18

Das Flugzeugmuseum Leadenhall hatte während der Wintermonate nicht täglich geöffnet, aber es war offensichtlich, dass auch sonst nicht viele Besucher kamen. Diane Fry und Ben Cooper fanden die Tore offen, und ein paar Freiwillige nutzten die Besucherflaute zur Wartung und Restaurierung der Flugzeuge.

In dem tiefen, düsteren Haupthangar stand eine mit Seilen abgesperrte Spitfire, deren Panzerung rings um die Schnauze abgebaut worden war. Ein Mann im blauen Overall hantierte mit einem Schraubenschlüssel in den Tiefen des Motors herum. Das Klirren von Metall auf Metall hallte im Hangar wider wie ein Kieselstein, der auf den Grund eines tiefen Brunnenschachtes fällt.

Eine zweimotorige Vickers Wellington schien die Hauptattraktion zu sein. Cooper trat an die Informationstafel unter der Nase der Maschine. Dieser Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg war aus einem entlegenen norwegischen Fjord geborgen worden, in den er 1941 gestürzt war, nachdem ihn ein deutsches Kampfflugzeug schwer beschädigt hatte. Das Segeltuch über seinem Rumpf war größtenteils weggerissen, darunter lag eine gitterartige Metallstruktur frei, außerdem konnte man einen Teil der Kanzel und den Kartentisch des Navigators sehen. Die Oberflächen des Flugzeuges waren tarngrün gestrichen, nur die Unterseite, die man gegen den Himmel sehen konnte, war schwarz.

Selbst in dieser Umgebung machte die Wellington einen wuchtigen Eindruck und erinnerte Cooper an etwas. Der Informationstafel hatte er entnommen, dass die Wellington-Bomber liebevoll »Wimpeys« genannt worden waren – nach einer pausenlos Hamburger futternden Gestalt aus den Popeye-Zeichentrickfilmen. Den Eindruck, den die Maschine auf ihn machte, war weit von der Drolligkeit eines Zeichentrickfilms entfernt. Der Vergleich, nach dem er suchte, war eher etwas Animalisches.

Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, drehte sich Cooper noch einmal nach der Wellington um. Die Plexiglasscheiben der Kanzel sahen aus wie zwei dunkle Augen, die über die lang gezogene Nase und über den vorderen Geschützturm in den Himmel jenseits der Hangarwände zu starren schienen. Für Cooper lag in diesem Anblick absolut nichts Heimeliges oder Nostalgisches. Für ihn besaß das Flugzeug eine Schnauze wie ein blutgieriger Jagdhund.

»Wann soll der Schneemann hier gewesen sein, Diane?«, erkundigte er sich.

Fry blieb neben der Schiebetür des Hangars vor mehreren Schautafeln mit Zeitungsberichten über Luftschlachten im Zweiten Weltkrieg stehen. Spitfire-Jagdgeschwader vernichtet acht Messerschmitts über Ärmelkanal.

»Am Sonntag, den 6. Januar.«

»Wahrscheinlich am Tag vor seiner Ermordung.«

»Vielleicht erinnert sich hier jemand an ihn, es ist schließlich erst eine Woche her. Abgesehen davon schieben sich hier nicht gerade die Menschenmassen durch.«

»Das stimmt schon, Diane, aber …«

»Was?«

»Ich sollte heute eigentlich das Personal im Snake Inn befragen und ihr Gedächtnis in Bezug auf Allradfahrzeuge auf Trab bringen. Du hättest genauso gut mit Gavin hierher fahren können. Den braucht bei den Kemps bestimmt niemand.«

»Stimmt, ich hätte Gavin mitnehmen können.«

»Und warum hast du es nicht getan?«

»Vielleicht wollte ich dich im Auge behalten.«

Draußen wusch ein älterer Mann in einem schlecht sitzenden Fliegeranzug mit Flügelabzeichen den Rumpf einer Avro Shackleton. Ausgerüstet mit einer Trittleiter, einem Eimer Wasser und einem Putzlappen, verrichtete er seine Arbeit überaus liebevoll, voller Konzentration und Ehrfurcht, wie ein Großvater, den man gebeten hat, die Windeln seines neugeborenen Enkelkindes zu wechseln.

