FÜNFZEHNTES KAPITEL
Vom Schweigen, Sprechen und Verstehen
Im Gespräch mit Kriegskindern
Seit 2004 kommen Menschen zu meinen Lesungen, weil sie Kriegskinder sind. Jedes Mal bestätigt sich: Das Neue an der Thematik »Kriegskinder« sind nicht die Schrecken des Krieges. Es ist seit Langem bekannt, dass Kinder ganz besonders unter kollektiver Gewalt leiden. Neu ist, dass es sich hier um eine große Gruppe von Menschen handelt, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machten, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl gar nicht das Gefühl hatten, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu ihren wichtigsten Prägungen.
Bei meinen Lesungen haben sich im Laufe der Zeit die Schwerpunkte des Austauschs mit den Besuchern verschoben. Im ersten Jahr erlebte ich häufig folgende Situation: Nachdem ich einige dramatische Fälle von Menschen mit unverarbeiteten Kriegstraumata vorgestellt hatte, waren die Ersten, die sich aus dem Publikum zu Wort meldeten, in der Regel zwischen 1928 und 1933 Geborene. Sie sagten, man könne mir im Wesentlichen nur recht geben, die Zeiten seien schrecklich gewesen, aber im Grunde habe man dies alles »sehr ordentlich« gemeistert. Das heißt: Sie identifizierten sich in keiner Weise mit denen, deren Schicksal gerade zur Sprache gekommen war, und sie schilderten zur Bestätigung ihrer Aussage eigene dramatische Erlebnisse, immer mit dem Zusatz, man habe sie gut bewältigt.
Wenn Besucher keinerlei Empathie für jene Kriegskinder erkennen ließen, die im Alter unter den Spätfolgen litten, konnte es geschehen, dass in den hinteren Reihen drei Menschen aufstanden und die Veranstaltung verließen. Später wurde mir klar, wer sie waren und warum sie gerade diese Art der Wortmeldungen nicht ertrugen. Es handelte sich um »jüngere Geschwister«. Offenbar hörten sie einen Subtext, der lautete: Wer heute noch an Kriegserlebnissen leidet, ist selbst schuld oder grundsätzlich labil veranlagt.
Jüngere und ältere Geschwister
Ich kannte die Altersgruppe der um 1930 Geborenen aus meinen Interviews. In der Regel waren sie sich ihrer Kriegserlebnisse bewusst, und sie konnten gut einschätzen, ob sie und ihre Familien schwer oder leicht betroffen waren. Sie zeigten viel Verständnis für die Überlastung ihrer Eltern, aber kaum je für die ihrer jüngeren Geschwister, schon gar nicht, wenn es sich um Nachzügler handelte. Auffällig oft fiel ihr Urteil recht erbarmungslos aus. Die Jüngeren, hieß es dann, seien »labil« oder »unvernünftig«. Meine Nachfrage, ob hier seelische Verletzungen aus der Kriegszeit zugrunde liegen könnten, wischten die Älteren schnell vom Tisch. Das konnte nicht sein, »denn schließlich haben wir ja alle dasselbe durchgemacht«. Es fehlte die Wahrnehmung dafür, dass es für die Kleineren weit schwerer war, mit einer Kette von furchtbaren Erlebnissen fertigzuwerden, weil die überforderten Erwachsenen nicht die Sicherheit und Nestwärme geben konnten, die Kleinkinder für den Aufbau ihrer psychischen Stabilität brauchen. Gerade sie, die in den letzten Kriegsjahren auf die Welt Gekommenen, hatten dazu in ihren Familien kaum etwas anderes gehört als den Satz: »Ihr habt es doch gut gehabt, ihr habt doch davon nichts mitbekommen.«
Vaterlos, kinderlos
Vor zwei Jahren erreichte mich der Brief einer Leserin aus Griechenland. Sie schrieb, eine Touristin habe ihr mein Buch dagelassen, das sie daraufhin wieder und wieder gelesen habe. Und nun verfüge sie zum ersten Mal über Worte für das, was ihr in der Kindheit widerfuhr. Das wolle sie mir schreiben. Hier ist ihr Bericht.
