16
Die kleinen Knochen auf dem Tisch im Leichenschauhaus sahen bedauernswert aus. Dunkler Torf war auf dem Skelett festgetrocknet und vorsichtig in einen Indizienbeutel gefegt worden, als er abbröselte. Einige Knochen waren zerbrochen oder zermalmt worden, als Hauptfeldwebel Josh Mason den Flügel von Sugar Uncle Victor auf sie fallen gelassen hatte.
»Ohne den Schädel könnte man es wirklich für ein totes Lämmchen halten«, sagte Juliana Van Doon. »In diesem Alter sind sie noch kaum ausgebildet.«
»Wie alt war das Kind?«, wollte Diane Fry wissen.
»Hmm. Vielleicht zwei Wochen. Wir bitten einen forensischen Anthropologen, sich das Skelett genauer anzusehen. Die einzigen Verletzungen, die ich feststellen kann, sind eindeutig post mortem.«
»Diese dämlichen Fliegerkadetten.«
»Ihnen kann man wohl keinen Vorwurf machen.« Die Gerichtsmedizinerin benutzte ein kleines Metallinstrument, um ein lebendiges Insekt, das sich zum Überwintern im Kiefergelenk eingenistet hatte, zu entfernen und in eine andere Tüte zu stecken. »Ich weiß aus der Zeitung, dass Sie nach einem kleinen Kind gesucht haben. ›Hat jemand die kleine Chloe gesehen?‹«
»Stimmt«, sagte Fry.
»Also, das Geschlecht dieses Kindes hier kann ich nicht bestimmen. Aber eins kann ich mit Sicherheit sagen – es ist nicht Chloe. Dieses Baby ist schon viele Jahre tot.«
Fry nickte und betrachtete die Plastiktüten mit dem rosafarbenen Häubchen und dem weißen Strickjäckchen, die bei dem Baby gefunden worden waren.
»Allerdings«, fuhr sie fort, »sind die Sachen, die es anhatte, funkelnagelneu.«
Am Freitagmorgen hatte DC Gavin Murfin in den Datenbanken der Vermisstenstellen immer noch keinen passenden Datensatz für den Schneemann gefunden. Er war drauf und dran aufzugeben. Auf der Liste fanden sich die üblichen vermissten Ehemänner und Söhne. Es gab Männer mittleren Alters, die der Midlifecrisis erlegen waren und ihre langweiligen Ehefrauen verlassen hatten, und es gab die Teenager, die schon früh in die Midlifecrisis gestürzt waren und sich von der wirklichen Welt verabschiedet hatten. Dazu jede Menge andere Verschwundene und Vermisste.
Leider schien keiner von ihnen der Besitzer des teuren Anzuges und der teuren Schuhe zu sein. Am merkwürdigsten war, dass eine Haus-zu-Haus-Befragung am Woodland Crescent ergeben hatte, dass der Mann, den Grace Lukasz beschrieben hatte, nur bei ihr und bei niemandem sonst geklingelt hatte.
»Wir müssen Mrs Lukasz herbringen, damit sie eine offizielle Aussage macht«, sagte Diane Fry, als sie von der Unterredung mit ihren Vorgesetzten zurückkam. »Es muss irgendwo einen Hinweis geben, wer dieser Mann war und was er am Woodland Crescent gewollt hat.«
Die Nachforschungen im Schneemann-Fall und die Suche nach Eddie Kemps Kumpels bei dem tätlichen Angriff nahmen so gut wie alle zur Verfügung stehenden Kräfte der Division E in Anspruch. Dabei hatte das vermisste Baby im Grunde oberste Priorität. Unterdessen stapelten sich ungelöste Fälle und ergebnislose Ermittlungen auf den Schreibtischen, und die Staatsanwaltschaft machte ihnen wegen der verspäteten Weitergabe gerichtswichtiger Akten die Hölle heiß.
Ben Cooper war an diesem Morgen mit weiteren Ermittlungen im Fall Schneemann beschäftigt. Er musste etliche Adressen in Edendale aufsuchen und zum Snake Inn hinausfahren, um sich noch einmal mit dem Personal dort zu unterhalten.
»Übrigens glaube ich, dass Eddie Kemp noch einmal zur Vernehmung herbestellt wird«, sagte Fry.
»Hat die Spurensicherung etwas in seinem Wagen gefunden?«, fragte Cooper.