»Vielleicht können wir den dazu überreden, die Fenster in der West Street zu putzen«, sagte Fry, »wo Eddie Kemp ja in Streik getreten ist. Sieht ganz so aus, als würde er seine Sache richtig gut machen.«

»Ich glaube, das hier ist eher ein Liebesdienst«, meinte Cooper.

»Putzen?«, schnaubte Fry ungläubig.

»Es kommt darauf an, was man putzt.«

»Das ist ein Flugzeug.«

»Allerdings.«

Sie schüttelte gereizt den Kopf. »Offenbar ist er nur eine Hilfskraft. Wir brauchen jemanden, der sich hier auskennt.«

Sie erkundigten sich im Museumsshop, doch die Frau hinter dem Tresen sagte, sie arbeite sonntags normalerweise nicht hier, ehe sie sie wieder zu der Shackleton und dem Mann mit der Trittleiter führte.

»Mr Illingworth?«, sagte Fry.

»Ja?«

Sie stellten sich vor. »Wir sind auf der Suche nach Informationen über diesen Mann«, erklärte Fry. »Wir glauben, dass er am letzten Wochenende hier war. Am Sonntag, den 6. Januar.«

Illingworth betrachtete das Foto. »Dann ist er jetzt wohl tot?«

»Leider ja, Sir.«

»Seltsam«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass die anderen das gewusst haben.«

»Die anderen? Welche anderen?«

»Die anderen Polizisten, die hier waren.«

»Wie bitte?«

»Erst vor zwei Tagen. Dann haben Sie ihn inzwischen wohl gefunden?«

»Mr Illingworth, soll das heißen, dass sich die Polizei bereits bei Ihnen nach diesem Mann erkundigt hat?«

»Ja, aber die anderen hatten ein Foto von ihm, auf dem er noch am Leben war.«

»Woher waren diese Polizisten?«

»Tut mir Leid, das weiß ich nicht mehr. Gehören die nicht zu Ihnen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Fry. »Wir kommen aus Derbyshire.«

»Ah, von außerhalb. Ich vermute, die anderen waren von der Polizei von Nottinghamshire.«

»Und sie wollten wissen, wer dieser Mann ist?«

»Nein. Es sah so aus, als wüssten sie das schon. Sie kannten sogar seinen Namen.«

»Und der lautete?«

»Tut mir Leid …«

»Sie können sich nicht mehr erinnern. Schon gut.«

Cooper sah sie an. Er wusste, was sie dachte: Mangelnde Kommunikation hatte nicht nur zu einer Verdopplung der Anstrengungen, sondern auch zu einem Zeitverlust von mehreren Tagen bei der Identifizierung des Schneemanns geführt. Gavin Murfin hatte mit Sicherheit in Nottinghamshire bei der Vermisstenstelle nachgefragt; schließlich war Nottinghamshire einer ihrer Nachbarbezirke. Fry presste wütend die Lippen aufeinander. Da würde jemand ziemlichen Ärger bekommen. Und ausnahmsweise war dieser Jemand nicht Ben Cooper.

»Warte hier«, sagte sie, »ich muss kurz telefonieren.«

Als sie davonging, zuckte Illingworth die Achseln. »Tut mir Leid, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern«, sagte er. »Hört sich ja nach einem ziemlichen Durcheinander an.«

»Haben Sie hier doch auch eine Lancaster?«, fragte Cooper.

»Ah, Sie interessieren sich für die Lanc? Ja, wir haben eine der wenigen, die’s noch gibt. Wir mussten sie sogar in Kanada kaufen, wussten Sie das? Bis auf einige wenige sind alle Lancs der RAF verschrottet worden. Oder man hat sie einfach vergammeln lassen.«

»Wo ist sie?«

»Sie steht in einem eigenen Hangar. Wir arbeiten noch daran. Da gibt’s noch so einiges zu tun. Ich glaube, sie wird gerade herausgebracht, um die Motoren anzuwerfen.«

Die Tore zum Hangar nebenan standen weit offen. Obwohl die Ausstellungsstücke durch Holzschranken geschützt waren, konnte Cooper darüber hinweggreifen und die Hülle der Lancaster berühren. Zu seiner Überraschung fühlte sie sich leicht und zerbrechlich an. Sie bestand lediglich aus von Tausenden winziger Nieten zusammengehaltenen Leichtmetallblechen; dass sie es jemals bis nach Deutschland und wieder zurück geschafft hatte, kam ihm wie ein Wunder vor.

