, führte ins Wohnzimmer. Cooper ging zum Kamin und betrachtete die Gegenstände auf dem Sims. Eine neuere Gasrechnung steckte hinter einer gesprungenen chinesischen Schale mit Weidenmotiv, daneben ein Kassenbon vom Supermarkt. Er wandte sich dem ausziehbaren Mahagoni-Esstisch in der Ecke zu, auf dem eine Glasvase mit einem Trockenblumenstrauß auf einer Bastmatte stand. Nirgendwo ein Abschiedsbrief.

In dem Zimmer stand außerdem ein mit Konto- und Kreditkartenauszügen, Briefen und alten Fotos übersäter Schreibtisch. Cooper suchte vorsichtig ein paar Briefe jüngeren Datums heraus, um Namen von Marie Tennents engeren Bekannten zu finden. Keine Adresse war aus der Gegend, keiner der Namen hörte sich an, als gehörte er zu einem Lebensgefährten. Einer hieß John und schien ein Verwandter zu sein, der an der Universität Glasgow studierte.

Dann sah er, dass auf einem ansonsten unbenutzten Rost hinter der Gasflamme Papier verbrannt worden war. Er ging in die Hocke, um es sich näher anzusehen, und stellte bereits erste Spekulationen an, warum Marie Tennent einen Abschiedsbrief geschrieben und dann verbrannt hatte … oder ob ihn jemand anders für sie verbrannt hatte. Doch aus der Nähe sah er, dass es sich keineswegs um einen Abschiedsbrief handelte. Der Brief besagte, dass Marie Tennent, wohnhaft in Edendale, Dam Street 10, zum ausgewählten Kreis der Gewinner von 250000 Pfund in bar gehöre. Sie wurde aufgefordert mitzuteilen, in welcher Form sie das Geld zu erhalten wünsche. Außerdem enthielt der Brief Vorschläge, wie sie es am besten anlegte: ein neues Auto, Urlaub in der Karibik, ein Traumhaus auf dem Land. Cooper stieß den Brief leicht an, worauf das geschwärzte Papier zerfiel. Wenn man ohnehin schon verzweifelt war, reichte der Zynismus derartigen Werbemülls womöglich aus, einem den Rest zu geben.

Cooper hob sämtliche Kissen auf dem Sofa und den beiden Sesseln hoch. Er fand drei Kugelschreiber, eine Hand voll Kleingeld und ein Quietschspielzeug für Hunde in Form eines Knochens. Besaß Marie einen Hund? Aber laut Hausverwaltung wohnte sie erst anderthalb Jahre hier. Der Hund hatte vielleicht einem früheren Mieter gehört. Cooper konnte nirgendwo Hundehaare entdecken, weder auf den Möbeln noch auf dem Teppich. An der Außenwand war ein kleiner feuchter Fleck auf der Tapete, der aber nach schlechter Instandhaltung aussah. Auch die Fenster waren schon seit geraumer Zeit nicht mehr geputzt worden. Die Aussicht auf die verrammelten Häuser gegenüber war trübe und verschmiert und mit kleinen Bröckchen schmutzigen Schnees und trockenen Streifen Vogelkot gesprenkelt.

Cooper ging in den Flur zurück und inspizierte den Schrank unter der Treppe, wo er den Thermostat für die Zentralheizung fand. Er war so eingestellt, dass die Heizung um neun Uhr morgens ausging und um drei Uhr nachmittags wieder ansprang. Umsichtigere Selbstmörder hätten in der Gewissheit, dass am Nachmittag niemand mehr da sein würde, der es warm haben wollte, die Zentralheizung ganz abgestellt, um nicht unnötig Gas zu verbrauchen. Anderen, den Impulsiveren oder Egozentrischeren, wäre so etwas niemals in den Sinn gekommen. Cooper wusste noch nicht genug über Marie Tennent, um sagen zu können, zu welchem Typ sie gehörte.

Als er auf die Küche zuging, erkannte er den Geruch schlagartig. Er war so eindeutig, dass er kaum glauben konnte, dass er nicht sofort geschaltet hatte: eine Mischung aus nassen Vliestüchern und schmutzigen Windeln, Plastikflaschen und Sterilisierungslösung, warmer Milch und Waschpulver. Es roch eindeutig nach Baby.