21
Jeden Morgen, wenn Diane Fry die Autotür öffnete, musste sie kleine Styroporstückchen und fettige Papierfetzen vom Boden aufsammeln. Außerdem versprühte sie Raumspray, bis es im Wageninneren so konzentriert duftete, dass sie das Fenster herunterlassen musste, um nicht zu ersticken. Auch der Sonntagmorgen bildete da keine Ausnahme. Gavin Murfins Spuren hielten sich das ganze Wochenende. Sie war sicher, dass er seine pausenlose Nahrungsaufnahme bewusst als Mittel einsetzte, um sich nicht mit ihr unterhalten zu müssen, wenn sie zusammen unterwegs waren. Mit Ben Cooper konnte man wenigstens ein bisschen plaudern. Er brauchte sich keinen singenden Hummer zuzulegen, der das für ihn erledigte.
An diesem Sonntagmorgen war Fry gerade mit dem Autoputz fertig, als sie ihr Handy klingeln hörte. Es war Inspector Hitchens.
»Sie kommen am besten sofort ins Büro, Diane«, sagte er. »Hier ist der Teufel los.«
Das Cavendish war nicht gerade das modernste Hotel in Edendale. Am Verkehrskreisel am Ende der Umgehungsstraße gab es das Holiday Inn und in der Eyre Street das Travelodge, außerdem war vor kurzem der alte Conservative Club, in dessen Bar noch immer die Porträts von Margaret Thatcher und John Major wie ausgestopfte Hirschköpfe an der Wand hingen, zu einem Hotel umgewandelt worden. Aber das Cavendish war, den Touristenbroschüren zufolge, das Hotel mit Charakter. Es war eines dieser Hotels, in denen der Ober die Times brachte, wenn man es sich in einem der Ledersessel in der Lounge bequem machte. Und es war das Hotel, in dem der Rotary Club seine Wohlfahrtsdinners für 80 Pfund Eintritt pro Nase veranstaltete. Der schmiedeeiserne Zaun vor dem Hotel war grün gestrichen und mit Spitzen versehen. In den meisten Städten waren solche Konstruktionen längst verschwunden, im Zweiten Weltkrieg herausgerissen worden, um Waffen daraus herzustellen. In Edendale waren sie diesem Schicksal auf wundersame Weise entronnen.
Als Ben Cooper eintraf, wartete Alison Morrissey bereits auf der Treppe. Es war zwar kalt, aber nicht unangenehm eisig. Es schien, als könnte es jeden Augenblick anfangen zu regnen, was zumindest den Schnee fortgespült hätte, der immer noch in den Rinnsteinen und auf den Hügeln rings um die Stadt lag.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich war mir nicht hundertprozentig sicher. Ich wusste nicht, ob man es Ihnen erlaubt.«
»Ich habe heute frei. Also kann ich tun und lassen, was ich will.«
»Wahrscheinlich können Sie sich denken, was ich Ihnen sagen will.«
»Ja. Aber ich bin gekommen, weil ich keine Missverständnisse aufkommen lassen möchte.«
»Missverständnisse? Ich habe akzeptiert, dass mir die Polizei von Derbyshire nicht helfen will. Mir war aber nicht klar, dass Sie mich absichtlich behindern und sich in meine Angelegenheiten einmischen würden.«
»So war es auch nicht«, gab Cooper zurück.
»Ach nein? Sie haben die Lukasz aufgesucht, noch bevor ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen konnte. Und dann sind Sie sofort zu Mr Rowland gegangen. Sagen Sie jetzt bloß nicht, das war Zufall. Sie wollen mir einen Strich durch die Rechnung machen. Ihre Vorgesetzten wollen verhindern, dass ich mit diesen Leuten spreche und erreichen, dass ich entmutigt wieder abziehe. Sie haben Sie losgeschickt, um mir Steine in den Weg zu legen, damit ich so schnell wie möglich abreise.«
Cooper bemerkte, dass er verlegen mit den Füßen scharrte, und versuchte so zu tun, als würde er damit gegen die Kälte ankämpfen.
»Ich hatte keinerlei Anweisung, so etwas zu tun«, widersprach er.
