34

Eine Woche nachdem der Schnee gekommen war, türmte er sich immer noch zu beiden Seiten der A57 auf. Als Ben Cooper am späten Nachmittag in der Dämmerung Richtung Harrop fuhr, sah er, dass die eine oder andere Nebenstraße immer noch nicht vollständig geräumt war. Auf den Hügeln gab es Höfe und Weiler, zu denen der vom Bezirk eingesetzte Schneepflug niemals vordrang. Deshalb mussten sich die Bauern den Weg zur Hauptstraße mit vor die Traktoren geschraubten Schaufelblättern selbst bahnen. Und heute würde noch mehr Schnee fallen. Cooper konnte es förmlich riechen.

Als er schon ein gutes Stück über dem Tal war, erfassten die Scheinwerfer einen blauen Vauxhall, der schräg zum Straßenrand stand. Cooper fuhr näher heran, bis er sah, dass der Wagen in eine Schneewehe gerutscht war, unter der sich ein kleiner Graben verbarg, wo der Schnee unter den Reifen schlammig und aufgewühlt war. Der Fahrer war ausgestiegen und betrachtete die Räder auf der Beifahrerseite.

Cooper bremste vorsichtig, stellte den Warnblinker an und blieb vor dem Vauxhall stehen. Wäre Diane Fry bei ihm gewesen, hätte sie bestimmt geschimpft, sie seien kein Pannendienst. Und hätte sie den Fahrer erkannt, hätte sie hinzugefügt, dass dies auch nicht der richtige Moment sei, anzuhalten und ein Buch zu kaufen. Aber Cooper stellte den Motor seines Wagens ab, nahm seinen Regenmantel vom Rücksitz und stieg aus. Unter seinen Füßen spritzte der Matsch auf. Er öffnete den Kofferraum und holte die Schneeschaufel heraus. Manche Leute machten sich darüber lustig, aber im Winter gehörte das zur Grundausrüstung. Seiner Meinung nach sollte jedes Einsatzfahrzeug routinemäßig damit ausgerüstet sein.

Erst als Cooper aus dem Toyota stieg, erkannte ihn Lawrence Daley, allerdings schien er nicht besonders begeistert, ihn zu sehen. Er war eindeutig nicht für dieses Wetter angezogen - er trug dieselbe blaue Jacke wie im Buchladen, darunter einen dünnen Pullover und ein Hemd. Seine Jeans war bereits nass und unterhalb der Knie steif gefroren. Es würde Tage dauern, bis sie wieder trocken war. Der Buchhändler zitterte vor Kälte und Verzweiflung.

»Was ist passiert, Lawrence?«

»Ich habe ein bisschen zu stark gebremst«, antwortete der Buchhändler. »Die Räder sind von der Straße gerutscht, und jetzt drehen sie nur noch durch. Sie greifen nicht mehr.«

Er war der typische Autofahrer, für den ein Auto, sobald es nicht mehr fuhr, ein absolutes Mysterium darstellte. Cooper betrachtete den Schlamm, der meterweit über den Schnee und bis auf die Straße gespritzt war, dann die tiefen Rinnen, die die Räder des Autos gegraben hatten.

»Sieht aus, als hätten Sie sich festgefahren«, stellte er fest. »Setzen Sie sich rein, ich schiebe Sie an. Aber nicht zu viel Gas geben. Versuchen Sie, die Räder nicht mehr durchdrehen zu lassen.«

»Ich wollte eigentlich auf den Pannendienst warten«, sagte Lawrence.

»Haben Sie schon angerufen?«

»Ich habe kein Handy. Ich habe keine Lust, mir von der Strahlung das Hirn grillen zu lassen.«

Für Sorgen dieser Art war es ein bisschen zu spät, dachte Cooper. An Lawrences Hirn war nicht mehr viel zu verderben, dafür hatten bereits der Alkohol und das Leben unter all den Büchern gesorgt. Vielleicht war auch die Einsamkeit schuld daran. Lawrence hatte sich in etwas hineinziehen lassen, das aus zwei Gründen verlockend war: Zum einem spielte natürlich das Geld eine Rolle, zum anderen aber bestimmt auch das Gefühl, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, sozusagen als Familienersatz.

»Ist Ihnen klar, dass die nächste Telefonzelle vier Meilen von hier entfernt ist? Sie müssten fast bis zum Snake Inn laufen.«

Lawrence zuckte entmutigt die Achseln. »Dann hätte ich wohl jemanden anhalten müssen.«

»Heutzutage hält nicht mehr jeder an, Lawrence. Die Leute haben zu viele Geschichten von Überfällen und Autodiebstählen gehört. Die nehmen nicht mehr jeden Anhalter mit.«

Manchmal konnte Cooper Diane Frys Ungeduld mit Leuten wie Lawrence Daley verstehen. Lawrence hatte keinerlei Anstalten gemacht, den Toyota anzuhalten, als er ihn kommen hörte. Hätte Cooper ihn nicht erkannt, wäre er vielleicht vorbeigefahren. Hätte Lawrence später ein anderes Fahrzeug angehalten? Oder wäre das unter seiner Würde gewesen? Höchstwahrscheinlich wäre er einfach stehen geblieben und erfroren.

