20

Als Ben Cooper am Samstagmorgen aufwachte, dachte er an Marie Tennent. Er hatte geträumt, seine Arme und Beine seien aneinander gefroren, seine Trommelfelle und seine Nase seien erfroren und er könnte die Augen nicht mehr öffnen. Schließlich öffneten sie sich aber doch, und er sah sein Zimmer vor sich, jenes Zimmer, in dem er praktisch seit seiner Geburt geschlafen hatte.

Er zog den Vorhang einen Spalt breit auf. Das Fenster ging auf den Hof hinter dem Bauernhaus hinaus. Dahinter erhob sich ein steiler Hügel, der bis auf die obersten dreißig Meter mit dunklen Nadelbäumen bewachsen war, ehe weiter oben das Moor durchbrach. In seiner Kindheit hatte er die bewaldeten Hänge mit allerlei wilden Tieren bevölkert und mit aufregenden Geschichten gefüllt. Er war seinem Bruder Matt in manches wilde Abenteuer gefolgt, das zugleich unheimlich und aufregend gewesen war. Die Erinnerung versetzte ihm einen kleinen Stich des Bedauerns, als er daran dachte, dass er all das bald hinter sich lassen würde.

Obwohl es noch stockdunkel war, wusste Cooper, dass an diesem Morgen kein frischer Schnee gefallen war. Am schwarzen Himmel standen die Sterne fast stechend hell. Das Hochmoor war von einer Eisschicht bedeckt, so wie in der Nacht, in der Marie Tennent starb. Einen Augenblick lang versuchte er sich in Marie hineinzuversetzen, das Verlangen zu spüren, das sie bei einem derartigen Wetter auf den Irontongue Hill getrieben hatte. War es wirklich das Bedürfnis gewesen, das Skelett eines längst toten Babys zuzudecken, es vor der Kälte zu schützen, die es ohnehin nicht mehr spürte?

Cooper schüttelte den Kopf. Er würde es nie verstehen, nicht einmal wenn Marie vor ihm stünde und es ihm in ihren eigenen Worten erklärte. Viel zu viel Gefühl und zu wenig Logik.

Am Montag würde Marie Tennent nicht an oberster Stelle seiner Prioritätenliste stehen, obwohl eine Kopie ihrer Akte immer noch auf seinem Schreibtisch lag. Wie viel Zeit würde er wohl für sie erübrigen können? Vielleicht musste er sie unbearbeitet beiseite legen, bis er mehr Zeit hatte oder das Baby gefunden wurde oder bis die Gerichtsmediziner endlich Zeit für die Obduktion fanden. Er fügte Marie Tennent seiner langen Liste von Fehlschlägen hinzu, Fällen, bei denen er nichts ausrichten konnte, so gern er es auch getan hätte. Am Montagmorgen würde der Schneemann wieder ganz oben auf seiner Liste stehen, da er durch den Autopsiebericht zu einem Mordopfer geworden war. Damit war er sowohl dringlich als auch wichtig.

Aber heute war Samstag, und Cooper hatte frei. Heute war der Tag, an dem er die Bridge End Farm verließ. Es würde nicht lange dauern, seine Sachen zu packen.

»Der Laster steht draußen«, sagte sein Bruder Matt beim Frühstück. »Ich helfe dir beim Aufladen.«

»Ich nehme kaum etwas mit«, erwiderte Cooper. »Die Wohnung ist möbliert. Es ist erstaunlich, wie wenig Zeug sich all die Jahre bei mir angesammelt hat.«

»Was ist mit deinen Gewehren?«

»Die kann ich nicht mitnehmen. Sie müssen im Schrank bleiben, weil ich nicht weiß, wo ich sie sonst unterbringen soll.«

»Bald ist wieder Schützenfest, Ben. Du musst noch ein bisschen trainieren.«

»Ich weiß.«

Matt setzte sich und sah ihn hilflos an. Keiner von beiden wusste, was er sagen sollte. Matt stand wieder auf, um nicht länger nach Worten ringen zu müssen.