»Noch nichts Eindeutiges. Aber wir müssen unbedingt jemanden vernehmen. Ich weiß nicht genau, wer das zu entscheiden hat. Vielleicht Mr Tailby, vielleicht auch Mr Kessen, wo wir gerade von zu vielen Häuptlingen und zu wenig Indianern reden.«
»Kriegen wir denn nun Unterstützung oder nicht?«
»Das kann ich nur hoffen. Aber wenn es darum geht, wer das organisiert …«
»Hab schon verstanden.«
Fry sah zu, wie Cooper in seinen Akten wühlte. »Hast du schon eine Wohnung gefunden, Ben?«
»Ehrlich gesagt, ja. Ich habe mir gestern Abend eine angeschaut. Eine Mietwohnung in der Welbeck Street, ziemlich zentral gelegen. Sie gehört Lawrence Daleys Tante.«
»Wessen Tante?«
»Der Tante von Lawrence Daley, dem Inhaber von Eden Valley Books. Du weißt schon, dort, wo Marie Tennent ihre Bücher gekauft hat.«
»Ach ja, dann hast du also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, als du dort warst?«
»Eigentlich nicht.«
»Jetzt fallt es mir wieder ein … du hast auch gleich ein paar Bücher gekauft.«
»Das hat keine zwei Minuten gedauert.«
»Die kannst du bei deinen Befragungen gleich wieder hereinholen, wir haben nämlich alle Hände voll zu tun.«
»Dir ist aber klar, dass der Bericht über Marie Tennent noch aussteht?«, fragte er.
»Mrs Van Doon ist bis jetzt noch nicht dazu gekommen, also dauert es noch ein paar Tage, bis wir ihren Untersuchungsbericht bekommen. Alles eine Frage der Priorität. Wir müssen mit dem Schneemann weiterkommen und endlich herausfinden, wer er ist. Die tote Frau kann warten.«
»Dann war das mit den Überresten also falscher Alarm? Es war nicht Chloe?«
»Nein. Das Kind, das gefunden wurde, war schon lange tot.«
»Armes Würmchen. Was glaubst du, was da los war? Eine ungewollte Schwangerschaft? Eine Mutter im Teenager-Alter?«
»Von wegen Teenager, heutzutage kriegen schon Zehnjährige Babys.«
»Aber die Kleidung …«
»Dazu kann uns bestimmt die Spurensicherung mehr sagen«, erwiderte Fry. »Aber die Kleidungsstücke waren ganz neu. Wir haben es gestern Abend bekannt gegeben, und seitdem werden wir mit Anrufen über vermisste Babys überschüttet.«
»Aber vermutlich hat sich niemand gemeldet, der sich um Chloe kümmert?«
»Nein.«
»Wenn sich herausstellt, dass die Kleider Maries Baby gehört haben …«
»Wir sind immer noch sehr besorgt wegen Chloe. Gestern Abend haben wir Streifenbeamte sämtliche Nachbarn aufsuchen lassen. Niemand weiß etwas über das Baby. Heute wird Maries Haus noch einmal durchsucht, nur für alle Fälle, und heute Vormittag kommt Maries Mutter. Sie wohnt in Falkirk und sagt, sie hätte ihre Tochter kurz nach Chloes Geburt zum letzten Mal gesehen. Marie wollte sie im Frühling in Schottland besuchen, aber seither haben sie nur telefoniert, sagt die Mutter. Vielleicht kriegen wir noch ein bisschen mehr aus ihr heraus, wenn sie erst mal da ist.«
»Marie hat also tatsächlich ein Baby gehabt?«
»Was dachtest du denn?«
»Hätte ja sein können, dass sie sich nur um ein fremdes Baby gekümmert hat, das einer Freundin oder so. Sie hätte als illegale Tagesmutter arbeiten können. Sie hätte eine von diesen Frauen sein können, die sich so sehr ein Baby wünschen, dass sie ein fremdes Kind stehlen. Es gibt viele Möglichkeiten.«
»Nicht, wenn wir der Großmama glauben. Aber wie auch immer, Ben, wenn du weniger Zeit in Buchläden und mehr Zeit über deinen Akten verbringen würdest, wüsstest du, dass Maries Hausarzt diesbezüglich jeden Zweifel ausgeräumt hat.«
Aber Cooper hatte eigentlich gar nichts bezweifelt. Der Eindruck, den er in Marie Tennents Haus gewonnen hatte, war ziemlich eindeutig gewesen. Marie war Mutter gewesen, und ihr Baby befand sich irgendwo, wo sie bis jetzt noch nicht danach gesucht hatten.