Ein Strahl Wintersonne fiel durch die Plexiglasscheiben des Hangardaches. Das trübe Licht betonte hier und da kleine Details der Lancaster: das abblätternde rote Abzeichen auf dem Rumpf, eine mittels Schablone aufgemalte Zahl auf der Luke eines Notausstiegs, die festgebackene Rostschicht auf dem Lauf eines Vickers-Maschinengewehrs, der aus einem zertrümmerten Geschützturm ragte.

Ein kleiner Traktor zog das große Flugzeug ganz langsam am Fahrgestell hinaus aufs Rollfeld; reine Maßarbeit, da zwischen Flügelspitzen und Hangartor auf jeder Seite kaum ein halber Meter Platz blieb.

»Die meisten Leute hier arbeiten wahrscheinlich ehrenamtlich«, meinte Cooper. »Alles Flugzeugfans.«

»Genau. Ohne die könnten wir dichtmachen. Sie stecken ihre Zeit und ihre Kraft in das Museum, und manche auch ihr Geld. Es ist ein teures Hobby.«

Am Rumpf der Lancaster lehnte eine Metallleiter. Cooper konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen kurzen Blick durch die offene Tür zu werfen, und staunte über den beengten Innenraum des Flugzeugs, das von außen so riesig wirkte. Sah man vom Einstieg nach vorn, ragte der Hauptholm des Rumpfes fast bis zur Mitte des Durchgangs, wodurch hinter dem Cockpit nur zwei winzige Verschläge übrig blieben.

»Welche Besatzungsmitglieder saßen in diesen Verschlägen?«, erkundigte sich Cooper bei Illingworth.

»Der Funker und der Navigator. Das da drüben ist der Platz des Bordingenieurs, dort im Durchgang zwischen Navigator und Pilot. Und unten, direkt unter den Füßen des Piloten, in dieser Glasbeule da, lag der Bombenschütze. Er hatte die beste Aussicht von der ganzen Besatzung.«

Einige der Plexiglasscheiben sahen für Cooper reichlich neu und unversehrt aus, doch die Instrumente und die Innenausstattung waren allem Anschein nach noch original. Links von ihm, in Richtung Heck, wurde der Rumpf sogar noch schmaler. Am hintersten Ende einer dunklen Röhre erkannte er gerade noch die Rundung einer Schiebetür, die halb offen stand.

»Das da hinten muss der Gefechtsturm des Heckschützen sein.«

»Ganz recht«, bestätigte Illingworth. »Das ist der Platz für Tail-End Charlie, zweifellos der kälteste und einsamste Fleck in einer Lancaster. Da hinten war es so kalt, dass sich der Heckschütze in einen elektrisch beheizten Anzug packen musste, damit ihm nicht Arme und Beine einfroren und er damit einsatzunfähig war.«

Cooper erkannte, dass der hintere Turm auch zugleich die verwundbarste Stelle war. Es war die einzige Position, von der aus man nichts vom eigenen Flugzeug sehen konnte, da man ja rückwärts flog. Der Raum darin war äußerst begrenzt, kaum groß genug, dass ein Mann darin sitzen konnte. Durch das Plexiglas ragten die Verschlüsse von vier Maschinengewehren herein, und es war unmöglich, die Füße mehr als ein paar Zentimeter nach links oder nach rechts zu bewegen, da von dort die Patronengurte wie Fließbänder aus dem Boden des Turms heraufkamen.

Als ihm auffiel, dass Cooper sich für das Flugzeug interessierte, taute Illingworth zusehends auf. »Wie Sie sehen, sind der Pilot, der Bombenschütze und der Bordingenieur die einzigen Besatzungsmitglieder, die gut aus der Maschine hinausschauen können. Sie alle sitzen vorn. Der Navigator musste auf seinem Platz hinter einem Vorhang arbeiten; er bekam gar nicht mit, was draußen vor sich ging, abgesehen von den Informationen, die er über Kopfhörer bekam. Die Glashaube über seinem Platz ist die Kuppel für die astronomische Navigation, damit er sich nach den Sternen richten konnte, zumindest solange der Himmel klar war.«

»Natürlich.«

Aber in der Nacht, in der Uncle Victor abgestürzt war, war der Himmel über dem Peak District wolkenverhangen gewesen. Coopers Blick wanderte wieder zum Gefechtsturm des Heckschützen. Wegen des begrenzten Bewegungsspielraums durfte der Heckschütze nicht groß sein. Sergeant Dick Abbot war nur einsfünfundsechzig gewesen. Die Türen mussten sich problemlos hinter Abbot geschlossen haben, als er sich für seine letzte Reise eingeigelt hatte.