»Wo wollten Sie überhaupt hin?«

»Nur nach Glossop. Ein Freund von mir wohnt dort. Auch ein Buchhändler. Nachdem Sie mir meinen Laden zugemacht haben...«

»Schon in Ordnung. Solange Sie den Bezirk nicht verlassen...«

»Das tue ich nicht. Vernehmen Sie heute Frank Baine?«

»Heute Nachmittag. Ihn und ein paar andere. Eddie und Graham Kemp.«

»Die Kemps?«

»Ja.«

»Eddie Kemp sagt nie die Wahrheit.«

»Warten wir's ab«, erwiderte Cooper. »Steigen Sie ein, wir probieren es mal.«

Er stemmte sich gegen den Kofferraum des Vauxhall und suchte nach einen guten Halt auf der Straßenoberfläche. Lawrence ließ den Wagen an und löste die Handbremse. Zuerst sah es aus, als wollten die Reifen überhaupt nicht greifen, doch dann fand das Hinterrad auf der Fahrerseite ein Stück unverschmutzten Asphalt, so dass der Vauxhall einen Augenblick später einen Satz auf die Straße machte. Cooper rutschte ab und fiel hinter der Stoßstange auf die Knie. Lawrence fuhr ein paar Meter weiter und hielt an.

»Vielen Dank!«, rief er.

Cooper stand auf, klopfte sich den Schnee von den Handschuhen und ging zu seinem Auto zurück. Neben Lawrences offenem Fenster blieb er stehen. »Bevor Sie weiterfahren, würde ich Ihnen raten, die Windschutzscheibe ordentlich frei zu kratzen«, sagte er. »Und wischen Sie auch den Schnee von den Scheinwerfern. Sonst bekommen Sie eine Anzeige von meinen Kollegen von der Verkehrspolizei.«

»Mach ich«, versicherte Lawrence.

Cooper nickte, wischte sich noch ein bisschen Schnee von der Hose und stieg in den Toyota. Als er losfuhr, sah er noch einmal in den Rückspiegel. Lawrence Daley winkte ihm zum Abschied zu.

Die MDP hatte Frank Baine ebenfalls vernommen, weil sie ihn im Verdacht hatte, der Hauptkontaktmann der Luftwaffenangehörigen zu sein, die sie überwachten. Diane Fry konnte sich gut vorstellen, dass Baine ein Mann mit vielen Kontakten war. Und ein Mann, der mit seinen journalistischen Arbeiten nicht allzu viel Geld verdiente. Lawrence Daleys Aussage zufolge hatte Baine auch die Website und das schwarze Brett im Internet gepflegt.

Schwieriger war es, im Hinblick auf den Mord an Nick Easton Anklagepunkte gegen ihn zusammenzutragen. Man hatte weder eine Waffe bei ihm gefunden noch beweisen können, dass Eddie Kemps Wagen dazu benutzt worden war, Eastons Leiche zum Snake Pass zu transportieren. Abgesehen davon gab es Beweise, dass Eddie Kemp in der Nacht zum Dienstag an dem tätlichen Angriff auf die beiden Jugendlichen in der Nähe der Underbank beteiligt gewesen war. Er war auf dem Band der Überwachungskamera zu erkennen.

Fry schüttelte wütend den Kopf. Die beiden Drogendealer weigerten sich kategorisch, mit der Polizei zu reden. Befragungen in der Underbank hatten aber ergeben, dass die Anwohner von einer Art Bürgerwehr wussten, die sich eigenhändig darum kümmerte, dass die Drogenbanden aus dem Devonshire-Wohnblock sich nicht in ihrem Viertel breit machten. Sogar Walter Rowland hatte einem Polizeibeamten erzählt, es gebe Leute, die ihm sein gestohlenes Eigentum eher zurückbrachten als die Polizei. Bedauerlicherweise hatte er damit nicht einmal so Unrecht.

Die Kemp-Brüder schienen sich in der Gegend um die Underbank einen Namen gemacht zu haben. Ihr Pech war nur gewesen, dass das alte Ehepaar, das Eddie in jener Nacht identifiziert hatte, nicht wusste, auf wessen Seite er stand.

Fry betrachtete das Bajonett, mit dem Ben Cooper angegriffen worden war. Ungeduldig wartete sie auf die Gelegenheit, Frank Baine selbst zu verhören, und hoffte, dass ihr das Labor eine Übereinstimmung zwischen den Spuren vom Griff des Bajonetts und Baines DNS lieferte. Damit wäre wenigstens der Angriff auf einen Polizisten aufgeklärt. In der Zwischenzeit würde sie sich um die Kemps kümmern. Und Eddie Kemp hatte noch ein paar Fragen zum Tod von Marie Tennent zu beantworten.

Aber erst am späten Nachmittag war Fry so weit, sich Eddie Kemp vorzuknöpfen und ihn zu dem Thema zu befragen, das sie am meisten interessierte.

»Das Baby«, sagte sie. »Maries Baby.«

»War nicht von mir«, erwiderte Kemp. »Sie hat mir gesagt, es ist nicht von mir.«

»Wie haben Sie darauf reagiert, Mr Kemp?«

»Reagiert?«

»Waren Sie wütend auf Marie?«

Obwohl man ihm die vorgeschriebenen Vernehmungspausen zugestanden hatte, wirkte Kemp allmählich erschöpft. Er versuchte zwar immer noch den Lässigen und völlig Unbeteiligten zu mimen, der nichts zu befürchten hat, aber Fry sah die Müdigkeit in seinen Augen, das erste Anzeichen dafür, dass er mürbe wurde.