»Wie sieht’s mit dem Garten aus?«, fragte er.
Fry seufzte. Trotz allem wusste Cooper, dass sie dasselbe dachte wie er.
»Unsere Leute haben Spaten dabei«, sagte sie.
Nachdem sie ihre Tochter in der Leichenhalle des Krankenhauses identifiziert hatte, wurde Mrs Lorna Tennent wieder in die West Street gebracht. Man kochte ihr einen Tee und setzte sie in ein Vernehmungszimmer. Sie weinte eine Weile, bis ihre Augen rot und geschwollen waren, dann begann sie von ihrer Tochter und dem Baby, der kleinen Chloe, zu erzählen.
»Natürlich bin ich nach der Geburt zu ihr gefahren«, sagte sie. »Ich bin eine Woche geblieben, aber dann musste ich wieder zur Arbeit nach Falkirk.«
»Was für einen Eindruck hatten Sie von Ihrer Tochter?«, fragte Fry. »War sie Ihrer Meinung nach in der Lage, mit einem Säugling umzugehen?«
»Sie kümmerte sich fast nur noch um Chloe. Aber Marie war nicht besonders praktisch veranlagt. Ich wollte, dass sie mit mir zurück nach Schottland geht, damit ich ihr helfen und mich ein bisschen um das kleine Ding kümmern konnte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte allein mit ihrem Baby sein, wollte nicht, dass ich ihr im Weg stehe. Sie hätte fast nicht einmal das Jäckchen angenommen, das ich gestrickt habe.«
»Ein Jäckchen? Welche Farbe hat es?«
»Weiß.«
»Würden Sie es wieder erkennen?«
»Selbstverständlich. Haben Sie denn eins gefunden?«
»Möglicherweise.«
Mrs Tennent nickte traurig. »Marie wollte nicht, dass Chloe das Jäckchen trug. Sie fand, ich würde mich zu sehr einmischen. Sie haben Recht, sie war dieser ganzen Sache nicht unbedingt gewachsen, aber sie wollte sich auch nicht helfen lassen. Natürlich ist es beim ersten Kind immer ein bisschen schwierig.«
Fry wartete einen Augenblick. »Aber … Mrs Tennent … Chloe war nicht Maries erstes Baby, oder?«
Die Frau starrte sie an, ehe ihr wieder die Tränen kamen, als sie begriff, was Fry gesagt hatte. »Ich habe mich immer gewundert«, sagte sie. »Marie hat mir nichts erzählt, aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Sie fand immer wieder neue Gründe, weshalb sie mich monatelang nicht besuchen kam, und als wir uns dann endlich wieder gesehen haben, sah sie ganz elend aus.«
»Wann war das?«
»Vor über zwei Jahren. Sie ist hierher gezogen, weil ihr die Gegend so gut gefallen hat. Als sie jünger war, sind wir jedes Jahr einmal nach Edendale gefahren.« Mrs Tennent unterbrach sich. »Ich nehme an, sie hatte eine Abtreibung. Sie hätte es mir nie gesagt, weil wir Katholiken sind, verstehen Sie? Marie ist katholisch erzogen.«
»Wir glauben nicht, dass Marie eine Abtreibung hatte«, erklärte Fry. »Sie hat schon einmal ein Kind geboren.«
»Aber …«
Fry zeigte ihr einen Ausschnitt aus der Morgenzeitung. »Wir glauben, dass das hier Maries erstes Baby gewesen sein könnte. Dort haben wir auch das Jäckchen gefunden, das ich Ihnen gleich zeige.«
Mrs Tennent las sich den Artikel zweimal durch. »Wissen Sie, woran das Baby gestorben ist?«
»Noch nicht. Möglicherweise werden wir es auch nie erfahren.«
»Marie hat mir erzählt, sie hätte eine neue Stelle in einer Boutique und sei zu beschäftigt, um zu mir zu kommen oder um Besuch zu empfangen.« Mrs Tennent seufzte. »Ich hätte meinem Gefühl folgen sollen, dann hätte ich vielleicht helfen können. Vermutlich hat niemand gewusst, dass sie ein Baby bekommen hatte.«
»Es sieht leider ganz danach aus.«
Aber ebenso wie Fry dachte auch Mrs Tennent weiter. »Arme kleine Chloe«, sagte sie. »Wie schrecklich, wenn man sich überlegt, was ihr womöglich zugestoßen ist. Aber Marie hätte ihr nie absichtlich etwas getan. Das weiß ich ganz genau.«
»Ihr Arzt sagt, sie hätte sich schon vor der Geburt ziemlich vor dem Leben mit dem Kind gefürchtet.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber das ist nicht dasselbe wie seinem Kind absichtlich etwas anzutun. Ich dachte, dass sie vielleicht besser zurechtkommt, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hat, falls man ihn überhaupt als Freund bezeichnen kann. Er war natürlich verheiratet. Nach ein paar Monaten ist er zu seiner Frau zurückgegangen, aber davor hat er unsere Marie noch geschlagen. Was Männer betrifft, hat sie schon immer danebengegriffen.«
Fry beugte sich gespannt vor. »Wer war dieser Freund?«
Im ersten Augenblick sah Mrs Tennent aus, als wollte sie gleich wieder losweinen, doch dann verfinsterte sich ihre Miene.
