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Wenigstens war Diane Fry so klug gewesen, Cooper mit seinem Toyota nach Harrop fahren zu lassen. Sie hatte einen Blick auf die Karte geworfen und die immer engeren Höhenlinien gesehen, die den steilen Anstieg auf der anderen Seite des Snake Pass und den noch steileren Aufstieg nach Harrop markierten. Hier gab es immer noch vereinzelte Schneefelder und tückische Eisflächen, die mit der einsetzenden Dunkelheit noch schlechter zu erkennen waren.

Auf dem Weg nach Harrop kamen sie an einem abgestellten Streifenwagen vorbei, der in einer Parkbucht unweit des Irontongue Hill stand. Auf der Seite des Wagens stand die Adresse der Website angeschrieben: www.derbyshire.police.uk. Dort konnten die Bürger ein Grußwort des Polizeipräsidenten aufrufen und sich über die letzten Neuigkeiten zum Wettbewerb »Polizist des Jahres« informieren. Coopers Lieblingsseite war »Personal«, wo es hieß, Kandidaten für den Polizeidienst müssten im Gebrauch ›alltäglicher technischer Gerätschaften‹ wie Telefon und Schlagstock bewandert sein.

Einige Meter weiter gingen zwei Beamte in reflektierenden Jacken die Straße auf und ab und spähten in die gelben Streusandkisten, die die Gemeinde hier am Randstreifen aufgestellt hatte. Sie suchten immer noch nach Chloe.

»Ich habe gestern über Marie Tennent nachgedacht«, sagte Cooper.

»Ach ja?«, meinte Fry.

»Ich habe versucht, mir vorzustellen, warum sie es getan hat.

Warum ist sie dort hinaufgegangen und hat die Babysachen hingelegt?«

»Und? Ist es dir gelungen?«

»Nein«, erwiderte er. »Es erscheint mir irgendwie als Grund nicht plausibel genug.«

»Mir auch nicht.«

»Wenn wir nur mehr Zeit hätten, uns mit ihr zu beschäftigen! Ich würde es wirklich gern verstehen.«

»Erst mal müssen wir das Baby finden. Und das können wir anderen überlassen.«

Trotzdem fand Cooper, dass sich Fry nicht restlos überzeugt anhörte. Auch sie wollte mehr über Marie Tennent wissen. Aber es galt Regeln zu befolgen und Prioritäten zu setzen. Das Bedürfnis, die Beweggründe anderer Menschen zu verstehen, rechtfertigte nicht, noch mehr Zeit auf diesen Fall zu verwenden.

Sie fuhren eine Weile schweigend weiter und folgten den Kurven und Kehren des Snake Pass.

»Was macht die neue Wohnung?«, erkundigte sich Fry schließlich. »Schon eingelebt?«

»Klar. Ich finde sie sehr praktisch.«

»Jedenfalls hast du jetzt kein Problem mehr, pünktlich zur Arbeit zu kommen.«

»Das hatte ich nie«, meinte Cooper.

»Manche halten es für keine gute Idee, allein zu wohnen. Die Leute, mit denen wir zu tun haben, könnten deine Privatadresse herausfinden. Daran habe ich schon bei meinem Einzug in die Grosvenor Avenue gedacht, aber in der Welbeck Street steckst du echt mittendrin. Sozusagen auf dem Präsentierteller für jeden volltrunkenen Radaubruder, der aus seiner Stammkneipe torkelt und auf die Idee kommt, einem Polizisten schnell noch einen Backstein durchs Fenster zu werfen. Ich weiß zwar, dass du jedermanns Lieblings-Bulle bist, aber selbst du musst ein paar Feinde haben, Ben.«

»Das ist mir egal«, sagte Cooper. »Mit diesem Risiko kann ich leben. Dafür gehöre ich jetzt zur Gemeinde.«