»Waren Sie wütend, Mr Kemp?«

»Mir war das so was von egal.«

»Nein. Lassen Sie uns mal kurz darüber nachdenken. Wenn ich mich recht entsinne, dauert eine Schwangerschaft neun Monate. Wenn das Kind nicht von Ihnen war, heißt das, dass Marie noch einen anderen Mann hatte - zu der Zeit, als sie noch mit Ihnen zusammen war.«

»Und?«

»Ich glaube, dass Sie deswegen ziemlich wütend waren«, sagte Fry. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ausgerastet sind.«

»Na ja, das wäre doch wohl jedem so gegangen. In so einer Situation.«

»Sie haben Marie also geschlagen, Mr Kemp?«

Kemp verzog ärgerlich das Gesicht. »Sie wollen mich unbedingt als Schläger hinstellen. Keine Ahnung, wie Sie daraufkommen.«

»Wie oft haben Sie Marie geschlagen?«, fuhr Fry geduldig fort.

»Hören Sie, es ging alles ziemlich durcheinander, ehrlich gesagt.«

»Einmal? Zweimal? Mehr als zweimal?«

»Ich erinnere mich nicht mehr.«

»Wo haben Sie hingeschlagen? Ins Gesicht, auf den Oberkörper oder wohin sonst?«

»Auf den Oberkörper, glaub ich.«

»Haben Sie Marie auch ins Gesicht geschlagen?« »Kann sein, aber das war keine Absicht.«

»Aha.«

»Ich hab ihr nicht richtig wehgetan«, erklärte Kemp.

»Wie bitte?«

»Ich meine, falls ich sie überhaupt geschlagen hab, dann hab ich ihr nur ein paar Ohrfeigen verpasst. Davon kriegt man höchstens ein paar blaue Flecken. Aber sie hat es so gewollt. Sie musste ja immer so überheblich tun.«

Fry beschloss, eine andere Taktik einzuschlagen und später auf den tätlichen Angriff zurückzukommen. Kemps Geschichte würde in den Einzelheiten leicht variieren, bis sie schließlich ein volles Geständnis hatte.

»Hat Ihnen Marie verraten, wer der Vater des Kindes ist?«

Kemp blinzelte kurz, ehe er sich über den Tisch beugte.

»Klar. Aber das war nicht nötig. War ja nicht schwer zu erraten.«

»Und wen hat sie Ihnen als Vater genannt?«

Jetzt wollte Kemp reden. Er wollte sichergehen, dass Fry ihn verstand. Wie so viele andere war er davon überzeugt, dass jeder begreifen würde, dass er das Richtige getan hatte, wenn man ihn das Ganze nur von Anfang an erklären ließ.

»Wissen Sie, Sie müssen bei Marie etwas verstehen«, sagte Kemp. »Sie hat immer gedacht, sie wäre schlauer als alle anderen, aber sie hat selber keine richtige Schulbildung gehabt. Sie war ganz wild auf Bücher. Hat ihre Wohnung bis obenhin mit Büchern voll gestopft, bevor sie Schluss gemacht hat.«

»Ja, ich habe die Bücher gesehen.«

»Sie dachte immer, sie wird ein besserer Mensch, wenn sie mehr liest. Als ob man von solchen Romanen schlauer wird. So ein Blödsinn! Aber sie hat gedacht, weil sie über Romane reden kann, ist sie eine Intellektuelle. Von so was hat sie sich leicht beeinflussen lassen, wollte den Typen damit imponieren. Deshalb hing sie auch ewig im Buchladen rum. Sie hat wohl geglaubt, sie bewegt sich in besseren Kreisen, nur weil er sich für sie interessiert hat. Aber dem ging's nur um das eine, wie allen anderen.«

»Sie war also regelmäßig im Buchladen?«

»Klar, im Eden Valley Books. Bei dieser Schwuchtel mit der Fliege. Lawrence Daley. Ich bin selber dran schuld, dass sie ihn kennen gelernt hat. Dabei ist er auch nicht besser als alle anderen, oder?«

»Marie hat Ihnen erzählt, Lawrence Daley sei der Vater ihres Kindes?«, fragte Fry.

»Genau. Daley. Den interessieren am Ende auch nur zwei Dinge - Sex und Geld. Alles andere ist nur Getue. Bücher? Blödsinn. Sex und Geld! Ja, ich könnte Ihnen einiges über den Typen erzählen.«

Nach zwei Meilen versuchte Cooper immer noch, seine kalten Hände aufzutauen, als das Handy klingelte.

»Ben, wo bist du?«

»Auf der A57, in der Nähe vom Snake Inn. Ich bin unterwegs nach Harrop, um eine Aussage von George Malkin über die Gegenstände einzuholen, die er an Lawrence Daley verkauft hat.«

»Fahr lieber einen Augenblick an den Straßenrand.«

Cooper lenkte den Toyota in die erstbeste Einfahrt. Der Fahrer eines Ford Transit hupte ihn an, als er ihn in weitem Bogen überholte.

»Was gibt's denn?«, fragte Cooper.

»Wir haben uns gerade noch mal Eddie Kemp vorgenommen.«

»Gut. Habt ihr etwas aus ihm rausgekriegt?«

»Den Namen des Kindsvaters.«

»War es etwa nicht von ihm?«

»Er streitet es ab und behauptet, der Vater sei Lawrence Daley.«

Cooper war froh, dass der Wagen stand. Er drehte sich um.