»Ich habe ihr immer wieder in den Ohren gelegen, dass sie bestimmt einen besseren Mann findet als diesen Kerl. Marie meinte, er hätte immerhin ein eigenes Geschäft. Dabei war er bloß Fensterputzer.«
Die Zahl der zu Befragenden stieg ständig, ohne dass das Personal aufgestockt wurde, das dafür erforderlich war, obwohl eine Hand voll Beamter aus anderen Bezirken nach Edendale abbestellt worden waren. Ben Cooper war mit einer Mappe voller Formulare ergebnislos von Tür zu Tür gegangen, ehe er bemerkte, dass er höchstens einen Kilometer von Underbank entfernt war. Er fragte sich, ob Eddie Kemp seinen Wagen bereits wiederhatte, und arbeitete sich bis zu Kemps Straße vor, wo er feststellte, dass der Isuzu nicht auf der Betonrampe stand.
Cooper war seinem Zeitplan inzwischen fast eine halbe Stunde voraus. Als Nächstes stand der Snake Inn auf seiner Liste, wo er die Aussagen der Angestellten aufnehmen und ihr Gedächtnis hinsichtlich der Fahrzeuge auffrischen sollte, die am Montagabend nach Schließung des Passes an der Gaststätte vorbeigefahren waren. Eine halbe Stunde auf ein Bier in einem gemütlichen Pub hörte sich verlockend an. In diesem Moment klingelte sein Handy. Es war Diane Fry.
»Ben … ich weiß, du hast zu tun, aber ich möchte, dass du dich in einer halben Stunde mit mir vor Eddie Kemps Haus in der Beeley Street triffst.«
»In einer halben Stunde?«
»Schaffst du das?«
»Klar, aber …«
»Marie Tennents Mutter war gerade hier«, erklärte sie. »Rate mal, wer Maries Freund war, bevor er wieder zu seiner Ehefrau zurückgegangen ist.«
»Doch nicht etwa Eddie?«
»Genau der. Marie muss wirklich ziemlich verzweifelt gewesen sein.«
»Vielleicht hat er verborgene Qualitäten?«
»Ja, wahrscheinlich stand sie auf seinen großen Dödel.«
»Meinst du, das Baby ist bei ihm? Hoffentlich.«
»Na ja, er entspricht nicht gerade meiner Vorstellung von einem idealen Vater.«
»Das nicht«, stimmte ihr Cooper zu. »Aber er ist besser als manche andere Alternative.« Er sah auf das Straßenschild. Eddies Haus befand sich um die Ecke. »In einer halben Stunde, Diane?«
»Ich muss mein Gesicht vorher in einer Besprechung zeigen, deshalb geht es nicht früher. Schaffst du das?«
»Überhaupt kein Problem.«
Nach diesem Telefonat schlug Cooper eine Adresse in seinem Notizbuch nach und wendete den Wagen. Der ehemalige Bergrettungsmann Walter Rowland wohnte nur ein paar Straßen weiter, in einer Straße, deren Häuser wie Vogelnester hoch über Buttercross am Hang klebten.
Rowlands Haustür war einer von zwei schmalen Eingängen, die sich ein hölzernes Vordach mit geschnitztem Blumenmuster teilten. Vor den beiden Cottages stand ein steinerner Aufsteigblock aus einer der früheren Kutschstationen der Stadt zwischen den Resten einiger vom Frost geschwärzter Petunien. Am Ende der Häuserzeile erhob sich ein modernes Gotteshaus, und ein Stück weiter, an der Ecke zur Harrington Street, stand noch eine Kirche, die Cooper nicht kannte.