Cooper schauderte. Illingworth bemerkte seinen Gesichtsausdruck und lächelte grimmig. »Die Lancaster war dafür bekannt, dass man im Notfall nur sehr schwer rauskam. Und sie ging von allen Flugzeugen am schnellsten unter, wenn man auf dem Meer notlanden musste. Gibt einem zu denken, was?«

Bestimmt spukte es in dieser Lancaster. Cooper konnte sich gut vorstellen, wie sie nachts im dunklen Hangar stand – voller geisterhafter Geräusche … das leise Umlegen von Schaltern und Hebeln, das leise Gemurmel im Sprechfunk …

»Ich muss Sie jetzt leider bitten, ein Stück zurückzutreten«, unterbrach Illingworth seine Gedanken. »Gleich werden die Motoren angeworfen. Sie wollen doch nicht von den Propellern zu Hackfleisch verarbeitet werden.«

Widerwillig stieg Cooper von der Leiter. »Wie viel ist das Flugzeug wohl wert?«, fragte er.

»Wert?« Der Mann sah ihn verblüfft an, als hätte man von ihm verlangt, die Königinmutter zu verkaufen. »Wie sollte man einen Preis für sie festlegen? Sie ist unbezahlbar.«

»Und woher bekommen Sie die Ersatzteile, um sie wieder flottzumachen?«

»Von überall her, von Schrottplätzen, von Händlern, von anderen Museen. Das eine oder andere Teil müssen wir natürlich neu anfertigen lassen. Wenn wir sie wieder flugtüchtig machen wollen, brauchen wir unbedingt einen neuen Hauptholm. Und da so was nicht mehr einfach so herumliegt, müssen wir jemanden finden, der uns einen herstellt. Aber das ist noch Zukunftsmusik, jedenfalls für diese Maschine hier.«

»Haben Sie hier auch eine Sammlung? Ich meine, irgendwelche Erinnerungsstücke, Originalteile und solche Sachen.«

»Haufenweise. Drüben im alten Kontrollturm gibt es eine Ausstellung.«

»Vermutlich haben einige Ihrer ehrenamtlichen Helfer auch ihre Privatsammlungen.«

»Klar. Das sind echte Fans. Manche gehen völlig in ihrer Sammelwut auf. Sie geben ihr ganzes Geld aus, um sich die Wohnung mit solchem Kram voll zu stellen. Unglaublich. Aber wahrscheinlich ist es wie mit allem anderen auch: Wenn man auf etwas versessen ist, nimmt man so ziemlich alles in Kauf, um noch mehr davon zu kriegen, egal was man nun sammelt.«

»Es sind hauptsächlich Männer, oder?«, sagte Cooper.

»Tja, wie’s nun mal so ist.«

»Wer ist denn bei Ihnen so ein echter Fan? Können Sie mir da vielleicht ein paar Namen nennen, Sir?«

Illingworth spulte Namen herunter, bis Cooper ihn unterbrach: »Wer war der Letzte?«

»Graham Kemp. Also der ist ja völlig durchgedreht, was die Sammlerei angeht. Sobald er erfährt, dass es irgendwo was Interessantes gibt, fährt er quer durchs ganze Land. Er macht überall Urlaub, wo er Flugzeugwracks oder Schrottplätze besichtigen kann. Seine Frau kann’s schon nicht mehr hören.«

Mit einem explosionsartigen Knall setzten sich die Propeller der vier Merlin-Motoren langsam in Bewegung, so dass Illingworth gegen den Lärm anschreien musste. »Wir haben ihn schon eine Weile nicht mehr hier gesehen, aber er ist einer der eifrigsten Sammler, die ich kenne. Sind Sie hinter Kemp her?«

»Graham Kemp«, sagte Cooper nachdenklich. »Schon möglich.«

Fry erschien an der Ecke des Hangars. Sie sah nicht wesentlich glücklicher aus als vorher. »Nottingham hat keinen blassen Schimmer, wovon ich rede«, sagte sie. »Aber sie hören sich mal um.«

»Toll.«

»Toll? Ich bitte dich! Das ist absolut fantastisch.«

In diesem Moment sprangen die Motoren der Lancaster mit lautem Brüllen an. Der Rahmen des Flugzeugs bebte so heftig, dass Cooper sich wunderte, dass die Nieten nicht absprangen. Kein Wunder, dass die Besatzung jedes Mal halb taub und wackelig auf den Beinen war, wenn sie nach einem Feindflug wieder auf heimischem Boden stand.