Drei gesunde glückliche Kinder waren wir – geboren 1934, 1938 und ich die Jüngste 1939 – in Oberschlesien, bevor wir uns im so kalten Januar 1945 auf die Flucht begaben. Der Vater, kurz zuvor noch eben »eingezogen«, wir haben ihn nicht wiedergesehen – ich kenne ihn nicht. Es ging eine Weile ganz gut, man funktionierte, natürlich gehorchte man der noch so jungen hilfsbedürftigen Mutter, Witwe und ohne Bezüge. In der Schule hatten wir immer die besten Noten, waren immer sauber und ordentlich, bis dann spätestens um die Pubertät herum entweder alles zusammenbrach oder sich extreme Auswirkungen zeigten, um die sich niemand gekümmert hat, kümmern konnte. Mein Bruder war Stotterer, meine Schwester biss sich die Fingernägel ab, bis fast nichts mehr vom Nagel zu sehen war, ich war Bettnässer, voller Angstträume, Schlafstörungen und Depressionen.
Aber man funktioniert weiter, das musste man, das gehörte sich so, um nur ja der Mutter keine Sorgen zu machen. Dann liefen die ganzen Fragen um unsere Berufswahlen schief – und für mich begannen – über einen Zeitraum von 23 Jahren – insgesamt fünf Psychiatrieaufenthalte mit schweren Depressionen. Die lange Ausbildung (stets als Jahrgangsbeste) blieb unabgeschlossen, und berufslos habe ich dann unter der Diagnose vegetative Dystonie mit Librium und Adumbran meine jüngeren Jahre verbracht. Ich hielt mich mit unterschiedlichen Jobs über Wasser – immer mit der Sehnsucht nach dem Alter, in dem ich glaubte, besser leben zu können.
So war es dann auch, dank einer winzigen Frührente, seit ich 49 Jahre alt bin, und dem kleinen Erbe aus dem Lastenausgleich konnte ich mir hier in Griechenland ein letztes, geliebtes Zuhause schaffen. Ich lebe – wohl mit Depressionen – aber doch wie in einem Paradies, das ich immer noch wie ein großes Wunder täglich dankbar erfahre, auch wenn ich sehr allein bin, denn der Rest der Familie ist auseinandergebrochen (auch das eine Kriegsfolge). Beide Geschwister sind geschieden – ich hab’s ja gar nicht erst probiert. Nun verbleiben noch ein paar wenige Jahre mit großem Garten, mit Hühnern und einem Esel, mit Töpferstübchen zwischen den Blumen, mit dem Meer und einer grandiosen Landschaft.
Barbara W., heute 71 Jahre alt, vaterlos, kinderlos
Die Familienbeziehungen von Barbara W. waren durch die Spätfolgen von Krieg und NS-Zeit beeinträchtigt. Häufig hörte ich auch Besucherinnen meiner Veranstaltungen sagen, der Kontakt unter den alt gewordenen Geschwistern sei dünn oder äußerst problematisch. Viele Schwestern oder Brüder lehnten das Thema Krieg kategorisch ab, ja sie würden ärgerlich, wenn in ihrer Gegenwart darüber gesprochen werde. Also, hieß es weiter, reiße man sich auf Familientreffen zusammen, aber die unterschwelligen Konflikte schafften keine gute Atmosphäre.
Reise zum Mittelpunkt der Angst
Doch ich erfuhr auch von Ausnahmen. Eine Frau mit Vertreibungsschicksal erzählte, seit die zwei ältesten Geschwister tot seien, würden sich die vier jüngeren Schwestern einmal im Jahr zu einer mehrtägigen Reise treffen, jeweils an einem anderen Ort. Dabei handele es sich um wichtige Stationen unmittelbar nach ihrer Flucht und während der ersten Nachkriegsjahre in Westdeutschland. »An diesen Orten«, berichtete die Frau, »erzählt jede von uns Schwestern, wie sie die Zeit dort empfunden hatte. Und heraus kommen völlig unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen. Solche Reisen schaffen eine ganz besondere Verbindung zwischen uns Schwestern.« Diesen Frauen geht es nicht darum, wessen Erinnerung »die richtige« ist, sondern um die Erkenntnis: Jede der Schwestern verbindet ihre eigene Geschichte mit diesem Ort. Was für die eine »die einsamsten Jahre« gewesen sein mögen, kann eine andere durchaus als glückliche Zeit empfunden haben, weil sie hier die Freundin fürs Leben fand.
Neben solchen – privaten – Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit hat sich auch der öffentliche Diskurs weiterentwickelt. Dabei ist nicht nur das Leid der Kriegskinder in den vergangenen Jahren zum Thema geworden, sondern auch das der vergewaltigten Frauen. Wie vehement die Nachwirkung einer 65 Jahre zurückliegenden Vergewaltigung sein kann, ist bei den wenigen Frauen deutlich geworden, die so mutig waren, sich im Alter dazu öffentlich zu äußern. Nicht selten waren die Opfer noch Kinder.