Alison zögerte. »Aber Sie sind der richtige Mann für eine solche Aufgabe, oder nicht? Sie sprechen die gleiche Sprache wie die Leute hier. Jedes Mal, wenn Sie vor mir irgendwo waren, bin ich mir erst recht wie ein Fremdkörper vorgekommen. Sobald die Leute meinen Akzent hören, machen sie dicht, als wäre ich ein feindlicher Spion. Man könnte meinen, wir hätten immer noch Krieg. Wer plaudert, gefährdet andere. Dieses Motto haben sie immer noch verinnerlicht. Wissen sie denn nicht, dass wir auf ihrer Seite waren?«
»Aber so ist es doch nicht«, widersprach Cooper. »Die Leute hier sind von Natur aus zurückhaltend. Wenn man sie zum Reden bringen will, muss man sich schon ein bisschen Mühe geben.«
»Ach ja? Mir kommt es eher so vor, als lebten sie immer noch im Krieg. Zurückhaltend ist eindeutig nicht das richtige Wort dafür.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid«, sagte er, »aber Sie sind hier diejenige, die ständig vom Krieg redet. Er ist schon lange vorbei. Lange bevor Sie und ich geboren wurden.«
»Da täuschen Sie sich«, sagte Alison. »Für mich ist er nicht vorbei. Er ist erst dann vorbei, wenn ich herausgefunden habe, was mit meinem Großvater passiert ist.«
Sie wechselten einen kurzen Blick. An der Straßenecke in der Nähe des Cavendish Hotels, an der sie stehen geblieben waren, blies ein eisiger Wind um die Häuser. Cooper sah, dass Morrissey fröstelte. Aber dann schien sich ihre Laune mit einem Mal zu heben, und sie lächelte.
»Na ja, wenigstens einen Drink muss ich Ihnen wohl spendieren«, sagte sie. »Keine Widerrede. Gibt es hier irgendetwas in der Nähe, wo man hingehen kann?«
Sie gingen ins Wheatsheaf, wo Alison zu Coopers Verblüffung ein Glas Apfelwein bestellte. Cooper fiel wieder ein, dass er nicht mehr zur Farm hinausfahren musste, und ließ sich ein großes Derbyshire Drop geben – eines der kräftigen Biere aus der Region, dessen Name auf die ursprüngliche Bezeichnung für den einzigartigen Blue John zurückging, den Halbedelstein, der so viele Touristen in den Peak District lockte.
»Ich habe auch nach der Sonntagskarte gefragt«, sagte Morrissey. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
»Dazu dürfen Sie mich aber nicht einladen«, protestierte er.
»Wollen Sie jetzt etwa spießig werden? Haben Sie nicht eben gesagt, Sie seien heute nicht im Dienst?«
»Trotzdem muss ich aufpassen.«
»Verstehe. Sie klingen wie jemand, der sich auf einem schmalen Grat bewegt. Damit kann ich umgehen. Mir geht es nicht anders.«
Morrissey entschied sich für einen Gemüseauflauf, während Cooper eine Lasagne aussuchte. Er kam sich lächerlich nervös vor. Als das Essen gebracht wurde, hatte er Mühe, die richtige Reihenfolge zusammenzubekommen: Wo legte man die Serviette hin, was spießte man zuerst auf, wann bestellte man den Kaffee?
»Was meinten Sie mit ›auf einem schmalen Grat‹?«, hakte Cooper nach.
Morrissey runzelte die Stirn. »Auf dem Grat zwischen zwei Welten, dem Grat zwischen Richtig und Falsch, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Suchen Sie sich einen aus. Ich bewege mich auf allen dreien.«
»Vielleicht auch auf dem Grat zwischen Vernunft und Zwangsvorstellung?«
Sie sah ihn an und nahm einen Schluck Apfelwein. Ihre Wangen hatten sich vom Alkohol und der Wärme im Pub bereits leicht gerötet. Dann fing sie an zu erzählen, erst stockend, dann immer flüssiger.