Lawrences blauer Vauxhall hätte ihn inzwischen längst überholen müssen. Bis Harrop, das auf der anderen Seite des Irontongue Hill lag, konnte man auf dem Snake Pass nirgendwo abbiegen.

»Ich habe ihn gerade erst gesehen«, sagte Cooper. »Ein paar Meilen hinter mir. Ich habe ihm geholfen, seinen Wagen wieder auf die Straße zu schieben. Er hat gesagt, er wolle in diese Richtung, aber jetzt hat er wohl umgedreht.«

»Bin schon unterwegs. Wenn du ihn siehst, gib mir Bescheid.«

Cooper manövrierte den Toyota umständlich aus der Einfahrt heraus und zwang damit weitere Autofahrer, ihm auszuweichen. Schließlich befand er sich wieder auf der Straße und fuhr nach Westen. Es dauerte nicht lange, bis er Lawrences Vauxhall gefunden hatte. Er stand nur zwei Meilen entfernt an der A57 in einer anderen Haltebucht, wenn auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Diesmal war er mit Absicht von der Fahrbahn gelenkt und ordentlich abgestellt worden. Von Lawrence Daley war nichts zu sehen.

Cooper stieg aus und schaute sich um. Überall nur Schnee. Es war der abgelegenste Abschnitt der A57, nur der Irontongue Hill im Osten diente als Orientierungspunkt. Cooper überprüfte die Türen des Vauxhall und fand sie verschlossen. Dann spähte er durch die Scheiben und wählte Frys Handynummer.

»Was ist, Ben?«

»Lawrence Daleys Wagen steht hier am Straßenrand. Auf der Beifahrerseite habe ich ein Stück Plastikschlauch und eine Rolle Isolierband gefunden.«

»Schade, dass dir das nicht aufgefallen ist, als du ihm vorhin geholfen hast.«

»Meinst du, er ist hier herausgefahren, um sich umzubringen?«

»Hört sich ganz so an. Siehst du ihn irgendwo? Er kann ja noch nicht weit sein.«

»Aber er entfernt sich mit jeder Sekunde weiter. Ich weiß nur nicht, in welche Richtung.«

Cooper drehte sich um, blickte nach Norden und fluchte wieder. Das Wetter schlug um. Dicke, schwere Wolken schoben sich über die Flanken des Bleaklow und des Kinder Scout. Auf den weiter entfernten Hängen sah er es schon schneien. Er zitterte, als ihn die ersten Böen des Nordwinds erreichten und durch seine Kleidung drangen.

Er ging ein Stück die Straße entlang und fluchte über den Matsch und die tiefen Reifenspuren der Fahrzeuge, die in den letzten Tagen hier Halt gemacht hatten. Schließlich fand er am Rand des Hochmoors frische Fußstapfen, den Anfang einer Spur.

»Ich weiß jetzt, in welche Richtung er gegangen ist«, sagte Cooper. »Das hätte ich mir denken können. Er will zum Irontongue. Aber das schafft er nie über dieses Schneefeld. Der Untergrund ist viel zu gefährlich. Felsspalten, loser Torf, gefrorener Morast... man weiß nie, was man gerade unter den Füßen hat.«

Der Himmel verfinsterte sich zusehends. Rings um Cooper brauste der Wind, abwechselnd pfeifend oder stöhnend wie ein Tier. Die ersten großen weichen Flocken fielen, legten sich auf den gefrorenen Matsch und froren ebenfalls sofort fest. Im Handumdrehen würden sie das gesamte Moor bedecken, so dass Cooper nichts mehr sehen würde.

»Verflucht, verflucht, verflucht!«

»Was machst du?«, erkundigte sich Fry.

Cooper gab keine Antwort, sondern öffnete die Heckklappe des Toyota, zog die Schuhe aus, balancierte auf einem Fuß und zog seine Wanderstiefel an. Dann streifte er die Windjacke über, setzte die Kapuze auf und zog den Reißverschluss hoch.

»Ben, antworte gefälligst. Was zum Teufel machst du da?«

»Ich nehme das Telefon mit. Ich versuche in Verbindung zu bleiben, je nachdem, wie da draußen der Empfang ist.«

Er suchte in seinem Rucksack nach dem Kompass, trockenen Sachen und einer Taschenlampe.

»Ben, du bleibst, wo du bist. Ich bin nur ein paar Minuten von dir entfernt. Wir müssen die Bergrettung alarmieren.«

»Das kann Stunden dauern, und es ist inzwischen schon fast dunkel.«

»Dann sollen sie eben einen Hubschrauber schicken.«

»Im Schneesturm? Wenn du mal nach Norden schaust, siehst du, dass gerade einer auf uns zukommt.«

»Ben, ich kann dich schon sehen. Bleib beim Auto!«

»Diane, wenn wir ihn entwischen lassen, finden wir Chloe nie.«

Cooper steckte das Handy in die Vordertasche seine Rucksacks und zog Handschuhe an. Dann stapfte er in Lawrences Spur den Hang hinauf. Nach etwa hundert Metern hörte er, wie ein Auto auf der Straße anhielt.

»Ben!«

Cooper ging weiter. Fry rief noch einmal hinter ihm her. Inzwischen klang ihre Stimme ganz anders, nicht mehr wütend, sondern ängstlich, fast flehend.