Der Motorenlärm war ohrenbetäubend, aber auch aufregend. Er erinnerte Cooper an ein Orchester, dessen Musiker vor dem Konzert die Instrumente stimmen. Das Dröhnen und der Missklang bargen die Verheißung von etwas vollkommen anderem.

 

Diane Fry hörte skeptisch zu, als Ben Cooper ihr von Graham Kemp erzählte.

»Ein Verwandter von deinem Freund Eddie?«, fragte sie.

»Gut möglich. Ich glaube, er hat einen Bruder.«

»Vielleicht weiß der ja, wo Eddie steckt.«

»Ich kann seine Adresse jederzeit herausfinden.«

»Nein, Ben. Das hat Zeit.«

Fry verfiel in Schweigen. Cooper blieb eine halbe Stunde seinen eigenen Gedanken überlassen, während er in einen goldenen Sonnenuntergang hineinfuhr, der wie Honig über die Hügel des Dark Peak troff und dann nach Osten davonglitt. Die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete, wurde von langen, flachen Schatten verfremdet. In diesem Licht konnte Schnee schwarz aussehen, wohingegen die nackten Sandsteintürme wie poliertes Gold schimmerten.

Kurz vor Edendale ging die Sonne unter, so dass ihnen nur noch die Straßenlaternen, der nasse Asphalt und die schmutzigen Schneehaufen in den Straßenrinnen blieben. In jedem Haus, an dem sie vorüberkamen, waren die Fenster erleuchtet, und hinter den Vorhängen machten es sich die Bewohner in ihren kleinen Leben gemütlich. Die Berge waren irgendwo oberhalb der Stadt im Dunkeln versunken.

»Du hast übrigens noch zu tun, Ben«, sagte Fry, als sie sich der West Street näherten.

»Wirklich?«

»Wolltest du nicht noch die Leute in diesem Lokal befragen?«

»Im Snake Inn«, sagte Cooper.

»Genau.«

»Das ist ein ganzes Stück von hier entfernt.«

»Dann machst du dich wohl besser gleich auf den Weg.«

Auf dem Parkplatz sahen sie Gavin Murfin mit ein paar Leuten von der Spezialeinheit plaudern. Als er Diane Fry sah, zuckte er die Achseln.

»Das soll wohl heißen, ihr habt Chloe nicht bei Eddie Kemp gefunden, Gavin?«

»Keine Spur. Nicht eine einzige schmutzige Windel.«

»Das wundert mich nicht. Wenn in dieser Woche noch irgendetwas klappen sollte, kauf ich dir noch einen singenden Hummer.«

Wenn jemand auf irgendwelche Fahrzeuge hätte aufmerksam werden müssen, die nach Einsetzen der schweren Schneefälle am Dienstagmorgen die Straße noch passiert hatten, dann die Betreiber des Snake Inn. Nach beiden Richtungen gab es kilometerweit kein anderes Haus auf der A57, und das Gasthaus war auf Touristen und den Durchgangsverkehr zwischen Derbyshire und Manchester angewiesen. Hier fiel es sofort auf, wenn keine Autos vorbeikamen, außerdem war das Gasthaus bei heftigem Schneefall als Erstes von der Außenwelt abgeschnitten.

Doch als Ben Cooper die früheren Aussagen noch einmal sorgfältig mit dem Personal durchging, konnte sich niemand an ein Fahrzeug erinnern, abgesehen von den Schneepflügen, die sich von beiden Seiten zum Pass durchgefräst hatten. Insbesondere an den von Osten kommenden Pflug erinnerten sie sich, weil die Fahrer am Gasthaus angehalten hatten, um ihre Thermoskannen nachzufüllen – kurz bevor sie die Leiche fanden. An solchen Ereignissen hakte sich das Gedächtnis gern fest. Aber egal, wie oft Cooper die Aussagen auch durchging, niemand im Snake Inn erinnerte sich an ein Allradfahrzeug, das sich an jenem Morgen durch den Schnee gekämpft hätte.