»Oha«, sagte Fry. »Die Gemeinde.«

»Das ist kein Schimpfwort.«

»Aber auch nichts, was wirklich existiert, oder? Es ist ein Begriff aus unseren Berichten. Gemeindearbeit, gute Zusammenarbeit mit dem Gemeinwesen, so was. Verständnis für die ethnischen Minderheiten und ihre Gemeinden. Es ist nur ein Wort, Ben, nichts, worin man tatsächlich wohnt, jedenfalls heutzutage nicht mehr. Du lebst in der Vergangenheit. Du hättest vor fünfzig Jahren zur Welt kommen müssen. Das hätte dir bestimmt gefallen. Die Tage, als ein freundlicher Rat oder eine Ohrfeige noch die meisten Probleme gelöst haben.«

»Auch heute wirkt ein guter Rat manchmal Wunder.«

Der Toyota hatte den kleinen Berg oberhalb von Glossop erklommen, und vor ihnen öffnete sich der Blick bis hinüber nach Manchester. Von hier aus wand sich die Straße durch die westliche Hochmoorlandschaft, bis an die Stelle, wo die Steinwälle aufhörten und sich das Landschaftsbild veränderte.

»Ich mache mir Sorgen darüber, Ben, dass du dauernd mit den Gedanken woanders bist.«

»Wo denn?«

»Ich weiß nicht. Ich frage mich, ob es etwas damit zu tun hat, dass du vom Hof weggezogen bist. Ich weiß, dass es dir nicht leicht gefallen ist. Ich weiß auch, dass es nicht einfach ist, wenn man zum ersten Mal allein wohnt.«

Das hörte sich ja erschreckend nach einer fürsorglichen Diane Fry an. Aber in Wahrheit sorgte sie sich nicht um ihn. Ihr ging es nur darum, dass er seine Arbeit ordentlich erledigte. Zweifellos hatte man sie angewiesen, sich für das persönliche Wohlergehen ihrer Mitarbeiter zu interessieren. Wahrscheinlich war dies ihr erster Versuch, sozusagen eine kleine Fingerübung.

»Ben? Du warst schon wieder ganz woanders. Woran hast du gerade gedacht?«

»An nichts«, sagte er.

»Genau das meine ich.« Mit einem Mal klang ihre Stimme ganz anders.

»Was denn?«

»Du sagst nie, was du gerade denkst. Ich habe keine Ahnung, was in deinem Kopf vorgeht, aber manchmal hat es offensichtlich nichts mit deiner Arbeit zu tun. Es gibt einen Bereich in deinem Leben, in den du niemanden reinlässt.«

Cooper wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Deshalb sagte er lieber gar nichts, sondern fuhr einfach weiter.

Diane Fry war entsetzt über Harrop. Es war wie ein Außenposten des Wilden Westens, nur ohne Cowboys. Erstens gab es dort anscheinend keinerlei Straßen, sondern nur mit Schlaglöchern durchsetzte Feldwege, die manchmal kaum breit genug für einen Wagen waren. Es gab weder Straßenlaternen noch sonst irgendwelche öffentlichen Einrichtungen. Überhaupt nichts. Weder einen Pub noch einen Lebensmittelladen, noch eine Schule, nicht einmal eine Poststelle. Ja, nicht einmal eine Telefonzelle, so weit sie sehen konnte. Nur ein paar dicht gedrängte Häuser aus geschwärztem Stein, die sich hinter hohe Mauern duckten.

Über dem Dorf ragte die Rückseite des Irontongue Hill wie der Kadaver eines toten Wals auf, an dem sich die blanken Sandsteine wie verkrustete Entenmuscheln klammerten. Rings um Harrop lag immer noch tiefer Schnee auf den Feldern, der dort, wo die Weiden in offenes Heide- und Torfland übergingen, sogar noch tiefer wurde. Auf dem Streifen zwischen den Häusern und der felsigen Bergflanke drängten sich Schuppen, Scheunen und verfallene Hühnerställe. Bei manchen waren offenbar beim Bau die Natursteine ausgegangen, denn ihre Erbauer hatten mit Ytong-Steinen und Wellblech improvisiert.