»Ruf mich, wenn du fertig bist.«

Cooper brauchte nur seine Kleider, den Computer und die Stereoanlage, ein paar Bücher, CDs und Bilder. Er kam sich vor wie ein Student, der zum ersten Semester an der Uni aufbricht und dessen Eltern darauf bestehen, ihn zur neuen Bleibe zu fahren, um sich zu vergewissern, dass es ihm dort auch wirklich gut ging. Das eine oder andere konnte er auf der Farm lassen, so dass sie in gewisser Hinsicht sein Zuhause blieb.

Das erste Bild, das er von der Wand nahm, hing am Fußende seines Bettes. Ihm fiel auf, dass er es eine ganze Weile nicht mehr betrachtet hatte. Andererseits war das auch nicht nötig, da er ohnehin jede Einzelheit darauf kannte. Jedes Gesicht in jeder einzelnen Reihe war ihm vertraut, sogar die Struktur der Wand hinter den Abgebildeten und der Betonboden unter ihren Stiefeln. Er hätte blind beschreiben können, wie sie die Arme hielten, wer von ihnen lächelte, wer eher misstrauisch in die Kamera blickte und wer seine Krawatte an diesem Morgen nicht korrekt gebunden hatte. Er wusste genau, wie sich der Mahagonirahmen anfühlte, die abgerundeten Ecken, die sanfte Erhebung im Holz neben der einen Ecke, die seine Finger immer wieder fanden. Er erinnerte sich an den kleinen Kratzer im Glas, der fast im Schatten eines Stuhles verschwand, auf dem einer der Beamten in der ersten Reihe saß. Wenn man das Bild ins licht hielt, wurde der Kratzer sichtbar. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er zustande gekommen war. Irgendwie war er schon immer da gewesen. Vorsichtig schlug er das Bild zuerst in Seidenpapier und dann in mehrere Schichten Zeitung ein, ehe er es zuunterst in den Karton legte. Mehrere weniger wichtige Fotos folgten. War das Bild besser geschützt, wenn es ganz oben läge? Doch es erschien ihm durchaus richtig, dass es unten lag, unter allem anderen, was sich im Lauf seines Lebens angesammelt hatte. Trotzdem würde es in der neuen Wohnung einen Ehrenplatz bekommen. Es würde ihr eine Art stillschweigende Anerkennung verleihen. Cooper wusste schon genau, wo er es hinhängen wollte.

Kaum war er mit Matt in der Welbeck Street angekommen, herrschte hektische Betriebsamkeit. Seine Schwägerin Kate kam mit den Mädchen, um sich die Wohnung anzusehen. Die drei ließen sich nicht davon abhalten, nach Putzzeug zu suchen und sämtliche Oberflächen in Küche und Bad zu wienern, bis sie glänzten. Matt stand im Wintergarten und musterte den kleinen, verwilderten Garten und die Rückwände der Häuser, die dahinter aufragten. Dann ging er durchs Wohnzimmer und schaute aus dem vorderen Fenster auf die Straße. Vor dem Haus gegenüber stand eine Reihe geparkter Autos. Tauwasser tropfte von den Dächern.

»Besser du als ich, Ben«, sagte er nach einer Weile.

Cooper wusste, was sein Bruder meinte. Obwohl die Welbeck Street nur ein paar Kilometer von Bridge End entfernt war, lagen Welten dazwischen. Aber er war fest davon überzeugt, dass er sich daran gewöhnen würde. Matt würde es wesentlich schwerer fallen, sich umzustellen, falls es jemals dazu kam, dass er den Hof verkaufen musste.

Cooper hatte herausgefunden, dass seine neue Vermieterin einen Jack-Russell-Terrier namens Jasper besaß, den er nun im Hof nebenan kläffen hörte.

Kurz darauf kam Mrs Shelley vorbei, um zu sehen, wie er zurechtkam. Lawrence Daley war bei ihr. Er trug eine Fliege und schüttelte allen die Hand, inklusive Josie und Amy, was dazu führte, dass sie noch eine halbe Stunde später hysterisch kicherten. Mrs Shelley sah Kate zu, wie sie die Küche putzte, und nickte beifällig.