»Ja, Sie haben Recht. Es ist zu einer Art Zwangsvorstellung geworden«, sagte sie. »Jedenfalls, nachdem ich den Bericht über den Absturz der Lancaster SU-V und die Liste mit den Namen der Toten gelesen hatte. Von diesem Augenblick an waren diese Männer für mich nicht mehr die anonyme Besatzung irgendeines RAF-Bombers, sondern Menschen. Sie hatten ein eigenes Leben, hatten Frauen und Kinder. Der eigentliche Auslöser war die Tatsache, dass Dick Abbott ebenfalls Vater eines kleinen Kindes war. Dabei war Abbott selber fast noch ein Junge. Das löste etwas in mir aus, irgendeinen Instinkt, der mich drängte, herauszufinden, was damals wirklich passiert ist.«
»Ein Instinkt? Nicht Neugier?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, wie ich es sonst bezeichnen soll. Aber ich musste unbedingt wissen, was passiert war. Ich musste die Wahrheit herausfinden, und in gewisser Weise nicht nur wegen mir selbst, sondern auch wegen des anderen Kindes, das ohne Vater aufwachsen musste. Ich habe mir auch Gedanken über Zygmunt Lukasz und die Familie gemacht, die er vielleicht hatte. Ich kann es nicht erklären, warum mir diese polnischen und englischen Kinder überhaupt etwas bedeuten. Wenn ich vernünftig darüber nachdenke, weiß ich, dass die Bilder dieser Kinder, die ich mit mir herumtrage, nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ich weiß, dass sie inzwischen längst erwachsen sind. Aber ich habe festgestellt, dass ich allmählich angefangen habe, in einer Art Paralleluniversum zu leben, in dem sie so waren wie 1945. Deshalb habe ich gar nicht erst versucht, es jemandem zu erklären, nicht einmal meiner Mutter. Ich habe mich vor den vernünftigen Argumenten gefürchtet, die man mir entgegenhalten und die ich nicht entkräften könnte, die mich aber in meiner Entschlossenheit nur noch bestärken würden. Manche Leute – solche wie Sie zum Beispiel – halten mich auch so schon für zwanghaft. Ich wollte ihnen nicht die Gelegenheit geben, mich für verrückt zu erklären.«
»Wenn Ihnen das lieber ist, nehme ich das mit der ›Zwangsvorstellung‹ wieder zurück.«
»Nein, es ist mir egal. Wenn Ihnen dadurch klarer wird, wie entschlossen ich bin, kann es mir nur nützen.«
»Aber das liegt alles so lange zurück …«
»Ja, ich weiß. Die Zeit damals war so fremd, so feindselig. Man lernt den Frieden umso mehr zu schätzen. Es hat lange gedauert, bis mir klar geworden ist, dass es im England der Kriegsjahre fast alltäglich war, dass Flugzeuge vom Himmel fielen.«
»Allein im Gebiet um den Dark Peak sind seit Beginn des Zweiten Weltkrieges über fünfzig Flugzeuge zerschellt.«
Morrissey sah ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe ein Buch darüber gefunden«, sagte Cooper.
»Wo denn?«
»In einem Antiquariat hier in der Stadt. Eden Valley Books.«
»Interessant. Dort muss ich unbedingt hingehen. Als Frank Baine mir diese Zahl genannt hat, konnte ich es kaum glauben. Auf der Landkarte sieht der Peak District so klein aus, ein paar Dutzend Meilen breit, eingezwängt zwischen zwei Großstädten. Und die Berge sind nicht einmal besonders hoch, kaum einer ist höher als tausend Meter. Wir sind hier schließlich nicht in den Rocky Mountains, Ben. Warum wurde ausgerechnet dieser Landstrich zum Friedhof so vieler Flugzeuge und ihrer Besatzungen?«
»Einige wurden vom Feind beschädigt, manche sind aufgrund technischen Versagens abgestürzt, oder sie sind vereist und in der Luft zerborsten. Andere Abstürze sind auf Pilotenfehler oder mangelhafte Navigation zurückzuführen. Wenn die Maschinen bei schlechten Wetterbedingungen über ansteigendes Gelände fliegen mussten, wurde es schwierig.«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben wirklich gemacht. Passen Sie bloß auf, dass keine Zwangsvorstellung daraus wird.«
Eine Gruppe Mittdreißiger kam herein, junge Männer, die von ihren Frauen in den Pub entlassen worden waren. Sie unterhielten sich lautstark und amüsierten sich offenbar über jemanden, der beim Kauf eines Gebrauchtwagens aus Dummheit Geld verloren hatte. Sie trugen Sweatshirts und ausgewaschene Jeans, deren Bund über den gewölbten Bäuchen abstand, und bestellten mit viel Tamtam irgendwelche Spezialbiere, die normalerweise nur von Touristen getrunken wurden, als orderten sie kistenweise erlesene Weine.