Hatte also tatsächlich jemand unglaubliches Glück gehabt? Oder hatte die Leiche des Schneemanns schon die ganze Nacht in der Parkbucht gelegen, vor den Augen all jener, die diese Straße benutzt hatten? Cooper seufzte. Er musste Diane Fry sagen, dass sie ihr Zeitfenster ändern musste.

Vom Snake Inn aus war es kein großer Umweg von der Manchester Road in den Woodland Crescent in Edendale. In Wahrheit war es sogar eine Abkürzung. Cooper fuhr zunächst den Crescent bis zum Ende, wendete, fuhr wieder zurück und sah sich dabei um, ob Alison Morrissey und Frank Baine irgendwo in der Nähe des Bungalows der Lukasz’ herumlungerten. In der Einfahrt stand wieder der blaue BMW. Seine Windschutzscheibe war frei von Schnee und Eis, was darauf schließen ließ, dass jemand damit gefahren war und ihn erst vor kurzem dort abgestellt hatte. Wenn Peter Lukasz seine Schicht im Krankenhaus eben erst beendet hatte, dann war jetzt eine gute Gelegenheit, ihn zu erwischen.

»Wir sind mittlerweile gefragte Leute«, stellte Lukasz fest, als er die Tür öffnete. »Manche Leute merken einfach nicht, dass sie unerwünscht sind.«

»Ich dachte nur, vielleicht ist der Zeitpunkt jetzt günstiger, um mit Ihrem Vater zu sprechen«, sagte Cooper.

»Dafür gibt es keinen günstigen Zeitpunkt.«

»Können wir es nicht wenigstens versuchen? Nur ganz kurz?«

»Na schön. Wenn Sie mir dann eher glauben.«

Zygmunt Lukasz saß im Hinterzimmer an einem kleinen Tisch, vor sich einen aufgeschlagenen DIN-A4-Block mit liniertem Papier, auf den er etwas mit einem dicken Kugelschreiber schrieb. Eine Zeile nach der anderen füllte sich mit dichtem Gekritzel in seiner schnörkeligen Handschrift. Cooper fiel auf, dass die beiden mittleren Finger an der linken Hand des alten Mannes fehlten und dass an der Stelle, wo sie oberhalb des untersten Gelenks abgetrennt waren, zwei Stummel saßen.

»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Mr Lukasz?«

Der alte Mann sah nicht einmal auf, sondern sagte nur ein paar Worte in einer Sprache, die sich für Cooper wie Polnisch anhörte. Cooper blickte fragend zu seinem Sohn hinüber, dem das Ganze ein bisschen peinlich zu sein schien.

»Mein Vater meint, er hat Ihnen nichts zu sagen.«

»Haben Sie ihm erklärt, weshalb ich hier bin?«, fragte Cooper.

»Natürlich.«

Dann sagte der alte Mann wieder etwas, diesmal mit mehr Nachdruck.

»Und das heißt?«

»Er meint, die Kanadierin soll sich zum Teufel scheren«, antwortete Peter. »Entschuldigung.«

»Hat er ›Entschuldigung‹ gesagt?«

»Nein. Ich.«

Der alte Mann schrieb weiter. Der Stift bewegte sich langsam, aber gleichmäßig, füllte die Seite mit kräftigen, schwarzen Buchstaben, die dahinflossen und einander überschnitten, bis sie ein kompliziertes Geflecht geschaffen hatten, in dem jedes Wort mit den Worten darüber und darunter verwoben war. Cooper sah zu, wie Zygmunt den unteren Rand der Seite erreichte, umblätterte und praktisch ohne Unterbrechung weiterschrieb.

»Warum weigert sich Ihr Vater, mit mir Englisch zu sprechen?«, fragte Cooper.

Peter trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Einen Augenblick herrschte Stille, bis auf das leise Kratzen des Stiftes. Dann setzte der Alte einen Punkt an das Satzende und hob zum ersten Mal den Blick. Das Blau seiner Augen war so blass, dass es beinahe fahlgrau wirkte. Nur der Himmel an einem Wintermorgen konnte ein solches Blau annehmen, an einem klaren, kalten Tag, vom Hochmoor aus gesehen.