Es war schrecklich trostlos hier oben. Unbewohnt und unbewohnbar. Wenigstens hatte Fry von weiter oben einen Blick auf Manchester werfen können – einer der seltenen Beweise, dass die Zivilisation nicht ganz außer Reichweite war. Dort unten in der Großstadt gab es Restaurants, Theater und anonyme Menschenmengen, Beton und Asphalt anstelle der unbarmherzigen Kälte, die in dieser gottverlassenen Hochmoorlandschaft durch ihre Kleidung kroch. Noch nie hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt.

»Wir müssen nach rechts abbiegen und dann noch ein Stück den Berg hinauf«, sagte Cooper.

»Noch weiter? Sind wir noch nicht hoch genug?«

»Hollow Shaw liegt ganz oben, auf der Hügelkuppe da drüben.«

»Verstehe.«

Erstaunlicherweise wurde der Weg sogar noch übler, je näher sie Malkins Wohnsitz kamen. Einmal stand ein zerzaustes Schaf mitten auf der Fahrbahn und kaute an einem Zweig, der aus einer Einfahrt ragte. Das Tier drehte sich in dem Augenblick zum Auto um, als es vom Scheinwerferlicht erfasst wurde. Das Licht reflektierte in seinen Augen wie in zwei kleinen Spiegeln. Schließlich trottete es widerwillig davon, während seine Hufe auf dem festgebackenen Schnee wegzurutschen drohten.

»Wenn du mich vorgewarnt hättest, wie es hier aussieht … Das ist wirklich der letzte Ort, den ich im Dunkeln aufsuchen würde«, bemerkte Fry.

»Ich schätze, bei Tageslicht sieht es etwas netter aus«, meinte Cooper.

»Willst du damit sagen, dass es hier manchmal auch hell wird?«

Als George Malkin die Tür öffnete, hatte er die Hemdsärmel bis zum Ellenbogen zurückgerollt, und die Härchen auf seinen kräftigen Unterarmen waren mit etwas Rötlichem verschmiert, das wie Blut aussah. Er hatte die Stiefel ausgezogen, trug aber dicke Socken, dazu einen löchrigen braunen Pullover und Überhosen aus Plastik über dem blauen Overall. Alles war feucht und klebrig.

Cooper spürte, wie Fry auf Malkins besudelte Unterarme starrte – bereit, die schlimmsten Schlüsse aus seinem Anblick zu ziehen. In diesem Augenblick stieg ihm die unverwechselbare Mischung aus Blut und Geburtssäften in die Nase, zugleich fruchtig und metallisch – der Geruch neuen Lebens.

»Haben Sie Frühlämmer bekommen?«, wollte er wissen.

»Ja. Ich helfe Rod Whittaker ein bisschen. Das ist der Bursche, dem das Land hier jetzt gehört. Er hat fünfzig Mutterschafe in seinen Ställen.«

»Wir haben nur ein paar Routinefragen, Sir«, sagte Fry, die sich angewöhnt hatte, landwirtschaftliche Unterhaltungen, von denen sie nichts verstand, einfach zu ignorieren.

»Ach ja?«, sagte Malkin. »Dann müssen Sie mit mir in den Lammschuppen kommen.«

»Wohin?«

»Hier entlang. Ich kann sie nicht lange alleine lassen.«

Sie folgten Malkin um das Haus herum, durch ein Tor und an einem großen Metallschuppen mit weit geöffneten Schiebetoren vorbei. Im Schuppen stand ein riesiger DAF-Sattelschlepper neben einem leistungsstarken Renault-Traktor, an dessen Front ein Schneepflug montiert war.

»Das ist wohl der Laster von Ihrem Freund«, bemerkte Cooper.