Dann kam Coopers Schwester Claire vorbei und jammerte wie immer, sie habe eigentlich keine Zeit, trotzdem sei es ihr gelungen, ein paar Minuten für ihn abzuzwacken. Sie brachte eine Glückwunschkarte zum Einzug und eine Flasche Weißwein mit und war kurz darauf auch schon wieder in einer Parfümwolke zu ihrem Kunstgewerbeladen in der Bold Lane abgerauscht. Die Mädchen gurrten im Wintergarten über dem Kater, der dieses Ausmaß an Aufmerksamkeit sichtlich genoss. Er schnurrte so laut, dass die Scheiben vibrierten.

Cooper saß auf einem Koffer und beobachtete unbehaglich das Treiben. Er war von seiner Familie umgeben, von den Menschen, die er seit Jahren kannte, einige von ihnen schon sein ganzes Leben. Neunundzwanzig Jahre hatte er mit Matt unter einem Dach gewohnt. Doch nun, da sie sich alle an einem so wenig vertrauten Ort befanden, kam er sich mit einem Mal wie ein Fremder vor. In einer halben Stunde wären sie alle wieder weg, verschwunden wie das Meer bei Ebbe, und würden ihn hier wie ein Stück Seetang zurücklassen, das von den Wellen auf die Felsen geworfen wird und langsam in der Sonne vertrocknet. Er würde allein in diesem kleinen Haus bleiben müssen, von dem er nicht einmal wusste, wo sich der Stromzähler befand, während sie alle nach Hause fuhren.

Sogar Onkel John und Tante Margaret hatten unvermittelt auf der Schwelle gestanden und sich lobend über die Lage der Wohnung geäußert, bevor sie sich mit einer Entschuldigung wieder verabschiedeten. Sie alle waren aus Neugier gekommen, aus Verblüffung darüber, dass sich ein Mitglied der Familie auf diese Weise davonmachte. Denn genau das tat er in ihren Augen. Ein Cooper lebte nicht allein. Die Familie war dazu da, sich gegenseitig zu unterstützen – warum wollte Ben sich all dem entziehen? Er spürte, dass Claire und auch Tante und Onkel argwöhnten, dass eine Frau im Spiel war, jemand, mit dem er klammheimlich schon eine ganze Weile zusammen war. Bislang hatten sie aber noch keine Anzeichen dafür entdeckt. Cooper rechnete damit, dass sie ihm in nächster Zeit immer wieder einen Überraschungsbesuch abstatten würden.

Mrs Shelley hatte herausgefunden, dass Matt Bauer und damit der personifizierte Antichrist war. Sie verkniff sich zwar jeden Kommentar dazu, aber sobald er gegangen war, vertraute sie sich Cooper an.

»Ich kann Leute nicht ausstehen, die Tiere misshandeln«, sagte Mrs Shelley. »Welchen Respekt haben die wohl vor Menschen, wenn sie schon die Tiere schlecht behandeln? So was macht mich ganz krank.«

»Sie haben bestimmt Recht, Mrs Shelley.«

»Lassen Sie Miranda nicht auf die Straße, ja? Die Autos sind zu gefährlich. Die rasen wie die Verrückten durch die Straße, dazu haben sie noch die Musik voll aufgedreht und die Fenster offen. Musik! Ein Wunder, dass ihnen nicht der Schädel platzt!«

»Da haben Sie Recht.«

»Wie ich gesehen habe, hat Ihr Bruder trotzdem zwei Kinder«, fuhr Mrs Shelley fort. »Wie schön.«

»Matt sagt, sie kommen gerade in ein ziemlich schwieriges Alter.«

»Oh, ich weiß. Aber solange sie noch klein sind, sind sie niedlich. Ich habe Lawrence lange Jahre gepredigt, dass er Vater werden soll …«

»Tantchen, ich glaube, Ben möchte jetzt ein bisschen allein sein und sich erst einmal einleben«, unterbrach Lawrence.