»Dann stellte sich mir ein weiteres Problem«, sagte Morrissey. »Ich musste mich entscheiden, ob ich Kontakt mit den Verwandten der anderen Flieger aufnehmen sollte. Waren sie an meinen Informationen überhaupt interessiert? Ich hatte versucht, mich in ihre Lage zu versetzen. Ich hatte Bedenken, alte Wunden aufzureißen. Nur weil diese Wunden schon siebenundfünfzig Jahre alt sind, tun sie nicht weniger weh. Ich weiß das.«
Cooper versuchte den Blick auf ihr ruhen zu lassen, sie zum Weiterreden zu ermuntern. Manchmal genügte das, um jemanden davon zu überzeugen, dass man ihm aufmerksam zuhörte. Aber wenn er ihr in die Augen sah, lenkte ihn das viel zu sehr ab, so dass er den Blick abwenden musste.
»Zuerst schien es mir eine unmögliche Aufgabe«, fuhr sie fort. »Ich habe es einfach nicht geschafft, mich in diese Leute hineinzuversetzen.«
»Weil Sie so etwas noch nie selbst erlebt haben …«
»Nein. Das war nicht der Grund. Es lag daran, dass es um Leute geht, die meinen Großvater für den Tod ihrer Verwandten verantwortlich machen. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es für mich nur eine Möglichkeit gab, die Sache anzugehen. Ich musste davon ausgehen, dass die Verwandten ebenso froh wären wie ich, wenn sie wüssten, was wirklich vorgefallen ist.«
Sie redete ununterbrochen, nahm sich kaum Zeit zum Essen und wartete nur selten ab, bis er genickt oder den Kopf geschüttelt hatte. Es war, als wollte sie ihn nicht zu Wort kommen lassen, als hätte sie Angst, er würde versuchen das Thema zu wechseln, bevor sie mit ihren Ausführungen zu Ende war. Inzwischen empfand es Cooper als unverdiente Ehre, dass sie ausgerechnet ihn dazu auserkoren hatte, und fragte sich, ob sie dieses Privileg noch anderen gewährt hatte, Frank Baine zum Beispiel.
»Es kam mir vor, als hätte ich ein Buch vor dem letzten Kapitel weglegen müssen, verstehen Sie? Ein Buch, das ich nie zu Ende lesen konnte. Ich glaube, diese Enttäuschung hat mich angetrieben. Ich wusste, dass es eine herbe Erfahrung werden würde, die letzte Seite zu lesen. Aber es war eine Erfahrung, die ich machen musste. Verstehen Sie das, Ben?«
Die Tatsache, dass sie ihn so selbstverständlich Ben nannte, schien einen Wendepunkt darzustellen. Cooper hatte genug Leute verhört, um zu wissen, dass Morrissey sich ihm jetzt, nachdem sie ihm ihre Beweggründe geschildert hatte, näher fühlte und ihn gewissermaßen als Freund betrachtete. Was ihm keinerlei Probleme bereitete.
»Ich glaube schon.«
»Gut. Wissen Sie auch, dass am vergangenen Montag der Jahrestag des Absturzes war?«
»Ja.«
»Keine Ahnung, warum, aber ich fand es wichtig, gerade jetzt hierher zu kommen.«
»Haben Sie die Medaille zufällig dabei?«, fragte Cooper.
»Ja. Und das Päckchen, in dem sie geschickt wurde, auch.« Morrissey legte die Medaille auf den Tisch. »Mein Großvater trug sie immer bei sich, wenn er flog. Sie war so etwas wie sein Talisman.«
Cooper schob die Medaille mit dem Kaffeelöffel in das Licht, das durchs Fenster fiel, um die glänzende Metalloberfläche betrachten zu können.