»Genau. Er stellt ihn hier unter.«

»Und der Traktor?«

»Rod arbeitet überall, wo er was kriegt. Wenn es wie jetzt schneit, kann er den großen Laster nicht fahren, aber die Gemeinde bezahlt ihn dafür, dass er die Straßen in der Gegend frei macht, also verliert er kein Geld. Er kann es sich nicht leisten, nichts zu verdienen. Muss ja für seine Familie sorgen. So ein Transportunternehmen ist genauso riskant wie die Landwirtschaft, aber er schafft es schon irgendwie.«

Sie gingen quer über den Hof auf ein anderes Gebäude zu.

»Rod lässt seine Herde immer auf den Wiesen hier grasen. Im Frühling schießt das Gras wie kleine grüne Raketen raus. Er kann sich’s erlauben, die Muttertiere früh lammen zu lassen – da hat er schon mal einen guten Anfang mit ihnen.«

»Sie haben den Hof aufgeteilt und das Haus für sich behalten«, stellte Cooper fest. »Wo wohnt Mr Whittaker?«

»Am anderen Ende vom Dorf«, antwortete Malkin. »Mein Vater hat das Land verkauft, als er die Farm nicht mehr halten konnte. Damals hat man noch gute Preise für Land bekommen, jedenfalls hat es gereicht. Rod gehört das Land und diese Gebäude hier. Natürlich hat er noch sein Transportunternehmen. Deshalb kann er nicht ständig hier sein und sich um die Schafe kümmern. Einen Helfer kann er nicht bezahlen, und bei mir weiß er, dass es mir nichts ausmacht.«

»Sie haben in Ihrem Leben bestimmt eine ganze Menge Schafe zur Welt gebracht«, sagte Cooper.

»Tja, das waren schon einige.«

Sie betraten den Schuppen, in dem es deutlich wärmer war als draußen. Der Schuppen war zur Hälfte mit Metallverschlägen ausgestattet, in denen schwarzgesichtige Mutterschafe standen. Cooper atmete tief den warmen Geruch nach Tieren und Stroh ein, während Fry einen Blick auf die Schafe warf und ein Stück zurückwich.

»Ich finde das keinen sehr passenden Ort. Können wir nicht zurück ins Haus gehen?«, fragte sie.

»Die hier sind gerade eben beim Lammen. Das sieht man doch«, brummte Malkin.

Fry starrte die Schafe ausdruckslos an. Cooper wusste, dass sie lediglich ein paar Schafskeulen und etliche Sonntagsbraten in ihnen sah.

»Die sehen doch ganz munter aus«, meinte sie.

»Man darf sie aber nicht alleine lassen. Stellen Sie Ihre Fragen ruhig hier.«

»Na schön. Kennen Sie diesen Mann?«, fragte Fry und zog ein Foto von Nick Easton hervor.

»Hat nicht viel Sinn, mir das unter die Nase zu halten«, sagte Malkin. »Ich hab meine Brille nicht auf.«

»Dann holen Sie sie.«

»Die ist im Haus. Dort, wo ich sie brauche.«

»Herrgott noch mal!«

»Ich plane meine Tage nicht danach, wann Sie hier raufkommen, verstehen Sie?«

Fry atmete tief durch. Cooper sah, wie sie bei den Gerüchen von Schafsdung, Stroh und saurer Milch das Gesicht verzog.

»Wir brauchen Informationen über einen gewissen Sergeant Nick Easton. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Nie gehört.«

»Er hat für die Royal Air Force gearbeitet.«

»Aha«, sagte Malkin. »Hat das was mit der Beschwerde zu tun?«

»Mit welcher Beschwerde?«

»Wegen der Tiefflieger. Ein paar von diesen Düsenjägern fliegen hier so tief drüber, dass sie uns fast die Schornsteine abrasieren. Außerdem erschrecken sie die Schafe zu Tode. Rod hat deswegen eine Beschwerde eingereicht. Er meint, dass er vielleicht wenigstens ein bisschen Schadenersatz kriegt.«

Fry musterte ihn verständnislos, ehe sie Cooper einen Blick zuwarf.