Cooper drehte sich um und sah sie stumm an. Es war definitiv der falsche Augenblick, um nach den richtigen Worten zu suchen. Worte, die etwas bedeuteten. Man konnte darauf wetten, dass Diane Fry stets den falschen Augenblick wählte. Cooper sah, wie sich die Schneeflocken auf ihre Schultern und auf ihr Gesicht legten und sich in Tropfen verwandelten, die auf ihren Wangen glitzerten. Ein Rest gesunder Menschenverstand zwang ihn, zu ihr zurückzugehen und zusammen mit ihr im Wagen auf Hilfe zu warten. Er starrte sie so lange an, dass er dachte, er würde ihren roten Schal bis in alle Ewigkeit sehen.

Dann drehte er sich um und ging weiter hinaus ins Hochmoor. Als Cooper sich ein letztes Mal umdrehte, sah er, dass Fry ihm in der Dämmerung immer noch nachschaute und der Schnee im Scheinwerferlicht ihres Wagens immer dichter fiel. Dann führte ihn der Weg in eine Senke, und Fry verschwand aus seinem Blickfeld.

Diane Fry erledigte die notwendigen Anrufe mit zitternden Händen. Danach konnte sie nur noch warten. Ben wusste, dass sie zu besonnen war, um etwas anderes zu unternehmen, und dass sie über genügend Selbstdisziplin verfugte, um nicht gegen die Vorschriften zu verstoßen. Sie würde ihren Impulsen nicht nachgeben, sondern auf die eindeutigen Prioritäten achten, die in diesem Fall Selbsterhaltung und Koordinierung der Rettungsmaßnahmen hießen.

Natürlich würde Cooper nie im Leben begreifen, dass es ihr erster Impuls gewesen war, ihm durch den Schnee zu folgen. Aber wenn jeder seinen Impulsen nachgab - wo käme die Welt da hin? In was für einem Schlamassel würden sie dann alle stecken?

Und Cooper würde niemals zugeben, dass das Schlimmste die Warterei war. Er würde nie erfahren, wie schwer es war, ganz allein im Wagen zu sitzen und zuzusehen, wie der Himmel sich verdunkelte und es immer heftiger schneite, bis der Schnee seine Spuren füllte und jedes Anzeichen seiner Anwesenheit auslöschte.

Fry schaltete die Scheibenwischer ein und betrachtete Coopers Toyota, von dem er immer behauptete, er würde ihn durch jeden Schnee bringen. Aber jetzt stand das Auto verlassen auf dem Parkplatz, während Cooper sich dem Schnee ganz allein stellte. So wie Fry ihn kannte, hatte er in seinem Eifer, ein Held zu sein, wahrscheinlich sogar vergessen, ihn abzuschließen.

Trotz der Heizung zitterte Fry. Aus irgendeinem Grund kam ihr die Akte in den Sinn, die sie in einer abgeschlossenen Schublade in ihrem Schreibtisch in der West Street aufbewahrte, und sie wusste plötzlich, dass sie diese Akte ohne zu zögern vernichten würde, falls Ben Cooper lebend zurückkehrte.

Das ferne Heidemoor sah im Zwielicht verblüffend künstlich aus, wie Styroporhügel, in deren weißer Oberfläche dunkle Risse klafften. Abgesehen von Ben Coopers unmittelbarer Umgebung war die Landschaft nahezu konturenlos. Man sah keinen Horizont, nur ganz hinten, wo die tief hängenden Wolken auf den Bergen lagen und stumm immer mehr Schnee auf das Moor fallen ließen, verschwammen die sanften Wellen ein wenig. Der einzige Orientierungspunkt war der nackte Fels des Irontongue Hill, der sich schwarz gegen den dunklen Hintergrund abhob.

Es war nicht schwer, Lawrence Daleys Spuren zu folgen. Zwar waren auch die Abdrücke anderer Wanderer zu sehen, aber Lawrences Spuren waren die einzigen frischen. Cooper versuchte den Wasserrinnen auszuweichen, versank jedoch ab und zu trotzdem bis zu den Knien in einer Wehe und musste sich mühsam wieder herausarbeiten. Der Schnee war zu kalt, um seine Kleider zu durchnässen. Stattdessen setzte er sich in kleinen, gefrorenen Klumpen in Hose, Stiefeln und Handschuhen fest. Das Stapfen durch die tiefen Schneewehen entzog seinen Beine die Kraft, und nach einer Weile begannen seine Waden zu brennen.

Er wusste, dass er Lawrence finden musste, bevor es vollends dunkel wurde. Bei diesem Wetter war es gefährlich, sich nachts im Moor aufzuhalten. Und nicht nur gefährlich, sondern tödlich für jeden, der nicht entsprechend ausgerüstet war. Je stärker der Schnee fiel, desto schwieriger war es, Lawrence irgendwo auszumachen, es sei denn, er konnte den Abstand verringern.

Er stieg immer höher und hielt dabei auf die Kuppe des Irontongue Hill zu, wo die Trümmer der Sugar Uncle Victor lagen. In den Felsspalten bedeckte der Schnee die dünne Eisschicht, die unter seinem Gewicht knackte und nachgab, während seine Stiefel im tieferem Schnee versanken. Doch er konnte keine andere Route wählen - es gab zu viele Rinnen und Schluchten und Felsspalten, zu viele unter hüfthohen Verwehungen versteckte Mulden, zu viele eisige Bäche und Entwässerungsgräben, in die man stolpern konnte.