Mrs Shelley kicherte. »Lawrence findet, dass ich zu viel rede. Sie kümmern sich doch um Miranda, ja? Ich kann sie ja leider nicht mit zu mir nehmen.«

»Wegen des Hundes, nehme ich an.«

Mrs Shelley starrte ihn mit finsterer Miene an. »Was ist denn mit dem Hund?«

»Oh, nichts.«

»Jasper ist der perfekte Wachhund. Er beschützt sein Heim und seine kleine Familie. Er lässt mich immer wissen, wenn jemand kommt.«

»Das glaube ich gern«, sagte Cooper und dachte an das übellaunige Kläffen, das er zuvor aus dem Hof gehört hatte. »Halten Sie ihn draußen oder drinnen?«

»Kommt drauf an, ob es sicher ist«, erwiderte Mrs Shelley.

»Er bellt, wenn er im Hof ist.«

»Oh, Jasper bellt in letzter Zeit auch im Haus, der Gute. Aber ich bin sowieso ein bisschen taub. Wenn ich den Ton am Fernseher ein bisschen lauter stelle, stört es mich nicht.«

Cooper war froh über die dicken Wände. Bis jetzt hatte er weder den Fernseher noch den Hund im Haus gehört.

»Nicht dass ich oft fernsehe«, fuhr Mrs Shelley fort. »Viel zu viele Nachrichten. Die kann ich nicht leiden. Ständig geht es um Leute, die anderen Menschen oder auch Tieren etwas Schlimmes getan haben. Wenn Nachrichten kommen, schalte ich sofort aus und unterhalte mich stattdessen mit Jasper, damit er sich nicht vernachlässigt fühlt.«

»Komm, Tantchen«, sagte Lawrence. »Wir wollten doch nur ein paar Minuten bleiben.«

»Na gut. Dann bis bald«, sagte sie. »Die Pflicht ruft.«

Dann war auch Mrs Shelley verschwunden, der kläffende Hund wurde hereingeholt; und alles war wieder still.

Cooper öffnete das Küchenfenster, um frische Luft hereinzulassen und den Geruch nach Desinfektionsmittel zu vertreiben, das Kate und die Mädchen überall großzügig verteilt hatten. Ein aromatischer Duft nach brennendem Holz wehte herein. Einer seiner Nachbarn machte ein Feuer im Garten, und es roch nach verbrannten Apfelzweigen. Vom Fenster seiner Wohnung aus konnte Cooper keine Bäume sehen. Sie mussten in den Gärten zwischen der Welbeck Street und den Läden auf der Meadow Road stehen und waren nur vom Wintergarten aus zu erkennen. Er überlegte, ob Mrs Shelley wohl erlauben würde, dass er ein kleines Fenster in die Rückwand des Schlafzimmers stemmte, um im Frühjahr die Apfelblüte sehen zu können. Wahrscheinlich nicht. Vielleicht gewöhnte er sich ja daran, nur Asphalt und Schieferdächer vor sich zu haben.

In seiner Tasche steckte immer noch die Telefonnotiz. Wahrscheinlich rechnete Morrissey inzwischen schon nicht mehr mit seinem Anruf. Er fragte sich, was sie hier in Edendale anfing, wenn die Leute sich weigerten, mit ihr zu reden. Vielleicht hatte Frank Baine ihr ein wenig die Stadt gezeigt.

Er wählte die Nummer des Hotels.

»Kann ich bitte Miss Alison Morrissey sprechen? Sie ist Gast bei Ihnen.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Noch immer standen ein paar kleine unausgepackte Kisten herum. In einer befand sich eine holzgeschnitzte Katze, Miranda nicht unähnlich, schwarz und übergewichtig. Cooper hatte sie vor Jahren geschenkt bekommen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, von wem. Jedenfalls hatte sie mehr als zehn Jahre in seinem Zimmer auf der Bridge End Farm gestanden.

Während er wartete, stellte er die Holzkatze auf das Fensterbrett mit dem Blick zur Straße. Behutsam rückte er die Figur so zurecht, dass sie ins Zimmer schaute, direkt auf den Lehnsessel, in dem er abends sitzen würde. Ihr dreistes Lächeln war bestimmt tröstlich.