»Ich glaube, dazu müssten Sie nachweisen, dass die Flugzeuge irgendwelchen Schaden angerichtet oder die Schafe beeinträchtigt haben«, sagte Cooper. »Haben denn Muttertiere ihre Lämmer verloren?«

»Es hat überhaupt nichts damit zu tun«, warf Fry ein.

»Dann ist er also bei der RAF?«, fragte Malkin. »Sieht aus, als würde er auf diesem Foto Uniform tragen. Ich erkenne das Blau und die Mütze.«

»Schon, aber vielleicht haben Sie ihn ja auch in Zivil gesehen«, sagte Fry.

Malkin zuckte die Achseln. »Wie gesagt … ohne meine Brille …«

»Ist in letzter Zeit jemand von der RAF hier gewesen? Oder hat vielleicht jemand angerufen?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Malkin. »Aber ich geh auch nicht immer ans Telefon.«

»Ihr Name stand auf einer Liste von Leuten, die Sergeant Easton aufsuchen wollte. Fällt Ihnen irgendein Grund dafür ein?«

»Nein.«

»Sagt Ihnen der Name Lukasz etwas?«

Malkin spannte sich kaum merklich an. Bevor er antworten konnte, ging ein Schaf im Verschlag nebenan in die Knie und fing an zu brüllen. Malkin drehte sich um.

»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte Cooper. »Ich mach das schon.« Malkin akzeptierte das Angebot mit einem Nicken und reichte ihm stumm einen Ersatzoverall.

Verwundert sah Fry zu, wie Cooper seinen Wachsmantel auszog und den Overall überstreifte. Um ein Haar wäre ihr Malkins Antwort entgangen.

»Lukasz. Bei dem Namen klingelt’s irgendwie. Hat auch was mit der RAF zu tun, oder?«

»Sagen Sie es mir.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Cooper in den Verschlag mit dem blökenden Mutterschaf gestiegen war. Das Tier schrie immer noch. Ein Gebrüll aus voller Kehle, wie es eine Geburt eben mit sich brachte. Es gelang ihr zwar nicht, das Geräusch auszublenden, aber sie versuchte zumindest nicht darauf zu achten, was Cooper tat, während er sich über das Schwanzende des Schafes beugte. Was es auch sein mochte, das Schaf rollte wild mit den Augen, und das Brüllen wurde noch lauter.

»Ben! Was zum Teufel tust du da?«

»Ein Fuß ist verdreht«, sagte Cooper. »Haben Sie ein Stück Schnur, Sir?«

»Ja, da an der Wand vom Verschlag«, sagte Malkin.

Fry sah zu, wie Cooper etwas aufhob, das wie ein Stück blaues Nylonseil aussah, es in Seifenwasser tauchte und zu einer Schlinge band.

Dann bückte sich Cooper wieder. Fry war immer noch nicht hundertprozentig klar, was er da machte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht zu den üblichen Aufgaben eines Kriminalbeamten gehörte, der gerade eine Befragung durchführte.

»Ah … geht doch«, presste Cooper hervor.

Ein schmatzendes Geräusch war zu hören, dann das Platschen von Flüssigkeiten, die sich ins Stroh ergossen, und mit einem Mal verstummte das Schaf. Und als Nächstes ertönte ein anderes Geräusch. Es war nur ein leises Keuchen, wie das eines kleinen Kindes, dem etwas im Hals stecken geblieben ist. Plötzlich wollte Fry unbedingt sehen, was dort in dem Verschlag vor sich ging.

Malkin drehte sich wieder zu ihr um. »Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass er ein alter Flieger sein könnte. Vielleicht ein Pole, mit dem Namen? Sie sollten es mal beim alten Walter Rowland versuchen. Der war nämlich bei der RAF. Ist aber schon Ewigkeiten her.«

»Ja, ja«, sagte Fry ungeduldig.

»Interessiert Sie das denn nicht? Ich dachte, Sie wollten ein paar Fragen loswerden?«

Sie hörte Cooper im Stroh rascheln und dem Schaf etwas zumurmeln, als wäre er ein schwachsinniger Ziegenhirt.