Die Fenster im ersten Stock von Rowlands Häuschen waren winzig und so schmuddelig und dunkel, dass offensichtlich weder Eddie Kemp noch einer seiner Fensterputzerkollegen in der letzten Zeit mit ihren Leitern und Fensterledern hier zugange gewesen waren. Aus den Rahmen bröckelte der Kitt, und die Fensterstürze waren überall dort reichlich mitgenommen, wo das Wetter große Stücke des weichen, goldfarbenen Sandsteins herausgenagt hatte. Von außen machte das Haus den Eindruck, als sei lediglich das Erdgeschoss bewohnt. Die unteren Fenster waren mit billigem Messingtrödel voll gestopft, und vor den Gardinen standen Topfpflanzen und Porzellanfigürchen. Diese Gegenstände dienten traditionell als Barrikaden gegen die neugierigen Blicke der Touristen, die sich im Sommer durch die Straße schoben, ohne Respekt vor dem Privatleben der Einheimischen zu zeigen, die hier das ganze Jahr über wohnten.
Walter Rowland war Mitte siebzig und sah aus wie jemand, der sein Leben lang mit den Händen gearbeitet hat, jetzt aber nicht mehr dazu fähig war. In seinen verkrümmten Fingern zuckten ab und zu die Sehnen, die so deutlich unter der Haut zu sehen waren, dass sie wie Fäden einer Marionette wirkten. Ben Cooper bemerkte, dass ihn dieses Zucken von Rowlands Gesicht und dem Klang seiner Stimme ablenkte.
»Kommen Sie doch rein«, forderte Rowland ihn auf. »Ich weiß zwar nicht, was Sie wollen, aber ich kriege nur selten Besuch.«
Das Cottage war ein traditionelles Reihenhaus, zwei Zimmer unten, zwei oben, alles sauber und ordentlich. Das Erdgeschoss bestand aus einem kombinierten Wohn- und Esszimmer, das zur Straße hinausging, sowie einer Küche im rückwärtigen Teil. Rowland führte Cooper durch das vordere Zimmer, das von einem Kiefernholztisch und einem schmiedeeisernen schwarzen Kamin mit Gasfeuer dominiert wurde, das den Raum immerhin mit ausreichend Wärme erfüllte, um die Kälte draußen vergessen zu lassen.
In der Küche sah Cooper eine offene Hintertür, die nicht nach draußen, sondern in eine kleine, an das Haus angebaute Werkstatt führte. Er erspähte eine Werkbank mit einem metallisch glänzenden Schraubstock und ordentlich an der Wand aufgehängten Werkzeugen. Auf dem Boden lagen Holzspäne, auf einem Tisch mehrere halb fertige Gegenstände.
Rowland schloss umständlich die Werkstatttür, wobei er nicht die Hände benutzte, sondern sich mit Ellbogen und Schulter dagegenlehnte. Dann schaltete er, ohne sich zuvor zu erkundigen, ob sein Besucher einen Tee wollte, den elektrischen Wasserkocher an, der unmittelbar neben der Spüle unter dem rückwärtigen Fenster stand. Cooper fiel auf, dass die Haut des alten Mannes so durchscheinend war wie seine Hände. Man konnte die Adern in seinen Schläfen sehen, und das Licht vom Fenster schimmerte durch die Spitzen seiner Ohren.
»Natürlich erinnere ich mich an die abgestürzte Lancaster«, sagte Rowland. »Ich erinnere mich an alle Abstürze, zu denen ich gerufen wurde, an jede einzelne Leiche und an jeden verletzten Flieger, den ich mit meinen Kameraden ins Tal getragen habe. So was vergisst man nicht. Und die Lancaster war am allerschlimmsten.«
»Erinnern Sie sich auch noch an die Aufregung um den kanadischen Piloten, der nie gefunden wurde?«
»Der ist abgehauen«, sagte Rowland. »McTeague, der Pilot. Mord war das, glatter Mord. Der Mann hat vier von seinen Leuten tot liegen lassen und einen, der im Sterben lag, und ist einfach abgehauen. Er hat sich keinen Pfifferling um seine Besatzung geschert.«
»Vielleicht stand er unter Schock. In solchen Situationen sind die Leute oft unberechenbar. Womöglich wusste er nicht einmal, wo er überhaupt war oder was passiert ist.«
Rowland schnaubte verächtlich. »Eins sag ich Ihnen: Wir hatten manchmal Männer, die sind im Lazarett aufgewacht und wussten nicht, warum sie dort waren, und an den Absturz haben sie sich schon gar nicht erinnert. Doch, so was gibt’s. Aber das hier war anders.«
»Und wieso?«
Rowland ging zurück ins Vorderzimmer und setzte sich an den Tisch. Cooper folgte ihm und zuckte unwillkürlich zusammen, als er sah, welche Schmerzen dem alten Mann das Gehen bereitete.