»Hallo?« Morrisseys Stimme klang misstrauisch. »Wer ist da?«

»Ben Cooper. Sie hatten eine Nachricht hinterlassen.«

»Ach ja. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie zurückrufen.«

»Um ein Haar hätte ich das auch nicht getan.«

»Ich hatte mich gefragt, ob Sie wohl bereit wären, sich mit mir zu treffen. Anscheinend ist es mir nicht gelungen, mich hier irgendjemandem verständlich zu machen. Sie schienen zumindest interessiert zu sein. Ich hatte gehofft, dass Sie mir zuhören.«

»Aber nur absolut inoffiziell«, sagte Cooper.

»Von mir aus.«

»Morgen vielleicht? Morgen habe ich dienstfrei.«

»Wunderbar. Treffen wir uns im Foyer des Cavendish Hotels? Um halb zwölf?«

»In Ordnung.«

Cooper streichelte die Holzkatze und schaute hinaus auf die Straße. Er verspürte das Bedürfnis, sich mit den Einzelheiten seiner neuen Umgebung vertraut zu machen: mit den Farben der Haustüren gegenüber, den Mustern der Vorhänge in den Fenstern, den Marken und Modellen der Autos, die auf den Stellplätzen am Straßenrand parkten. Er prägte sich ein, in welchen Gärten Blumen wuchsen und welche ungepflegt und voller Unkraut waren. Er zählte die Mülleimer vor einem schmalen Durchgang, und er sah den Jack Russell, der hinter einem Eisentor stand und auf die Straße spähte. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er sich hier heimisch fühlen würde.

»Das ist also deine neue Bleibe!«

Cooper hätte beinahe die Lampe fallen lassen. Jeden anderen hätte er hier erwartet, aber nicht sie. Vielleicht einen seiner neuen Nachbarn oder ein weiteres Familienmitglied, das sehen wollte, wo er untergekommen war. Aber Diane Fry? Sie stand vor der Tür wie ein Gerichtsvollzieher und ließ den Blick prüfend über seine Habseligkeiten wandern, als müssten sie geschätzt werden.

»Ich war in der Gegend«, erklärte sie. »Da habe ich deinen Wagen draußen stehen sehen und mir gedacht, das muss es wohl sein. Nicht besonders groß, wie?«

»Für mich reicht es.«

Cooper stellte die Lampe vorsichtig auf einen Tisch, während ihm plötzlich bewusst wurde, wie bunt zusammengewürfelt sein Geschirr war und dass auf den Stühlen im Wohnzimmer immer noch Berge von Kleidern lagen. Fry löste ständig dieses Gefühl in ihm aus, als könnte er ihren Ansprüchen nie genügen.

Ganz oben auf einem Bücherstapel lagen die Bände, die er bei Eden Valley Books gekauft hatte. Diane Fry sah sie natürlich sofort.

»Die Geschichte der Flugzeugwracks im Peak District«, las sie. »Woher das plötzliche Interesse an diesem Thema, Ben?«

Cooper sah keine Veranlassung zu antworten. Was sie jedoch nicht davon abhielt weiterzubohren.

»Der Krieg ist lange her, Ben«, sagte sie. »Ehrlich gesagt verstehe ich überhaupt nicht, warum die Leute ihn immer noch den Krieg nennen. Seither hat es jede Menge andere Kriege gegeben.«

»Aber keinen, der so viele Leute direkt betroffen hat«, sagte Cooper. »Keinen, der das ganze Land verändert hat.«

»Wenn du meinst. Aber es sind doch eigentlich gar nicht irgendwelche alten Männer, für die du dich interessierst, oder?«

»Wie bitte?«

»Na ja, entschuldige, wenn ich falsch liege, aber dein Interesse an dieser Geschichte ist doch wohl ein wenig anders gelagert. Gibt es da nicht vielleicht einen kleinen zusätzlichen Anreiz? Eine Kanadierin namens Alison Morrissey vielleicht?«