Endlich entdeckte er einen Farbfleck im Schnee, der im Dämmerlicht kaum mehr sichtbar war. Cooper änderte die Richtung und hielt darauf zu. In etwa fünfzig Meter Entfernung konnte er Lawrences blaue Jacke erkennen. Es sah aus, als hätte sich der Buchhändler am Fuß eines Felsens zwischen den ersten verstreuten Flugzeugfragmenten nur einen Augenblick zum Ausruhen hingesetzt. Doch Cooper sah dem Buchhändler deutlich an, dass er vollkommen erschöpft war und Schmerzen hatte.

»Ich glaube, ich hab mir das Bein gebrochen«, stöhnte Lawrence. »Und meine Brust tut auch weh. Ziemlich schlimm.«

»Bewegen Sie sich nicht. Wir müssen warten, bis wir hier abgeholt werden.«

»Sie hätten mir nicht folgen sollen, Ben.«

Cooper befühlte Lawrences Wangen. Sie waren eiskalt. »Warum laufen Sie auch in diesen Kleidern durch die Gegend?«, schalt er ihn. »Sie hätten erfrieren können.«

»Ja ja«, sagte Lawrence. »Schon möglich.« Er hustete.

»Ich habe Neuigkeiten über Marie«, fuhr Cooper fort. »Ihr Großvater war Sergeant Dick Abbott.«

»Ja, ich weiß. Als Marie klein war, kamen ihre Eltern jedes Jahr mit ihr nach Derbyshire, um hier eine Mohnblume hinzulegen. Manchmal haben sie einen kleinen Urlaub daraus gemacht und sind ein paar Tage in Edendale geblieben. Im Winter ist es hier sehr ruhig. Es gibt nicht viel zu tun, außer in den Buchläden herumzustöbern. So habe ich sie kennen gelernt.«

Lawrences Stimme verebbte. Cooper sah ihm ins Gesicht. Er schien Mühe zu haben, die Augen offen zu halten. Er musste dafür sorgen, dass Lawrence nicht einschlief.

»Aber dann kam Eddie Kemp dazwischen.«

Lawrence antwortete nicht.

»Wussten Sie, dass Sie der Vater des Babys sind, Lawrence?«, fragte Cooper. »Wenn Marie es Eddie Kemp erzählt hat, dann muss sie es doch auch Ihnen gesagt haben. Kemp war eifersüchtig. Er hat sie geschlagen, als sie ihm sagte, dass das Kind von Ihnen ist. Die Untersuchung hat ergeben, dass sie von den Verletzungen zu geschwächt und erschöpft war, um es bis hinunter ins Tal zu schaffen, nachdem sie die Mohnblume hinaufgebracht hatte. Offensichtlich hat sie sich hingelegt, um sich ein wenig auszuruhen, und muss eingeschlafen sein. Das darf man auf keinen Fall machen, Lawrence. Hier oben kann man vor Entkräftung erfrieren.«

Aber Lawrence schien über etwas anderes reden zu wollen. »Es ging nicht um das Baby. Das Baby interessierte Kemp kein bisschen.«

»Was? Warum hat er sie dann geschlagen?«

»Er wollte ihr Angst einjagen. Ich glaube nicht, dass er ihr richtig wehtun wollte, aber er ist immer zu weit gegangen. Er wollte sie davor warnen, was passieren könnte, falls sie der Polizei erzählte, was sie wusste. Das war natürlich mein Fehler. Ich habe zugelassen, dass sie herausfand, um welche Art von Geschäften es ging. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wie sie das Ganze auffassen könnte.«

»Weil sie Dick Abbotts Enkelin war, natürlich. Sie muss ähnlich darauf reagiert haben wie Zygmunt Lukasz. Sie hat also gedroht, Sie alle anzuzeigen, stimmt's, Lawrence? Und Eddie Kemp fiel die Aufgabe zu, sie einzuschüchtern. Haben Sie etwas dagegen unternommen? Um Himmels willen... sie war schwer verletzt!«

Lawrence klang resigniert. »Das verstehen Sie nicht. Es ist alles viel zu kompliziert.«

»Nein, das verstehe ich nicht. Und ich verstehe auch nicht, warum Marie Kemp ihn nicht bei der Polizei angezeigt hat, nachdem er sie so verprügelt hat.«

»Weil er ihr mit etwas Schlimmerem gedroht hat«, sagte Lawrence.

»Etwas Schlimmerem?«

Wieder schien Lawrence unvermittelt das Thema zu wechseln. »Wussten Sie, dass Andrew Lukasz bei mir im Laden war?«

»Tatsächlich?«

»Er hatte ein Zigarettenetui dabei, das er gekauft hatte. Er rief mich an und sagte, er wolle die Namen der Leute wissen, die am Geschäft beteiligt sind. Er drohte damit, noch am selben Abend alles diesem RAF-Polizisten zu erzählen.«

»Wann war das, Lawrence?«

»Vor über einer Woche. Am Sonntag, dem Tag vor Maries...«

»Und? Haben Sie ihm alles verraten?«

»Nein. Er hat mir Angst gemacht. Ich wollte mich nicht allein mit ihm treffen, also hab ich Frank Baine angerufen. Er kam auch gleich mit Kemp zum Laden.« Lawrence hustete wieder. »Ich habe Verstärkung angefordert.«

»Aber Easton hat Lukasz am nächsten Tag immer noch gesucht. Folglich hat er sich nicht am Sonntagabend mit ihm getroffen.«

»Nein.«

Cooper fragte sich, wo Andrew Lukasz jetzt sein mochte. Aber die Zeit rann ihm durch die Finger, und ihm brannte noch eine wichtigere Frage unter den Nägeln.

