32

Bevor sie sich wieder auf den Weg nach Edendale machten, führte Ben Cooper eine Reihe Telefongespräche. Schließlich bekam er über etliche Umwege jemanden von der Antiquitätenhändlervereinigung an die Strippe, der auf Münzen und Banknoten spezialisiert war.

Fry wartete und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Armaturenbrett.

»Und? Hat er gesagt, warum das ganze Geld in Fünfpfundnoten geschickt wurde?«

»Wegen des Fälschens«, sagte Cooper.

»Wie das?«

»Offensichtlich haben die Deutschen das ziemlich groß aufgezogen. Sie dachten, sie könnten damit die britische Wirtschaft lahm legen und das Land in die Knie zwingen. Während des Krieges haben sie eine Zeit lang jeden Monat eine halbe Million falscher Banknoten gedruckt. Die Bank von England hat keine Banknoten im Wert von über fünf Pfund mehr herausgegeben, damit es sich nicht lohnte, Falschgeld herzustellen. Natürlich gab es damals noch Ein-Pfund- und Zehnshillingnoten. Aber die weißen Fünfer waren die Ersten, die wieder eingestampft wurden.«

»Damit ist George Malkins Schatz wertlos.«

»Nicht ganz«, sagte Cooper. »Heutzutage nicht mehr. Hätte er die Scheine geschickt auf den Markt gebracht, hätte er sie in den letzten paar Jahren ziemlich lukrativ umtauschen können.«

»Und wie?«

»Ich habe mir sagen lassen, dass diese Banknoten inzwischen Sammlerstücke sind. Mein Experte meint, für einen weißen Fünfer aus dem Jahr 1944 in gutem Zustand bekommt man heute sechzig Pfund.«

»Gütiger Himmel!«, entfuhr es Fry. »George Malkin hatte zweitausend Stück davon versteckt.«

»Ziemlich gut, was?«

»Und wir müssen alles der RAF zurückgeben. Nicht mehr ganz so gut.«

»Diese blöden Sammler«, sagte Cooper. »Warum können sie nicht im Hier und Jetzt leben? Sie verzerren doch sämtliche Maßstäbe.«

»Es ist wie überall sonst auch«, erwiderte Fry. »Die Sachen sind das wert, was die Leute dafür zu bezahlen bereit sind.«

»Das ist doch verrückt.«

»Man nennt es freie Marktwirtschaft, Ben. Deshalb bekommt ein Fußballer Millionen dafür, dass er einmal in der Woche gegen den Ball tritt, während du dir keine nette, freundliche Wohnung leisten kannst. Sehen wir der Sache ins Gesicht, mein Freund: Das, was du anzubieten hast, ist auf dem Markt einfach nicht gefragt.«

»Vielen Dank.«

»Bedank dich nicht bei mir, sondern bei der undankbaren Öffentlichkeit.«

Aber Cooper dachte nicht an seine eigenen Verhältnisse. Er hatte gelernt, keinen Dank zu erwarten. Er dachte an Walter Rowland an seinem Esstisch, der nicht mehr fähig war, eine Teetasse zu heben, der nicht mehr fähig war, sich selbst zu versorgen, und doch zu stur, um andere um Hilfe zu bitten. Er dachte daran, dass Rowland in einem Haus voller Dosenmahlzeiten verhungerte, weil er zu stolz war, jemandem einzugestehen, dass er nicht mehr mit dem Büchsenöffner umgehen konnte. Und er dachte an einen alten Mann, der die Heizung nicht anschaltete, weil er Angst hatte, die Stromrechnung nicht bezahlen zu können. So viel war der Gesellschaft das wert, was Walter für sie getan hatte. Und George Malkin hatte seiner Frau beim Sterben zugesehen, weil er nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass es Leute gab, die für eine Tasche voll ungültiger Geldscheine weit mehr bezahlten, als für die Behandlung seiner Frau erforderlich gewesen wäre.

»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Fry. »Soll ich raten?«

Wie üblich war Lawrence Daley allein im Buchladen und sah Cooper und Fry, als er endlich auf ihr hartnäckiges Klopfen reagierte, empört über den Brillenrand an.

»Heute schon Kunden gehabt, Lawrence?«, fragte Cooper.

»Ich tu mein Bestes. Ein Kunde hier, ein Kunde da, Sie wissen ja. Bis zum Jahresende will ich meine Zahlen verdoppeln. Was kann ich für Sie tun?«

»Es gibt noch andere Dinge im Leben außer Büchern«, erwiderte Fry. »Dürfen wir reinkommen?«

»Aus Büchern erfährt man alles, was man wissen will. Alles über das Leben, den Tod, die Liebe und die Besonderheiten des Anlassers beim 1968er Ford Capri.«

»Auch über Flugzeugwracks?«, fragte Cooper.