»Er muss inzwischen gestorben sein«, sagte Rowland.
»Das weiß ich nicht.«
»Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden. Ich würd’s auch nicht wollen, dass die Leute schlecht über mich reden, wenn ich mal tot bin. Das wird nicht mehr lange dauern, deshalb denke ich wohl immer öfter dran.«
»Außer McTeague gab es bei dem Absturz nur einen einzigen anderen Überlebenden«, sagte Cooper.
»Und hat der was gesagt?«
»Nein.«
»Reine Loyalität. Der Käpt’n macht nichts falsch. So war das damals.«
Cooper nickte. »Da haben Sie Recht. So war das damals.«
»Ich dachte immer, sie finden ihn bald«, meinte Rowland. »Aber angeblich hat er es bis runter zur Straße geschafft, und von dort ist er dann per Anhalter weitergefahren. Hat seine Fliegerausrüstung weggeworfen und ist abgehauen.«
»Ein Lastwagenfahrer hat damals ausgesagt, er habe ein paar Stunden später auf der A6 einen Soldaten bis nach Derbyshire mitgenommen«, sagte Cooper. »Der Mann habe während der Fahrt kaum gesprochen, meinte er. Falls es McTeague war, gibt es keine plausible Erklärung dafür, wie er es von Harrop bis zur A6 geschafft haben soll.«
»Die Leute hier haben ständig Soldaten mitgenommen«, sagte Rowland. »So sind die Jungs immer nach Hause gekommen, wenn sie mal frei hatten, und auch wieder zurück zu ihren Stützpunkten. Alle haben das gemacht. Und niemand wäre auf die Idee gekommen, irgendwelche Fragen zu stellen.«
»Schon klar. Der Lastwagenfahrer hat später, als er von seiner Tour zurückkam, auch nur von dem vermissten Flieger gehört, weil er hier aus der Gegend stammte. Aber McTeague war ein Deserteur. Man hätte ihn suchen lassen.«
»Ein Deserteur? Vielleicht. Aber einer von Hunderten«, sagte Rowland. »Die Jungs haben sich pausenlos ohne Erlaubnis von der Truppe entfernt, aber das wurde nicht an die große Glocke gehängt. Schlecht für die Moral, wissen Sie. Man konnte doch nicht zulassen, dass die Öffentlichkeit dachte, unsere mutigen Jungs hätten die Hosen voll.«
»Damals waren ganz andere Zeiten, was?«, sagte Cooper. »Ein fremdes Land.«
Rowland nickte, wohl wissend, was Cooper damit andeuten wollte. »Das ist die Vergangenheit immer, sogar wenn man selber dabei war.«
Cooper schwieg eine Weile und wartete, bis der alte Mann weitere Erinnerungen zutage gefördert hatte. Er wusste, wie es mit lange zurückliegenden Erinnerungen war. Sie glichen einem gewaltigen Meer, das mit der Flut herantoste, dann aber die Küste kaum berührte und wieder zurückwich, so dass nur eine schmale feuchte Spur am Strand zurückblieb.
»McTeague«, wiederholte Rowland gedankenverloren. »Er hat seinen Leuten versprochen, Hilfe zu holen, aber er hat nur seine eigene Haut gerettet. Wäre er als Einziger gestorben und die anderen hätten überlebt, wäre das gerecht gewesen. Für das, was er getan hat, gibt es keine Entschuldigung. Absolut keine. Ich hoffe nur, dass ihn der Gedanke an die vier Toten sein Leben lang verfolgt hat.«
»Vielleicht war es ja so.«
Cooper unterdrückte ein Grinsen. Es hatte nicht viel gebraucht, um den alten Mann dazu zu bringen, seine eigene Regel zu brechen, nicht schlecht von den Toten zu reden.
»Zwei von der Besatzung waren doch Polen?«, sagte Rowland.