»Wo ist das Baby, Lawrence?«

Diesmal antwortete Lawrence nicht. In diesem Moment hörte Cooper ein Geräusch, das rasch näher kam. Es schien aus östlicher Richtung zu kommen, um den Irontongue Hill herumzukriechen und den gesamten nackten Fels zu umhüllen. Es bewegte sich die Hänge herunter, schien immer näher zu kommen, während es gleichzeitig irgendwo in der Luft war, über der niedrigen Wolkendecke. Es schwoll an ... zu einem dumpfen Dröhnen, das die Luft vibrieren ließ, zu einem Brausen, das sich an der Felswand brach und alles ringsumher erfüllte.

In Erwartung eines Flugzeugs oder eines Hubschraubers hob Cooper den Kopf. Doch er sah nur die stahlgrauen Wolken, die sich bis zum Horizont erstreckten, dasselbe unaufhörliche Treiben Tausender Schneeflocken, die wie winzige Fallschirmspringer zu Boden trudelten.

»Wo ist das Baby, Lawrence? Wo ist Baby Chloe?«

Immer noch keine Antwort. Nach einigen Minuten wurde das Dröhnen leiser. Cooper hätte nicht sagen können, in welche Richtung es sich bewegte und ob es sich tatsächlich entfernte. Es wurde einfach nur gedämpfter, leiser und dumpfer, bis die Wolken es schließlich restlos verschluckten.

»Wir müssen Chloe finden, Lawrence. Wir müssen wissen, ob es ihr gut geht.«

Cooper rutschte ein Stück beiseite, um sein anderes Bein anzuziehen, das inzwischen eiskalt war und sich anfühlte, als gehörte es kaum noch zu seinem Körper. Jetzt war nur noch der Wind zu hören, der über das Hochmoor fegte, und das trockene Rieseln des Schnees, der an seinen Ohren vorbeitrieb.

Mittlerweile erschien ihm der Versuch, Lawrence eine Antwort zu entlocken, nicht mehr besonders Erfolg versprechend. Aber er musste den Buchhändler unbedingt am Einschlafen hindern. Verzweifelt überlegte er, was er noch sagen konnte.

»Ich weiß, dass Sie den Buchladen am Laufen halten wollten, Lawrence. Hat eigentlich jemand mal ein Buch von denen gekauft, die ich ausgezeichnet habe? Wahrscheinlich nicht, obwohl bestimmt echte Schnäppchen darunter waren. Außerdem hat mir der Besuch Ihres Ladens zu meiner neuen Wohnung verholfen. Ich glaube, Sie waren am Anfang ja nicht sehr begeistert, dass ich sie mir ansehen wollte. Wo wir gerade davon sprechen: Wäre es wohl zu viel verlangt, wenn Sie Ihrer Tante sagen würden, dass der Hund zu laut ist? Er kläfft die ganze Zeit, wenn er draußen im Hof ist, und reißt mich jeden Morgen aus dem Schlaf.«

Cooper blinzelte. Seine Augen tränten vom Wind, und das unendliche Weiß des Schnees trieb Schabernack mit seiner Farbwahrnehmung.

»Diane Fry holt uns hier bald raus«, versicherte er. »In solchen Dingen ist sie gut. Was sie will, schafft sie auch. Deshalb ist auch sie zum Sergeant befördert worden und nicht ich. Aber wer will schon Sergeant sein? Wer will schon einen Verwaltungsjob und den ganzen Tag Papierkram erledigen und sich mit den Problemen anderer Leute herumschlagen?«

Er blinzelte wieder. Lawrences blaue Jacke sah inzwischen rot aus. Cooper hatte Farbenblinde kennen gelernt, die nicht zwischen Blau und Rot unterscheiden konnten. Aber er wusste, dass er nicht farbenblind war. Korrekte Farberkennung war eine der Grundvoraussetzungen für die Aufnahme in den Polizeidienst. Kandidaten, die die Grundfarben nicht voneinander unterscheiden konnten, und diejenigen, die stark schielten, wurden nicht angenommen. Das stand in den Bewerbungsunterlagen. Das konnte jeder auf der Website nachlesen.

»Jemanden wie Diane könnten Sie in Ihrem Laden auch gut gebrauchen«, redete er weiter. »Jemanden, der durchgreift und dem es nichts ausmacht, all die alten Bücher rauszuschmeißen, die sowieso niemand kauft und die nur Platz wegnehmen. Sie könnten Ihr Geschäft völlig anders aufziehen. Auf Diane können wir uns verlassen. Sie schickt uns bald Hilfe, ganz bestimmt.«

Rot, Weiß und Blau. Cooper fuhr sich mit dem Handschuhrücken über die Augen. Er musste sich die Farben einbilden. Aber er sah sowohl Rot als auch Blau im Schnee. Rot, Weiß und Blau. Sehr patriotisch. Er tastete nach seiner Taschenlampe und knipste sie an. Das Blau war Lawrences Jacke, das Weiße der Schnee. Und das Rote war Blut. Dunkles Arterienblut rann aus Lawrences Körper, verwässerte ein wenig im Schnee, ehe es verdickte und gefror und dabei den Schnee rosa wie Erdbeereis färbte.

»Lawrence! Wo sind Sie verletzt? In der Brust? Sind Sie auf etwas gefallen?«

Vorsichtig schob er seine tauben Finger unter Lawrences Körper und ertastete Metall, einen scharfkantigen Splitter aus Stahl.