»Was soll das denn heißen?«

Fry lächelte. »Pass auf, dass du den Kopf nicht in die Schlinge steckst, Ben. Konzentrier dich auf das, was wichtig ist. Nur weil du allein lebst, solltest du nicht gleich auf den erstbesten Menschen hereinfallen, der dir ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt. So was geht immer schief.«

»Das geht dich überhaupt nichts an.«

»Wenn es sich auf deine Arbeit auswirkt, schon, Ben. Und im Moment habe ich da so meine Zweifel. Du lässt dich zu leicht ablenken. Du kümmerst dich viel zu intensiv um die Angelegenheiten anderer Leute. Dafür wirst du nicht bezahlt. Wir können uns nicht leisten, dass du durch die Gegend fährst und alte Männer ausfragst, nur weil sich diese Kanadierin irgendwas in den Kopf gesetzt hat. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

»Das mache ich in meiner Freizeit«, verteidigte er sich.

»Dann achte darauf, Ben, dass es auch wirklich so ist. Ich behalte dich im Auge.«

»Gut.«

Cooper merkte, dass er unwillkürlich schwerer atmete. Er konnte nicht glauben, dass Diane Fry am Tag seines Einzugs in seine neue Wohnung spaziert kam, um ihn runterzuputzen. Entweder musste er sie hinauswerfen, oder er musste etwas finden, das ihn wieder auf den Teppich brachte.

»Möchtest du einen Kaffee, wenn du schon mal hier bist?«

»Hast du hier überhaupt eine Küche?«

»So was Ähnliches.«

»Dann gerne, vielen Dank.«

Cooper machte sich auf den Weg in die Küche. Zuerst musste er allerdings die Kiste mit dem Wasserkessel finden, dann die Einkaufstüte mit dem Pulverkaffee und der Milch auspacken, die er schon längst hatte in den Kühlschrank stellen wollen. Er lauschte auf irgendwelche Geräusche aus dem Wohnzimmer, hörte jedoch nichts. Vielleicht hatte Diane Fry alles, was sie sehen wollte, bereits von der Haustür aus gesehen und wollte sich nicht in einen Sessel setzen, auch wenn sie dabei nicht auf seinen Kleidern hätte Platz nehmen müssen. Er stellte fest, dass er keinen Zucker gekauft hatte, und drehte sich um, um sie zu fragen, ob sie welchen brauchte. Doch dann besann er sich eines Besseren. Er war sich so gut wie sicher, dass sie ihren Kaffee ohne Zucker trank.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, war Fry dabei, die Kiste mit den Bildern auszupacken. Sie hielt sie an die Wand und reihte sie säuberlich nebeneinander an ein paar Nägeln auf, die die Vormieter zurückgelassen hatten. Und sie hatte ein Tuch gefunden, mit dem sie das Glas über einem Druck von Richard Martin von einem kleinen Durchgang in einer Steinmauer mit dem Win Hill im Hintergrund abwischte.

»Hast du einen Hammer?«, fragte sie.

»Äh, ja … irgendwo.«

»Ich finde, das hier muss an die Wand da drüben.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

Cooper fand den Hammer, reichte ihn ihr, hockte sich mit seinem Kaffeebecher auf eine Sessellehne und sah zu, wie sie das Bild genau an die richtige Stelle hängte. Sie erledigte diese Aufgabe in ihrer typischen Art – korrekt und ohne großes Aufhebens darum zu machen. Cooper musste zugeben, dass sie die ideale Position für den Druck ausgesucht hatte. Hätte er sie allein aussuchen müssen, wären dazu wahrscheinlich mehrere Anläufe notwendig gewesen.

»Vergiss deinen Kaffee nicht, Diane«, sagte er.

»Ja, gleich.«

Sie ging völlig in ihrer Tätigkeit auf, kramte in der Kiste nach weiteren Bildern und wickelte schichtweise die alten Zeitungen ab, um zu sehen, was noch zum Vorschein kam. Einige recht banale Drucke von Fuchsjagden ließ sie liegen, dann fand sie ein größeres Bild ganz unten in der Kiste, das sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt war, damit es nicht beschädigt wurde.