Morrissey beobachtete ihn lächelnd. »Falls Sie nach Fingerabdrücken suchen, muss ich Ihnen leider sagen, dass meine Mutter sie als Allererstes gründlich poliert hat. Sie sagte, sie sei schmutzig. Sie hat extra Silberpolitur gekauft.«
»Prima.« Cooper konnte die Politur sogar noch riechen. Trotzdem waren einige durch Rost hervorgerufene Vertiefungen auf dem Metall und schwache Flecken auf dem verblichenen Band zu erkennen. Daneben waren einige dunklere Flecken zu sehen, kleine Spritzer, bei denen es sich möglicherweise um Blut handelte. Die Medaille war in einem alten Lederbeutel verwahrt gewesen, der so zerknittert und rissig war, dass man ihn praktisch kaum noch benutzen konnte. Auf der Innenseite waren an der Stelle, wo einst ein Etikett angenäht gewesen sein mochte, die Reste einer altersschwachen Stickerei zu sehen. Der Beutel war in mehrfach gefaltetes braunes Papier eingewickelt und mit Klebeband versiegelt gewesen, die kanadische Adresse stand mit schwarzem Filzstift in Großbuchstaben darauf geschrieben.
»Und es war kein Brief dabei?«, fragte er.
»Nein.«
»Und die Adresse stimmt?«
»Ja.«
»Ich frage mich, woher der Absender die Adresse Ihrer Mutter kannte.«
»Scharf beobachtet«, bemerkte Morrissey.
Cooper sah auf. »Wie bitte?«
»Glauben Sie nicht, dass wir uns das schon seit Monaten fragen? Seit die Medaille ankam.«
»Natürlich.«
»Es muss entweder jemand sein, der Zugang zur Dienstakte meines Großvaters hatte oder der meinem Großvater nahe genug stand, dass dieser ihm seine Heimatadresse gegeben hat. Vielleicht hat er sie demjenigen aufgeschrieben, damit sie nach dem Krieg miteinander in Kontakt bleiben konnten.«
»Sie meinen … jemandem von seiner Besatzung?«
»Und da es in Edendale abgestempelt wurde …«
»Sie haben daraus geschlossen, dass das Päckchen von dem einzigen überlebenden Besatzungsmitglied kam, von Zygmunt Lukasz.«
»Von wem denn sonst? Nachdem wir von Frank Baine erfahren hatten, dass Lukasz noch immer in Edendale wohnt, schien uns das die einzig logische Schlussfolgerung. Wen sonst sollte mein Großvater in dieser Gegend gekannt haben?«
Cooper schob die Medaille wieder in die Verpackung zurück. »Die Familien der anderen Besatzungsmitglieder müssen deren Habseligkeiten nach dem Unglück von der RAF bekommen haben. Jeder von ihnen hätte die Adresse Ihres Großvaters haben können.«
»Aber keiner von den anderen wohnte hier in der Nähe.«
»Dann sind Sie also fest davon überzeugt, dass Zygmunt irgendetwas damit zu tun hat?«
»Entweder das«, erwiderte sie, »oder mein Großvater lebt noch und wohnt hier in Edendale.«
In den Räumen der Kripo herrschte eine eisige Atmosphäre. Gavin Murfin war ganz grün im Gesicht, als hätte er endlich zu viel Chicken Tikka Masala gegessen. Als er Diane Fry hereinkommen sah, schaute er weg.
»Was ist denn mit Gavin los?«, fragte sie Hitchens. »Warum sieht er so elend aus?«
»Er hat in sämtlichen Vermissten-Akten nach dem Schneemann gesucht. Jetzt ist er endlich auf die Idee gekommen, die Beschreibung landesweit herauszugeben.«
»Und?«
»Er war ganz besonders gründlich und hat die Einzelheiten an alle Behörden geschickt. An alle.«
Murfin sah tatsächlich aus, als hätte er einen Schock erlitten. Seine Haare standen ab, als wäre er vor Aufregung mit fettigen Fingern hindurchgefahren.
»Hat denn eine Behörde eine Übereinstimmung gemeldet?«, fragte Fry.