»Es ist ein Schaflamm«, konstatierte er.

»Ah, sehr gut«, sagte Malkin, ohne sich umzudrehen. »Nur eins?«

»Das sage ich Ihnen gleich.«

Außer Ben Coopers Rücken in dem blauen Overall sah Fry überhaupt nichts. Sie wollte näher an den Verschlag herantreten, aber Malkin stand ihr im Weg.

»Jedenfalls«, sagte er, »weiß ich nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen soll. Was wollen Sie denn noch wissen? Ich weiß nicht, was dieses ewige Tamtam mit der RAF soll.«

»Schsch!«, sagte Fry.

Jetzt drang ein lautes, hohes Quieken aus dem nassen Stroh. Fry beugte sich über den Verschlag und erhaschte einen Blick auf etwas Dunkles und Feuchtes, das vor ein paar Minuten noch nicht da gewesen war. Es war ein Geschöpf mit winzigen, dünnen Beinchen, die ausgestreckt im Stroh lagen, und einem Kopf, der viel zu groß für den kleinen Körper war. Staunend beobachtete sie, wie es versuchte auf die Beine zu kommen, dabei bedenklich schwankte und die Ohren eng an den Kopf legte, als es versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Obwohl es noch nicht richtig sehen konnte, schürzte es bereits das Mäulchen und versuchte zu seiner Mutter zu gelangen. Es war gerade mal eine halbe Minute auf der Welt.

»Ein schönes, kräftiges Lamm«, lobte Cooper. »Wir lassen es gleich mal saugen.«

»Wo denn?«, fragte Fry.

»An den Zitzen der Mutter, wo sonst?«

»Es ist noch zu klein. Da kommt es doch niemals dran«, wandte sie ein. »Oder doch?«

»Du wirst schon sehen.«

Nach wenigen Augenblicken hatte sich das Lämmchen gestreckt, eine Zitze gefunden und stieß kräftig mit dem Kopf gegen den Bauch der Mutter. Das Muttertier neigte den Kopf und beschnupperte und beleckte das Lamm, das wie ein kleiner Hund mit dem Schwanz wedelte.

»Nicht zu glauben«, sagte Fry.

»Ein neues Leben«, sagte Cooper. »Das ist jedes Mal wieder ein ganz besonderer Augenblick.«

»Ich kann's gar nicht oft genug sehen«, sagte Malkin, worauf die beiden einen Blick tauschten, den Fry nicht deuten konnte, der sie aber eindeutig ausschloss.

»Sind wir fertig?«, Cooper knöpfte sich den Overall auf.

»Ah, ja«, sagte sie, obwohl sie sich kaum von dem Verschlag mit dem Lämmchen losreißen konnte.

»Wenn Mr Malkin noch etwas dazu einfallt, setzt er sich bestimmt mit uns in Verbindung.«

Fry reagierte sofort und reichte Malkin ihre Visitenkarte. Malkin nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen, damit sie nicht schmutzig wurde. Die Karte war weiß, glänzend und makellos. In dem Lämmerschuppen wirkte sie so fremdartig, als käme sie vom Mars.

Während Ben sich die Hände wusch, ging Fry zum Wagen zurück. Bevor er sich verabschiedete, klopfte ihm Malkin auf die Schulter. »Sie sind kein übler Bursche«, sagte er. »Ich könnt mir denken, dass Sie allein leben, stimmt's?«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Malkin zwinkerte ihm kurz zu. »Wie heißt es so schön: gleiche Brüder, gleiche Kappen. Ich wette, Ihr Mantel hat eine schöne große Tasche, stimmt's?«

»Ja.«

»Dann stecken Sie das hier ein. Ganz frisch, Sie müssen es nur sauber machen.«

Er schob Cooper einen in Zeitungspapier eingewickelten Packen in die Hand. Cooper befühlte ihn, um sich zu vergewissern, dass ihm der alte Mann nicht einige Kilo Crack oder eine Waffe zusteckte.