»Wie bitte?«

»Sie verkaufen Bücher über Flugzeugwracks.«

»Das wissen Sie doch. Sie haben neulich welche gekauft.«

»Ich habe erfahren, dass eine ziemlich rege Nachfrage danach besteht. Und nicht nur nach Büchern. Auch nach anderen Sachen. Souvenirs. Erinnerungsstücke.«

Lawrence nickte. »Kann sein.«

»Die bringen einen guten Preis, was? Ich kann mir gut vorstellen, dass mit Flugzeugsouvenirs mehr Profit zu machen ist als mit Büchern, die nie aus ihren Regalen herauskommen. Eine kleine Geschäftserweiterung?«

Lawrence sah Cooper forschend in die Augen und fingerte an seinem Schlüsselbund herum.

»Würden Sie uns den Raum über dem Laden zeigen, Lawrence?«, bat Cooper.

Der Buchhändler nahm die Brille ab und suchte in seiner Weste nach dem kleinen Schraubenzieher. Ohne Brille sahen seine Augen sehr müde aus.

»Ich tue nichts Illegales«, meinte er.

»Dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen, oder?«, konterte Fry. »Gehen Sie bitte voran.«

Lawrence Daley führte sie an dem Schild mit der Aufschrift Nur für Personal vorbei zum Fuß einer nackten Holztreppe. Die Treppe war schmal und unbeleuchtet, und die Stufen knarrten. Ihre Schritte hallten im Treppenhaus wider. Nachdem sie halb um eine Ecke gebogen waren, mussten sie auch auf den Rest Licht aus dem Laden verzichten. Der Weg wurde lediglich von einer nackten Glühbirne am oberen Treppenabsatz und ihren Reflexionen in den zahlreichen kleinen, von Steinstreben unterteilten Fenstern in der hinteren Hauswand erhellt. Der schwache Schein ließ dichte schwarze Spinnweben erkennen, die unter der Decke hingen. Der Handlauf unter Coopers Fingern fühlte sich klebrig an, doch er traute sich nicht, ihn loszulassen, für den Fall, dass die Treppe plötzlich unter ihm nachgab und seine Füße keinen Halt fanden.

Das Gebäude musste früher einmal das Stadthaus einer wohlhabenden Familie gewesen sein. Es war hoch und weitläufig, und der Buchladen nahm nur ungefähr die Hälfte ein. Die Treppe, die sie hinaufstiegen, war so schmal, dass sie damals nur von den Dienstboten benutzt worden sein konnte, von denen erwartet wurde, dass sie dünn und unterernährt waren. Wahrscheinlich erwartete man von ihnen auch, dass sie im Dunkeln sehen konnten und den Winter ohne Heizung überstanden.

An den Scheuerleisten und auf den Fensterbrettern sah Cooper hier und da Mäusekot liegen. Vielleicht sollte sich Lawrence bei Gelegenheit eine Katze anschaffen.

Lawrence blieb stehen und klimperte wieder mit dem Schlüsselbund. Sie standen in einem staubigen Flur, der, was Cooper nicht weiter erstaunte, von hohen Bücherstapeln gesäumt war. Weiter hinten gab es noch zwei oder drei Türen, die jedoch wegen der vielen Bücher davor nicht zugänglich waren. Gleich rechts neben der Treppe, ein wenig unter der Dachschräge verborgen, befand sich eine unverstellte Tür. Inzwischen mussten sie ungefähr auf Traufhöhe des Gebäudes sein.

Fry stand hinter ihm, unmittelbar unter einem der Maßwerkfenster. Cooper drehte sich um und wechselte einen Blick mit ihr. Auf ihrem Gesicht lag ein eigenartig fleckiges, von den staubigen Fensterscheiben gebrochenes Lichtmuster.

»Kein Wunder, dass Leute wie Eddie Kemp nie arbeitslos werden«, bemerkte sie.

Sämtliche Türen waren schmal und niedrig, als wären sie für Zwerge angefertigt worden. Die Farbe, die früher einmal dunkelgrün gewesen sein musste, blätterte inzwischen ab, und auch die braunen Bakelitgriffe hatten im Lauf der Jahre sichtlich gelitten. Auf dem Boden lag kein Teppich, wahrscheinlich hatte auch nie einer dort gelegen. Cooper fröstelte. Es war kalt in diesem Flur, so kalt wie in George Malkins Bauernhaus, aber die Kälte fühlte sich anders an. Malkins Haus war von einer kalten Leere durchdrungen, hier hingegen schien es von Phantomen nur so zu wimmeln. Cooper stellte sich einen Haufen bleicher, dürrer, in Lumpen gehüllter Gespenster vor, die Tag und Nacht unaufhörlich hin und her gingen und ihren Herrschaften Kerzen und Waschschüsseln mit heißem und kaltem Wasser brachten.