»Ja. Und sie sind auch schon hierher unterwegs.«
»Wunderbar.«
»Glauben Sie, Diane?«
»Wenn jemand ein paar Leute übrig hat, die uns unter die Arme greifen, dann ist das doch wirklich wunderbar. Gut gemacht, Gavin.« Fry blickte in die Runde und bemerkte, wie nervös Gavin war. »Es ist doch nicht die RUC, oder? Sag jetzt bitte keiner, dass es nach all den Jahren wieder Ärger mit Nordirland gibt!«
»O nein«, sagte Hitchens. »Es ist nichts so Einfaches wie eine Hinrichtung mit terroristischem Hintergrund.«
»Was dann? Wen haben wir denn aufgescheucht? Eine der angrenzenden Dienststellen?«
»Nein. Eine Bundesbehörde.«
»Eine Bundesbehörde?« Fry zog die Stirn in Falten. »Sie meinen die Eisenbahnpolizei, Sir? Nicht? Doch nicht etwa die National Crime Squad? Die Staatssicherheit?«
»Denken Sie mal in Richtung Militär«, antwortete Hitchens. »Ministry of Defence Police, die interne Polizei des Verteidigungsministeriums. Noch heute kommen zwei Beamte der MDP hierher. Angeblich kennen sie unseren Schneemann. Sie glauben, es könnte einer von ihren Leuten sein.«
»Einer von ihren Leuten? Ein verschwundener Militärangehöriger?«
»Der Vermisste heißt Nick Easton. Und wenn ich sage, es ist einer von denen, dann meine ich es auch so. Sie sind in ungefähr einer Stunde hier, und das heißt, die fackeln in dieser Sache nicht lange. Und Sie, Fry, werden mit einer gewissen Sergeant Jane Caudwell zusammenarbeiten.«
Ben Cooper und Alison Morrissey teilten sich die Rechnung und verließen den Pub. Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie das Flussufer erreicht hatten. Dieser Abschnitt des Flusses war mit unzähligen Wasservögeln bevölkert, die quakten, untertauchten, herumspritzten, sich zankten oder mit schief gelegten Köpfen die wenigen Spaziergänger auf den Uferwegen musterten. Ein altes Ehepaar unterhielt sich über den Unterschied zwischen Blesshühnern und Moorhühnern. Zwei Kinder stritten sich um das letzte Stück Brot und versuchten, es der Ente zuzuwerfen, die am weitesten entfernt war, während die Hunde von all dem Geflatter fast hysterisch wurden.
In der Nähe des Wehrs wurde das Wasser flacher, so dass man bis auf den Grund sehen und nach Fischen Ausschau halten konnte. Flöße aus vertrockneten Weidenblättern trieben auf der Oberfläche, trudelten sanft in ziellosen Kreisen und vermengten sich in Ufernähe zu einem dunklen Matsch. Ein paar Meter weiter stürzte das Wasser jäh über das Wehr. Das Schmelzwasser aus den Bergen hatte den Flusspegel ansteigen lassen, und der Wasserfall rauschte so heftig in die Tiefe, dass vereinzelte weiße Fontänen emporspritzten. Dann schäumte der Fluss weiter auf die Brücke zu, wo er einen alten Baumstamm überspülte, der sich am Ufer verkeilt hatte.
»Nicht nur mein Großvater war ein Held«, sagte Morrissey. »Auch Klemens Wach hat Bemerkenswertes geleistet. Als er nach Nottinghamshire kam, war er in Polen schon ein Held. Einer von denen, die bis heute unvergessen sind.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wach wurde von der 305. Fliegerstaffel, der berühmten polnischen Einheit, nach Leadenhall verlegt.«
»Tatsächlich?«
»Klar. Steht in der Akte. Allem Anschein nach ist das in Polen eine geradezu legendäre Staffel.«
»Stimmt.«
Sie kamen an zwei Radfahrern vorbei, einem Pärchen in den Dreißigern, das auf einer Bank saß und Tee aus Pappbechern trank; die Helme lagen neben ihnen auf den Holzlatten, während sie mit ausgestreckten Füßen den Enten bei der Futtersuche zusahen. Sie saßen einfach nur da, ohne miteinander zu reden, und hoben die Köpfe nur, um erstaunt einen weißhaarigen Mann anzublicken, der ihnen eine religiöse Broschüre entgegenstreckte.
»Wie lange wollen Sie noch in der Gegend bleiben?«, fragte Cooper.
»So lange wie nötig.«
»Haben Sie keinen Beruf, der Sie nach Toronto zurückruft?«
»Ich bin Lehrerin an der High School. Aber ich habe mich für ein Jahr beurlauben lassen«, erwiderte sie mit einem flüchtigen Lächeln.