Cooper sah in Lawrences bleiches Gesicht und erinnerte sich wieder an die Irving-Fliegerjacke im Zimmer über dem Buchladen. So einen Irving-Anzug könnte er jetzt gut gebrauchen, um das unaufhaltsame Entweichen der Körperwärme zu verhindern, die zusammen mit dem Blut aus dem Verletzten sickerte. Ohne ihre Irving-Anzüge wären die Männer in den Lancaster-Bombern beim winterlichen Bombenangriff auf Deutschland erfroren. Heckschützen wie Sergeant Dick Abbott hatten trotz der beheizbaren Anzüge häufig Erfrierungen erlitten. Zygmunt Lukasz hatte zwei Finger bei dem Versuch verloren, das Blut zu stillen, das aus den Wunden seines Cousins quoll, als sie nebeneinander im Schnee gelegen und auf Hilfe gewartet hatten. Sogar jetzt sah Cooper die beiden polnischen Flieger in ihren RAF-Uniformen deutlich vor sich, wie sie nur wenige Meter von der Stelle entfernt lagen, an der er sich jetzt mit Lawrence befand. Rot, weiß und blau.

In der Ferne sah er ein Licht, dessen rechtwinklige Form im Dunkeln wie ein Leuchtfeuer über das wirbelnde Schneefeld blinkte. Einen Moment dachte Cooper an den hellen Stern, dem die Weisen aus dem Morgenland gefolgt waren. Doch dieses Licht kam von Norden, und es war eindeutig kein Stern. Es war das Schlafzimmerfenster eines ehemaligen Landarbeiters, hinter dessen vorhanglosen Scheiben vielleicht gerade in diesem Augenblick ein Mann saß und die Fehler bereute, die er in seinem Leben begangen hatte.

Ein Stück weiter westlich hob sich ein dunkler Umriss vom Schnee ab - der Steindamm vor dem Blackbrook-Reservoir. Cooper stellte sich vor, wie sich Fliegerleutnant Danny Mc-Teague vom Wrack seiner Lancaster entfernte und quer über das Moor lief, um Hilfe zu holen. In ein paar Minuten wäre es völlig dunkel, so wie damals, als McTeague von der Sugar Uncle Victor aufgebrochen war. Dann konnte er das Reservoir nicht mehr sehen, sondern nur noch das Licht.

»Zumindest haben Sie George Malkin geholfen, Lawrence«, sagte Cooper. »Seine Souvenirs haben ihm ein hübsches Sümmchen eingebracht, oder?«

Lawrence antwortete immer noch nichts. Ben Cooper starrte ihn an, als hätte er etwas gesagt, etwas besonders Kluges, was Cooper noch nicht in den Sinn gekommen war.

»Genau«, wiederholte er. »Sie haben George Malkin geholfen, stimmt's, Lawrence?«

Der Wind wurde noch stärker. Cooper spürte, wie ihm Eisschnee, der von der Kante der Schneewehe fortgetrieben wurde, auf den Nacken prasselte. Seine Ohren schmerzten immer heftiger, doch dieser Schmerz ließ sich nicht einmal ansatzweise mit dem vergleichen, was Marie Tennent durchgemacht haben musste, als sie in der Nacht ihres Todes im Schnee gelegen hatte. An den Stellen, wo seine Hand dem Schnee ausgesetzt gewesen war, sah sie rot und wund aus. Er rieb sie an seiner Hose trocken und steckte sie wieder in den Handschuh. Aber auch im Handschuh war schon Schnee, so dass er nicht besonders wärmte.

»Ich weiß, dass Sie nichts mit dem Mord an Nick Easton zu tun hatten. Und auch Maries Tod war nicht Ihre Schuld. Aber Sie müssen uns sagen, wo das Baby ist, Lawrence.«

War dieses dumpfe Peitschen in seinen Ohren das Geräusch eines Hubschraubers? Oder war es nur sein Herz, das darum kämpfte, das Blut durch seine Adern zu pumpen? Wenn er Lawrence davon überzeugen konnte, dass die Rettung nicht mehr fern war, beschloss der Buchhändler vielleicht, doch nicht zu sterben. Vielleicht raffte er sich noch einmal auf, dann könnten sie sich gegenseitig wärmen und beide überleben.

Aber Lawrence raffte sich nicht mehr auf. Sein Körper konnte niemanden mehr wärmen. Cooper legte sich über ihn und zog die Windjacke über sie beide, so dass nur noch ihre Köpfe und Füße herausschauten. Er musste den Hubschrauber hören können, damit er ihm seine Position signalisieren konnte. Er wusste zwar nicht, ob ihm das in dieser Finsternis gelingen würde, aber irgendwie musste es gehen. Er hatte nur seine Taschenlampe, und das Hochmoor war weit entfernt. Höchstwahrscheinlich hatte die Rettungsmannschaft Wärmebildkameras an Bord und konnte ihrer beider Körperwärme lokalisieren. Falls bis dahin noch etwas davon vorhanden war.

Ja... es war eindeutig ein Hubschrauber.

»Ich glaube, sie sind da, Lawrence«, sagte er.

Cooper legte seine Hand auf Lawrences Gesicht. Seine Finger berührten etwas Hartes, Kaltes, eine seltsame Erhebung auf Lawrences Wange. Es war eine einzelne Träne, die langsam auf seiner Haut festfror.