»Praktisch, so ein Dachboden«, bemerkte Fry. »Haben Sie schon mal daran gedacht, ihn an Studenten zu vermieten?«

Bei der Aussicht auf ein zusätzliches Einkommen als Vermieter leuchteten Lawrences Augen kurz auf. Doch dann fiel sein Blick auf die Bücherstapel, und seine Miene verfinsterte sich wieder.

»Ich glaube, das geht nicht.«

»Schauen wir uns lieber dieses Zimmer hier an«, schlug Cooper vor. »Deswegen sind wir schließlich heraufgekommen.«

Das Zimmer im ersten Stock über Eden Valley Books war mit Flugzeug-Memorabilia voll gestopft, von denen die meisten aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Eins der auffälligsten Stücke war die Irving-Jacke eines RAF-Piloten, die Ben Cooper wie angegossen passte. An manchen Stellen hatte jemand das Leder ausgebessert, aber die Reißverschlüsse und der Gürtel funktionierten noch, und das Futter war sehr warm. Am liebsten hätte er die Jacke gar nicht mehr ausgezogen.

»200 Pfund«, sagte Lawrence. »Mit Original-Aufnäher vom Verteidigungsministerium und allem Drum und Dran.«

»Darauf würde es mir nicht ankommen.«

Eine Cockpit-Uhr war auf 1940 datiert. Auf dem Schild stand, sie sei in einwandfreiem Zustand, obwohl sie zwei Minuten vor halb fünf anzeigte. Sie war mit 75 Pfund ausgezeichnet. Eine lederne Fliegerhaube mit angeschlossener Sauerstoffmaske schien mit 450 Pfund eines der herausragenden Ausstellungsstücke zu sein. Cooper fiel sofort auf, dass Lawrence sich mit dem Auspreisen seiner Sammlerstücke offenbar erheblich mehr Mühe gab als bei seinen Büchern.

»Das hier ist absolut legal«, sagte Lawrence.

»Kommt drauf an, woher die Stücke stammen, würde ich sagen. Wo kommen sie denn her?«, sagte Fry.

»Sie werden mir geliefert.«

»Kriegen Sie von den Lieferanten auch irgendeinen Herkunftsnachweis dazu?«

»Selten. Aber diese Leute sind Sammler oder andere Händler. Was sie mir bringen, geht schon jahrelang von Hand zu Hand.«

»Wenn Sie den Verdacht hätten, dass etwas davon gestohlen oder unrechtmäßig erworben sein könnte...« »Dann lasse ich die Finger davon.«

Fry nickte. »In diesem Fall haben Sie Recht. Dann ist es tatsächlich legal.«

»Haben Sie auch Medaillen?«, fragte Cooper.

»Hin und wieder.«

»Ich dachte an eine bestimmte. An die Canadian Distinguished Flying Cross.«

»Ich glaube nicht, dass ich so eine jemals hier hatte.«

»Hat man Ihnen jemals eine angeboten?«

»Soweit ich mich erinnern kann, nicht. Manchmal bekomme ich ganze Partien Ramschware. Die sortiere ich nicht jedes Mal aus. Gut möglich, dass ab und zu eine Schachtel mit Medaillen dabei ist.«

»Heißt das, dass jemand in Ihrer Ware eine solche Medaille gefunden haben könnte? Ein kanadisches DFC?«

Lawrence zuckte die Achseln. »Möglich.«

Cooper ging zum Tisch am anderen Ende des Zimmers. »Und was ist das hier?«

Er nahm eine Tasche in die Hand. Es war eine Ledertasche mit Klappen, die wie eine große Akten- oder Satteltasche aussah. Auf dem Schild stand: Original RAF-Geldtasche aus Leder, 1945.

»Wo kommt die her, Lawrence? Wie viel haben Sie George Malkin für seine Sammlung gezahlt?«

»Ich bin Geschäftsmann«, sagte Lawrence. »Ich zahle Malkin das Gleiche wie allen anderen.«

Gegenüber dem Tisch gab es ein winziges Fenster, aus dem Cooper gerade eben hinausschauen konnte. Er rieb die Scheibe blank und sah in einen kleinen, von einem Sicherheitslicht erhellten Hof auf der Rückseite des Ladens, der sich zwischen mehreren hohen Gebäuden befand. Trotzdem musste es eine Zufahrt geben, denn Cooper sah ein zweiflügeliges Holztor in der Steinmauer gegenüber, deren Krone mit einbetonierten Glasscherben geschützt war.

»Was ist da unten im Hof?«, fragte Cooper.