»Wie schön. Und Sie haben keine Familie?«
»Nur meine Mutter und meinen älteren Bruder. Sie unterstützen mich in jeder Hinsicht. Meine Mutter und ich sind uns sehr ähnlich. Wir haben in dieser Angelegenheit die gleichen Ansichten. Wir müssen herausfinden, wie das letzte Kapitel ausgeht. Wir müssen es einfach wissen, Ben.«
»Ihre Großmutter stand also 1945 ganz allein mit einem kleinen Kind da, das sie ohne Hilfe großziehen musste.«
»Nicht lange. Sie hat einen anderen Mann gefunden. Der Mädchenname meiner Mutter war Rees. Sie hat den Namen meines Stiefvaters Kenneth Rees angenommen.«
»Ihre Großmutter hat also wieder geheiratet?«
»Wie denn? Ihr Mann wurde ja nicht einmal für tot erklärt. Und in Wahrheit hat sie auch nicht geglaubt, dass er tot ist. Aber sie brauchte jemanden, der sie unterstützte und ihr half, meine Mutter aufzuziehen. So war das damals. Und Kenneth Rees war ein guter Mann. Er hat ihr Verhalten nie in Frage gestellt, sagt meine Mutter. Ich erinnere mich noch gut an ihn, obwohl er schon fünfzehn Jahre tot ist.«
Seltsamerweise suchte Cooper nach einer Möglichkeit, Alison nach einem Foto von Kenneth Rees zu fragen. Er hätte es gern mit einer der Aufnahmen von Danny McTeague verglichen.
»Woher stammte Rees?«
»Aus Newcastle on Tyne. Er war als Bauingenieur nach Kanada gekommen. Um Brücken zu bauen.«
»War er ungefähr im gleichen Alter wie Ihr richtiger Großvater?«
»Ungefähr.«
»Vermutlich kannte ihn Ihre Großmutter schon vorher. Oder hat sie ihn erst kennen gelernt, nachdem Ihr Großvater vermisst wurde?«
Cooper stellte plötzlich fest, dass Alison Morrissey nicht mehr neben ihm ging. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie ein paar Meter hinter ihm stehen geblieben war. Sie hatte die Hände wieder tief in die Manteltaschen geschoben, so wie er sie zuletzt vor Walter Rowlands Haus gesehen hatte. Ihre Haltung verriet Verärgerung und zugleich eine gewisse Abwehr. Eigensinnig und gleichzeitig schrecklich verletzlich.
»Sie denken jetzt, dass Kenneth Rees mein richtiger Großvater war, nur unter anderem Namen«, sagte sie. »Warum hätte er meine Großmutter auch heiraten sollen – sie waren ja schon verheiratet. Er durfte sich nicht zu erkennen geben, weil er ein Deserteur war. Man hätte ihn ins Gefängnis gesteckt.«
»Das habe ich nicht gedacht.«
»Kenneth Rees war Ingenieur aus Newcastle. Er hatte rote Haare. Er war nur einsachtundsechzig groß. Sein Akzent war kaum zu verstehen.«
»Sie sagten, er ist inzwischen gestorben?«
»Ja, aber wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen seine Beschreibung zufaxen. Mit Foto.«
Cooper hätte furchtbar gern gesagt, dass das nicht nötig sei, aber er wusste, dass er die Unterlagen um seines eigenen Seelenfriedens willen mit eigenen Augen sehen musste. Als Alison aufging, weshalb er ihr Angebot nicht ablehnte, nickte sie. »Ich rufe meine Mutter gleich heute Nachmittag an und bitte sie darum«, sagte sie. »Dann haben Sie das Ganze am Montagmorgen. Reicht Ihnen das?«
»Selbstverständlich.«
»Haben Sie E-Mail?«
»Ein Fax geht in Ordnung.«
Morrissey blickte zum Hotel auf der anderen Straßenseite hinüber. Sie wirkte ein wenig enttäuscht, aber bis jetzt hatte sie sich als unverwüstlich erwiesen, und Cooper wusste, dass ihre Verstimmung nicht von langer Dauer sein würde. Zumindest hoffte er das.
»Vielen Dank für das Mittagessen«, sagte sie.
»Sie haben doch selbst für sich bezahlt«, sagte Cooper. »Ich habe Sie zu nichts eingeladen.«
»Dann eben nicht.«
Cooper sah Morrissey nach, wie sie durch das Eisentor ging und im Hotel verschwand. Er wusste, dass irgendetwas an ihrer Geschichte nicht stimmte. Und zwar nicht seine wilde Vermutung hinsichtlich des Briten Kenneth Rees. Alison Morrisseys Geschichte war nicht die ganze Wahrheit.