»Stimmt.«
»Mutige Burschen waren das. Haben zwar immer zusammengehockt, aber auch gut gekämpft. Die haben die Deutschen aus tiefstem Herzen gehasst. Aber die Russen haben sie auch gehasst. Überhaupt konnten die gut hassen, die polnischen Jungs. Hatten ihre Überzeugungen, und dabei blieben sie auch, da hätte man sich auf den Kopf stellen können. Und man hat nie gehört, dass einer von denen desertiert ist.«
»Sie haben für ein Ziel gekämpft, das sie ganz persönlich anging – sie wollten wieder in ihre Heimat und zurück zu ihren Familien. Wahrscheinlich weiß man in einer solchen Situation eher, warum man kämpft.«
»Aber sie sind nicht wieder in ihre Heimat zurückgegangen, jedenfalls nicht alle«, widersprach Rowland. »Viele sind hier geblieben. Wegen der Russen. Die Polen wollten kein kommunistisches Polen.«
»Und weil sie englische Mädchen geheiratet und hier eine neue Heimat gefunden haben.«
»Ja, das stimmt auch wieder, und das kann man ihnen nicht mal verdenken. Ich weiß noch, dass unsere Mädels ganz wild auf sie waren. Sie hatten so was … irgendwie waren sie geheimnisvoll und romantisch, das auch. Na ja, so was mögen die Mädchen ja.«
»Vermutlich haben die britischen Soldaten ihnen das manchmal ein bisschen übel genommen.«
»Kann sein. Aber die Polen waren immer noch besser als die elenden Yankees. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich jederzeit für ‘n Polen entscheiden. Auf alle Fälle war ich froh, dass sie auf unserer Seite waren. Die hätte ich nicht gern als Feinde.«
»Nein«, bestätigte Cooper. »Sie vergessen wohl nicht so schnell, was man ihnen angetan hat.«
Rowland sah schweigend an ihm vorbei. Die Hände des alten Mannes krochen langsam auf dem Tisch aufeinander zu, als könnten sie einander durch die Berührung Erleichterung verschaffen. Cooper hörte den Wasserkocher in der Küche brodeln und dann das Klicken, als er sich abschaltete. Rowland rührte sich nicht.
»Sie wissen überhaupt nichts da drüber«, sagte er. »Sie sind nicht dabei gewesen, so wie ich. Sie mussten die Fetzen nicht aufsammeln. Und davon lagen jede Menge herum. Dieser Pole … Zygmunt hieß er. Den konnten wir noch retten, aber sein Cousin … der ist gestorben.«
»Klemens Wach«, sagte Cooper.
»Genau. Haben Sie mit dem alten Zygmunt gesprochen?«
»Noch nicht.«
»Der wird Ihnen auch nicht viel sagen. Der nicht. Er wird Ihnen nicht erzählen, dass er damals, als wir ihn gefunden haben, seinen Cousin im Arm gehalten hat wie eine Mutter ihr Baby. Er wird Ihnen nicht sagen, dass der Arm seines Cousins an der Schulter abgetrennt war und dass Zygmunt ihn die ganze Zeit fest an den Körper gedrückt hat, und überall sprudelte das Blut in den Schnee. Sein Fliegeranzug war schon ganz durchtränkt. Zuerst haben wir gedacht, wir hätten zwei Tote gefunden, aber er lebte noch, grade eben so. Der Großteil von dem Blut stammte von seinem Cousin. Vielleicht glauben Sie jetzt, ich würde schlecht von McTeague denken. Aber stellen Sie sich nur mal vor, wie es erst dem alten Zygmunt gehen muss. Angeblich hat er all die Jahre nie darüber gesprochen. So was frisst einen Menschen auf. Er hat nicht vergessen, und er hat nicht verziehen. Glauben Sie mir, er hatte nur einen Wunsch im Leben – Mc-Teague zu finden. Das ist doch logisch. Mir wär’s genauso gegangen.«
Cooper nickte. »Ist außer mir noch jemand hier gewesen, um mit Ihnen darüber zu reden, Mr Rowland?«
»Wer denn?«
»Eine Frau aus Kanada namens Alison Morrissey vielleicht.«
»Ach, die?«
»War sie hier?«
»Nein, aber ein Kerl namens Baine. Ein Journalist. Er ist hier gewesen und hat was von einer Kanadierin erwähnt. Er hat gemeint, sie ist eine Verwandte von Fliegerleutnant McTeague.«
»Sie ist seine Enkelin.«
»Ich weiß nicht, was er sich davon verspricht, wenn sie sich mit mir unterhält«, sagte Rowland. »Ich kann ihr nicht mehr erzählen als Ihnen. Und ich glaube kaum, dass es das ist, was sie hören will.«
»Nein, das glaube ich auch nicht.«
»Na also. Ich werde die Frau nicht anlügen. Warum ist sie überhaupt hergekommen? Was ich ihr zu sagen habe, wird ihr nicht gefallen. Das habe ich Baine auch schon gesagt. Und wissen Sie, was er geantwortet hat?«
»Keine Ahnung.«
»Er sagte, vielleicht sei meine Erinnerung getrübt. Keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Meint er damit, ich soll lügen?«
»Sie können sich nur an das erinnern, was Sie gesehen und gehört haben«, sagte Cooper.