Bedächtig suchte Lawrence einen anderen Schlüssel aus und öffnete eine Tür, die nach draußen führte und helles Licht sowie einen kalten Windstoß hereinließ. Cooper sah die obersten Stufen einer eisernen Feuerleiter, die an der Außenwand des Gebäudes hinunterführte. Unten im Hof sah es aus wie auf einem Schrottplatz. Alle möglichen Gegenstände lagen herum. Es schien sich vorwiegend um Motoren, Propeller, Räder und ein Stück Flugzeugkanzel zu handeln, doch viele Stücke waren auf den ersten Blick nicht zu identifizieren, da sie von einer Schneekruste bedeckt waren. Der Schnee dazwischen war mit Vogelspuren übersät, die ziellos hin und her zu führen schienen und des Öfteren den eigenen Pfad kreuzten. Wahrscheinlich waren die Vögel auf der Suche nach etwas Essbarem gewesen. Die Flugzeugkanzel gehörte zu den größten Objekten, und auf ihrer Schneekruste waren zwischen den Vogelspuren größere, tiefere Abdrücke zu erkennen. Offenbar gab es doch eine Katze.

»Ich sehe die Ware«, sagte Cooper. »Aber woher kommen die Kunden? Wie werben Sie für sich?«

»Das läuft hauptsächlich über eine Website.«

»Eine Website. Natürlich. Heutzutage hat jeder eine Website.«

»Die meisten Geschäfte werden nicht hier abgewickelt. Das hier ist Kleinkram, verstehen Sie? Die Website stellt nur den Kontakt zwischen den Leuten her, Sammlern aus der ganzen Welt. Wir brauchen die Site nur zu pflegen.«

»Haben Sie keine Kontrolle darüber, wer sie benutzt?«

»Wir überprüfen die Leute nicht auf Herz und Nieren. Selbst wenn uns jemand ein ganzes Flugzeug zum Verkauf anbietet, stellen wir keine Fragen.«

»Wer ist eigentlich >wir<?«, hakte Cooper nach.

Lawrence klimperte wieder mit dem Schlüsselbund und zog die Tür zu, als sei ihm die Aussicht peinlich. »Es zieht fürchterlich, wenn die Tür offen steht«, bemerkte er.

»Wer hängt noch mit drin?«, beharrte Cooper.

»Manchmal hab ich ein bisschen Hilfe«, räumte Lawrence ein. »Ein paar Leute, die sich für das Geschäft mit Luftfahrtarchäologie interessieren.«

»Wir brauchen Namen.«

»Das geht nicht. Diskretion...«

»Blödsinn.«

»Wer hat außer Ihnen noch Zugang zum Hof?«, fragte Cooper.

»Niemand«, antwortete Lawrence.

»Was ist mit Ihren Geschäftspartnern?«

Lawrence schien einen Augenblick nachzudenken. Dann drehte er sich zu Fry um, deren Gesichtsausdruck jedoch hart und mitleidslos war.

»Wir brauchen Namen«, wiederholte sie.

Als er endlich wieder in seiner Wohnung in der Welbeck Street war, war Cooper alles andere als erfreut, statt einer gleich zwei Katzen im Wintergarten vorzufinden. Die Katzenklappe war als Besuchereingang missbraucht worden. Der neue Bewohner war eine Rotgetigerte mit blauen Augen, und auch sie war ein regelrechter Ballon auf Beinen. Cooper fragte sich, wie sie es geschafft hatte, sich durch die Katzenklappe zu zwängen, ohne stecken zu bleiben.

»Und, wer ist denn dein dicker Freund da, Randy?«, fragte er.

Randy strich ihm um die Beine, als wollte er die andere Katze offiziell vorstellen. Cooper streckte die Hand aus, um den Neuzugang zu streicheln, als sein Blick auf den hängenden Bauch und die geschwollenen Zitzen fiel.

»Oh, nein. Ich hoffe, du gehörst jemandem. Hier bekommst du deine Jungen jedenfalls nicht.«

Doch dann schaute Cooper aus dem Fenster in den verschneiten Garten, sah die Eiszapfen, die von den Bäumen hingen, und musste feststellen, dass er genauso weichherzig wie Mrs Shelley war.

»Also gut, aber sobald sie auf der Welt sind, verschwindest du wieder«, sagte er mit fester Stimme. Beide Katzen sahen ihn an und schnurrten. Er hätte schwören können, dass sie ihn auslachten.

Was ihm seit jeher gefehlt hatte, war Körperkontakt. Und den konnte man von Tieren bekommen. Aber warum waren sie in mancher Hinsicht wie Menschen? Warum wollten Tiere einfach nicht lernen, dass es gefährlich war, jemandem rückhaltlos zu vertrauen?