»Ich glaube, das darf ich nicht annehmen«, sagte er.

»Stell dich nicht so an, Junge. Ist doch nichts dabei. Aber sag nichts deinem Sergeant, ja? Die versteht das nicht.«

Malkin zwinkerte ihm wieder zu. Cooper wusste, dass Diane Fry draußen auf ihn wartete, aber er war sich ebenso darüber im Klaren, dass er den Mann bei Laune halten musste, wenn er an seine Erinnerungen herankommen wollte.

»Ich darf das nur annehmen, wenn ich Ihnen etwas dafür bezahle, Mr Malkin«, sagte er.

»Na gut, wenn's denn sein muss. Sagen wir fünfzig Pence.«

Cooper kramte ein Fünfzig-Pence-Stück hervor. Bis jetzt erwies sich das Single-Leben als ziemlich billig. Und er wusste sogar, wie man ein Kaninchen ausnahm und zubereitete. Er und Randy würden es sich schmecken lassen.

»Dann hat ja alles seine Ordnung«, sagte Malkin und zwinkerte abermals.

Nachdem die beiden Detectives fort waren, kehrte George Malkin sofort wieder zu den Schafen zurück. Er musste die Nabel der neugeborenen Lämmer mit Jod beträufeln, damit sie sich durch die Nabelschnüre keine Infektionen zuzogen. Und am hinteren Ende des Schuppens gab es noch etwas anderes zu tun - etwas, das er aufgeschoben hatte, als die Polizei gekommen war. Der Beamtin hätte es bestimmt nicht gefallen, und er hätte ihnen nur ungern gezeigt, was er in der Tasche hatte. Das, was er gerade aus dem Haus geholt hatte, als die beiden ankamen.

Malkin kümmerte sich gern um die lammenden Schafe. Er war froh, dass er sich nützlich machen konnte, froh, dass er wieder ein wenig in seinem alten Beruf arbeiten durfte. Er hatte schon Hunderte Lämmer auf die Welt geholt, und niemand musste ihm sagen, wie er es anstellen musste. Er konnte allein arbeiten, allein mit seinen Gedanken, die ihm Gesellschaft leisteten. Dank seiner Hilfe konnte Rod Whittaker in seinem Tagesjob arbeiten und den Schuppen am Abend übernehmen, wenn er zurückkam.

Es tat ihm Leid, dass Rod sich so abrackern musste, um über die Runden zu kommen. Der Junge war ein waschechter Bauer, aber er hatte nicht genug Geld, um den Hof richtig zu betreiben, und es gab nur wenig Hoffnung, dass er eines Tages mit seinen Schafen genug zum Leben verdienen würde. Heutzutage konnte niemand mehr richtig von der Landwirtschaft leben. Rod würde für den Rest seines Lebens Lastwagen fahren und gezwungen sein, sein Geld auf andere Weise zu verdienen. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, sah er müde und hohläugig aus, weil er wieder einmal eine ganze Nacht im Lämmerschuppen gedöst hatte.

Kurz bevor die Polizei kam, war ein Lamm tot geboren worden. Gegenüber hatte ein Schaf zwei Lämmer geboren, das zweite jedoch nicht angenommen und sich geweigert, das Jungtier zu säugen. Das kleine Lamm blökte, aber seine Mutter stieß es immer wieder zugunsten seines größeren, kräftigeren Geschwisters zurück, das energisch an ihren Zitzen saugte.

Weder das tote noch das verstoßene Lamm waren etwas Ungewöhnliches, und Malkin wusste genau, was er zu tun hatte. Er musste dem toten Lamm das Fell abziehen und um den Körper des Verstoßenen binden, um der Mutter des toten Lämmchens den richtigen Geruch zu bieten, damit sie es als ihr eigenes Junges akzeptierte. Es war eine uralte Methode, aber sie funktionierte immer. Schafe waren dumm - sie merkten nicht, dass man sie hereinlegt hatte.