Cooper wusste, was es war. Am liebsten wollte er ihr sagen, sie solle es wieder einpacken und zurücklegen; er wollte ihr sagen, dass es ihm nicht recht war, dass sie damit herumhantierte. Aber er schwieg und wartete ihre Reaktion ab. Er rechnete zumindest mit einem Kommentar. Jeder andere hätte etwas gesagt, irgendeine halblaute Plattitüde, ein paar unbeholfene Worte des Mitgefühls, ohne ihn dabei anzusehen.

Aber Fry sagte kein Wort. Und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich ebenfalls nicht. Sie hielt das Bild am Rahmen fest, wischte vorsichtig mit dem Tuch darüber und säuberte die verschmierte Glasscheibe. Und wieder wusste sie genau, wo das Bild hingehörte. Diesmal hatte auch Cooper seine eigene Vorstellung von der richtigen Stelle, brauchte aber nicht einzugreifen. Fry hängte das Bild mittig über den Kamin und rückte es so lange gerade, bis sie hundertprozentig zufrieden war. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete es, ehe sie das Tuch noch einmal zur Hand nahm und ihre eigenen kaum sichtbaren Fingerabdrücke abwischte. Cooper wunderte sich, wie behutsam, fast zärtlich sie vorging. So hatte er sie noch nie erlebt.

Es war ein Foto seines Vaters in Polizeiuniform, wie er stolz in der Reihe seiner Kollegen saß, die letzte Aufnahme von ihm, bevor er so gewaltsam auf der Straße umgekommen war. Die Art, wie Fry mit dem weichen Tuch über das Bild strich, bedeutete Cooper mehr als alles, was sie hätte sagen können.

Angesichts ihrer instinktiven Ehrfurcht spürte er einen beunruhigenden Kloß im Hals. Er wünschte, sie würde damit aufhören und ihren verdammten Kaffee trinken. Er hielt ihr den Becher hin und zwang sie damit, das Tuch wegzulegen. Ein paar Sekunden lang fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können, bis ihm seine Stimmbänder wieder gehorchten.

»Wo wolltest du denn gerade hin?«, erkundigte er sich schließlich.

Beim heiseren Klang seiner Stimme sah ihn Fry verblüfft an.

»Na ja, ich bin nicht immer im Dienst. Ich habe auch ein Privatleben.«

»Aha.«

Aus der Küche kam ein leises Geräusch, eine Art fragendes Gurren. Cooper drehte sich um und sah ein breites, schwarzes Gesicht und ein gelbes Auge, das Fry erwartungsvoll anblickte.

»Was um alles in der Welt ist das denn?«, fragte sie.

»Das ist Randy«, sagte Cooper. »Er gehört sozusagen zur Einrichtung.«

Frys Blick wanderte von Cooper zurück zu der Katze, die jedoch beschlossen hatte, vorerst auf Distanz zu bleiben.

»Das ist wieder mal typisch«, sagte Fry. »Nur du kommst auf die Idee, eine Wohnung inklusive eines vagabundierenden Untermieters zu nehmen.«

Danach schienen sie plötzlich keinen Gesprächsstoff mehr zu finden. Fry schaute zum Fenster, woraus Cooper schloss, dass sie sich auf den Weg machen wollte. Sie hatte ihren Auftritt gehabt, ihre Pflicht erfüllt, jetzt war sie bereit, sich wichtigeren Aufgaben zuzuwenden. Sie ging langsam zur Tür, wo sie stehen blieb und etwas aus der Tasche zog. Es war ein kleiner, in blaues Papier gewickelter Gegenstand.

»Wie du weißt, mag ich dich nicht besonders«, sagte sie. »Aber ich habe dir trotzdem was mitgebracht.«

»Danke.«

Cooper nahm das Päckchen und wog es in der Hand. Es war schwer für seine Größe. Er fing an, an dem Klebeband zu zupfen.