»Das verstehen Sie nicht«, sagte Peter.

»Ich weiß, dass Mr Lukasz sehr gut Englisch spricht. Er versteht, was ich sage. Aber er besitzt nicht die Höflichkeit, mir in einer Sprache zu antworten, die auch ich verstehen kann.«

»Das hat nichts mit Höflichkeit zu tun. Mein Vater glaubt, dass er nicht mehr in der Lage ist, in zwei Sprachen gleichzeitig zu denken. Er arbeitet auf Polnisch, deshalb denkt er auch auf Polnisch. Natürlich versteht er, was wir sagen, aber sein Verstand ist nicht mehr imstande, seine Gedanken in eine andere Sprache zu übersetzen.«

»Schade, dass er vergessen hat, mit anderen Menschen so zu kommunizieren wie mit seinen englischsprachigen Kameraden in der Sugar Uncle Victor«, sagte Cooper und hielt dem Blick des alten Mannes stand. Mit Genugtuung nahm er wahr, wie sich die blauen Augen einen Moment schmerzlich verfinsterten, als hätte sich die Öffnung in einer Wolkendecke kurz geschlossen, bevor sie wieder aufriss.

»Ich bitte Sie«, sagte Peter. »Ich glaube nicht, dass das sehr hilfreich ist.«

»Die Polizei kann jederzeit auf die Hilfe eines vereidigten Dolmetschers zurückgreifen«, sagte Cooper. »Wir haben eine ganze Liste. Aber das würde bedeuten, dass wir eine offizielle Vernehmung auf dem Polizeirevier durchführen müssten.«

Cooper hoffte, dass die beiden Männer nicht bemerkten, wie weit er sich damit aus dem Fenster lehnte. Er würde nie im Leben die Mittel für einen Dolmetscher bewilligt bekommen. In Wahrheit durfte er noch nicht einmal hier sein. Es gab keine offizielle polizeiliche Untersuchung, die sein Kommen gerechtfertigt hätte.

Zygmunt sagte noch einmal etwas. Bei den letzten Worten bewegte er abrupt den Kopf und schnalzte mit den Lippen, so dass ein Speichelregen über die voll geschriebenen Seiten niederging.

»Was sollte das denn heißen?«, fragte Cooper.

»Mein Vater meint, die Kanadierin soll ihren Dolmetscher gefälligst selber bezahlen«, sagte Peter.

»Und der letzte Teil?«

»Er wünscht ihr viel Glück.«

»Tatsächlich?«

Der alte Mann senkte den Kopf und widmete sich wieder seinen Aufzeichnungen. Cooper sah, wie die schwarze Tinte an den Stellen verschmierte, an denen der Speichel die Seite benetzt hatte. Doch der Stift glitt darüber hinweg und bewegte sich flüssig weiter, bis er wieder am unteren Rand der Seite angekommen war. Allein vom Zusehen wurde Cooper schwindlig. In dem ganzen Text schien es keinen einzigen Absatz zu geben.

Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Peter Lukasz folgte ihm und schloss sorgfältig die Tür hinter sich, so dass der Alte sie auf dem Flur nicht hören konnte.

»Tut mir Leid«, sagte er.

»Das sagten Sie bereits.«

»Es hat nichts mit Ihnen zu tun«, fuhr Peter fort. »Auch mit uns will er nicht mehr Englisch sprechen. Er kann es nicht, meine ich. Sein Verstand scheint momentan einfach nicht dazu fähig zu sein.«

»Was schreibt er da?«, fragte Cooper, als sie wieder in der Diele standen.

»Ich dachte, das hätten Sie längst erraten«, antwortete Lukasz.

»Nein.«

»Aus irgendeinem Grund kann er nur Polnisch schreiben. Ich glaube, es war die ganzen Jahre in seinem Kopf und hat darauf gewartet, herausgelassen zu werden. Es hat darauf gewartet, dass er zum Stift greift. Und am Ende hat er sich überwunden, bevor es zu spät ist.«

»Wozu überwunden?«, fragte Cooper.

»Licht in die Sache zu bringen. Verstehe Sie denn nicht? Mein Vater schreibt seinen Bericht über den Absturz von Sugar Uncle Victor.«