Rowland blickte ihn an, während sich sein Mund reflexartig unter den vertrauten Schmerzen verzog.
»Meinen Sie, ich soll mit ihr reden?«, sagte er. »Sind Sie deshalb gekommen?«
»Das ist ausschließlich Ihre Entscheidung«, sagte Cooper. »Es geht mich absolut nichts an.«
»Ach nein?«
Rowland versuchte seine Hände in den Schoß zu legen, schien jedoch keine bequeme Haltung zu finden. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, als wollte er Cooper auf diese Weise wissen lassen, dass es allmählich Zeit wurde zu gehen.
»Nach dem Absturz müssen eine Menge Leute dort oben gewesen sein«, sagte Cooper. »Die Leute von der Bergrettung, die Polizei, eine Untersuchungskommission von der RAF …«
»Ja, die waren alle da. Und die Home Guard«, sagte Rowland. »Erinnern Sie sich an die Home Guard?«
»So weit kann ich mich nicht zurückerinnern, Mr Rowland.«
»Ach ja, dazu sind Sie wohl zu jung. Wie die meisten Leute heutzutage. Die Home Guard, das waren die Burschen, die zu alt oder nicht gesund genug fürs Militär waren. Einige davon waren auch berufsbedingt zurückgestellt: Bauern, Bergarbeiter und so. Die Jungs von der Home Guard hätten auf das Wrack aufpassen sollen, haben es aber damit nicht allzu genau genommen.«
»Könnte von denen noch jemand am Leben sein?«
»Niemals, schon längst nicht mehr. All das ist siebenundfünfzig Jahre her, verstehen Sie? Von uns ist kaum noch jemand übrig, nur solche wie ich, die damals noch ganz junge Männer waren. Die anderen betrachten sich die Radieschen längst von unten. Nur ich erinnere mich noch an den Absturz, ich und der Pole, Zygmunt. Und George Malkin.«
»Kennen Sie Malkin?«
»Aber ja, ich erinnere mich an die Malkin-Jungs. Die waren damals noch Kinder. Wohnten auf einem Hof drüben beim Blackbrook-Reservoir, gleich auf der anderen Seite vom Heidemoor. Ich weiß noch, dass sie immer oben am Irontongue Hill herumgestromert sind. Wir mussten sie ein- oder zweimal vom Wrack wegjagen. Am Ende ist dann ihr Vater gekommen und hat sie mit nach Hause genommen. Das waren zwei neugierige Bürschchen, einer wie der andere, und ständig auf Abenteuer aus.«
»Für ein Kind muss ein abgestürztes Flugzeug ein ziemliches Abenteuer gewesen sein.«
»Ja, ja, die Malkin-Jungs«, sagte Rowland, »die haben sich überall rumgetrieben. Ihr Vater hat ihnen beigebracht, allein klarzukommen. So was lernen die Kinder heutzutage nicht mehr – Selbstständigkeit.« Rowland schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich fragen, versauen die gerade eine ganze Generation.«
Coopers Fragen schienen Rowlands Erinnerung wieder geweckt zu haben. Er starrte ins Leere – der Blick eines Mannes, der sich an eine Zeit erinnerte, in der ihn sein Land noch gebraucht und nicht achtlos beiseite geschoben hatte.
»Diese Polen«, fuhr er fort. »Wissen Sie, wie die Großbritannien immer genannt haben? Ich meine die Polen, die von Frankreich rübergekommen sind, um hier weiterzukämpfen, als dort die Deutschen einmarschiert waren?«
Cooper schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Sie wussten, dass es nach Großbritannien keinen Ort mehr gab, wo sie hinkonnten«, sagte Rowland. »Kein Land, von wo aus sie gegen Hitler kämpfen konnten. Deshalb haben sie uns ›Insel der letzten Hoffnung‹ genannt.«