»Du musst es nicht gleich aufmachen«, sagte Fry und schlang sich ihren Schal um den Hals. »Wie ich sehe, hast du hier noch einiges zu tun.«

»Allerdings.«

»Dann bis Montag.«

Cooper sah ihr nach, wie sie die Welbeck Street entlangschlitterte. Offenbar hatte sie ihren Wagen unten an der Straße stehen lassen. Schon bald war sie außer Sichtweite. Cooper war aufgefallen, dass sie neue Schuhe angehabt hatte, und er fragte sich, ob sie welche mit rutschfestem Profil gewählt hatte.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und öffnete das kleine Päckchen. Sie hatte ihm eine Uhr gekauft.

 

Cooper dachte an die Vorteile des Alleinlebens. Er freute sich darauf, sonntagmorgens die gesammelten Wiederholungen der alten Archers-Folgen im Radio zu hören, ohne ständig von Videos oder Popmusik oder Kinderfernsehen gestört zu werden. Und da er ganz allein war, musste er sich an seinen freien Tagen noch nicht einmal anziehen oder rasieren. Solange er nicht aus dem Haus ging, konnte er im Bademantel oder einer alten Trainingshose herumlungern. Er konnte den ganzen Vormittag am Küchentisch Kaffee trinken, Toast essen und Zeitung lesen, wenn ihm danach war. Das heißt, falls er daran gedacht hatte, irgendwelche Zeitungen zu abonnieren. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als beim Kaffeetrinken und Toastessen die Katze anzuschauen. Vielleicht sollte er die Bücherkiste auspacken, die er mitgebracht hatte.

Schließlich kam er darauf, weshalb seine Gedanken so in seinem Kopf herumwirbelten. Er führte stumme Selbstgespräche, um die Stille im Haus zu überspielen. Er hatte noch nie in einem stillen Haus gelebt und bekam nun eine Ahnung davon, wie bedrückend, wie trostlos, ja wie erschreckend es sein würde, jeden Abend in eine leere Wohnung zu kommen. Jeden Abend würde die Post dort auf der Matte liegen, wo sie am Vormittag durch den Briefschlitz hereingefallen war; eine einzelne, ungespülte Kaffeetasse würde noch immer an der Stelle in der Spüle stehen, wo er sie am Morgen eilig abgestellt hatte; das Haus würde ihm vorkommen, als hätte es den ganzen Tag ein Eigenleben geführt, so dass seine Anwesenheit überflüssig, vielleicht sogar unerwünscht war. Und das sollte in Zukunft sein Zuhause sein?

Dieser erste Vorgeschmack auf die Einsamkeit kam völlig unerwartet – eine Art metallische Bitterkeit im Mund, die ihn daran erinnerte, wie er sich einmal beim Rugby-Spielen in der Schule einen Zahn abgebrochen hatte. Bei dem Versuch, einen tollkühnen Angriff abzublocken, hatte er einen Stiefel ins Gesicht bekommen. Der plötzliche Schwall Blut in seinem Mund hatte ihn einen Augenblick lang in Panik versetzt, ehe ihm übel geworden war. Er hatte den Geschmack seines eigenen Lebens gespürt, wie es zwischen seine Zähne sickerte und sich mit seinem Speichel mischte. Die Einsamkeit schmeckte genauso. Genauso bitter wie damals das Blut auf seiner Zunge.

Die Geräusche der Katze beruhigten ihn ein wenig. Das leise Tappen ihrer Pfoten auf den Wintergartenfliesen, das Rascheln, wenn sie sich in ihrem Körbchen umdrehte, sogar das leise Schnarchen, wenn sie schlief. Das waren nun die Geräusche, denen er gespannt lauschte. Ohne sie wäre das Haus tot und abweisend gewesen. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich vorstellen, weshalb Diane Fry so viel Zeit bei der Arbeit verbrachte.

Inzwischen war die Katze unbemerkt ins Wohnzimmer gekommen, saß auf einer Sessellehne und blickte ihn an. Als Cooper ihr Fell streichelte, spürte er eine kurze elektrische Entladung, und das Tier zuckte vor seiner Hand zurück. Die Luft war sehr trocken. Wahrscheinlich gab es in der Nacht wieder Frost.