Während meiner Recherchen über deutsche Kriegskinder war ich mehrfach darauf aufmerksam geworden. Über zwei Fälle hatte ich in meinem Kriegskinderbuch geschrieben. Später stellte sich heraus: Es waren noch zwei weitere Frauen, deren Geschichte ich veröffentlicht hatte, als Mädchen vergewaltigt worden. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie interviewte, konnten sie darüber nicht reden. Eine der Frauen, damals elf Jahre alt, erklärte mir dazu: »Ich hatte mich zusammen mit den Frauen im Keller versteckt. Die Soldaten haben uns dort natürlich gefunden und sich jede gegriffen. Da wurde nicht unterschieden. Es war völlig dunkel im Keller.«
Und es gab eine weitere Frau, deren Worte ich nie vergessen werde. Bei einer Lesung meldete sie sich aus der ersten Reihe zu Wort. Zu meiner Überraschung stand sie sogar auf. Ich sehe sie noch vor mir: klein, schmal, hängende Arme, Ponyfrisur. Ich erinnere mich, was ich als Erstes bei ihrem Anblick dachte: Sonderbar, sie sieht aus wie eine Sechsjährige. Und tatsächlich bestätigte sie mich in gewisser Weise, denn sie begann mit folgenden Worten: »Ich war mit sechs Jahren auf der Flucht. Wir waren eine ganz kleine Gruppe: meine Mutter, die Großmutter und zwei Tanten.« Eines Tages sei die Erschöpfung so groß gewesen, fuhr sie fort, dass ein Bauer ihnen angeboten habe, ein paar Tage auf seinem Hof zu bleiben und sich auszuruhen. Am folgenden Tag sei dann plötzlich große Unruhe entstanden. Der Grund: Mehrere Russen näherten sich dem Hof. Und da sei den Frauen eine Idee gekommen. Ihr, der Kleinen, dem einzigen Kind, sei aufgetragen worden, es solle allein zum Tor gehen und die Soldaten dort erwarten. Die Flüchtlingsfrauen hätten sich eingeredet: »Die Russen sind doch so kinderlieb, da wird uns schon nichts geschehen.« Aber die Soldaten hätten gerufen: »Wo Kind ist, ist Frau!« Dann seien sie über ihre Mutter, die Großmutter und die Tanten hergefallen. Die Zeitzeugin schloss mit dem Satz: »Ihre Schreie höre ich heute noch.«
Auffällig waren zwei Erinnerungsmotive, die bei fast allen Veranstaltungen während der ersten zwei Jahre zur Sprache kamen (danach jedoch kaum noch): Im ersten Fall handelte es sich um Traumata durch Tiefflieger. Es waren immer die gleichen Sätze: »Ich konnte den Piloten sehen! Wie ist das möglich, dass Männer auf Kinder schießen?« Fragen dieser Art lassen Menschen ein Leben lang nicht los. Die erlebten Ängste sitzen tief, sehr tief.
Bei dem zweiten Erinnerungsmotiv ging es darum, dass Angehörige der Dreißigerjahrgänge Zeugen von nationalsozialistischer Gewalt gewesen waren. Als Kinder hatten sie gesehen, wie Zwangsarbeiter gedemütigt wurden, wie jüdische Nachbarn auf einen Lastwagen steigen mussten, wie Trupps von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen vorbeizogen – und wie erbarmungslos sie behandelt wurden, wie verhungert sie aussahen. Die meisten Eltern sagten nur: »Guck da nicht hin.« Gerade den damals kleineren Kindern, deren Gerechtigkeitsgefühl noch nicht von den Unter- und Herrenmenschenkategorien verbogen war, haben sich die Szenen von Entrechtung und brutaler Misshandlung tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Was mir aber erst heute auffällt: Nicht nur die Eltern haben lange Zeit geschwiegen oder behauptet, sie hätten »von nichts gewusst«, sondern auch die Altersgruppe der älteren Geschwister, die im Unterschied zu den in den letzten Kriegsjahren Geborenen durchaus Erinnerungen an die NS-Zeit hatten. Ihnen, die als Kinder nicht hinschauen und erst recht nicht über die Verbrechen reden sollten, ihnen, die dafür nie eine Sprache gefunden hatten, war auch noch Jahrzehnte später der Mund versiegelt. Dass sie erst heute als alte Menschen darüber reden können, bewegt mich sehr, und es scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass bei ihnen Scham und Schuldgefühle noch stärker ausgeprägt waren als bei den Jüngeren; das erklärt, warum viele ihr Misstrauen gegenüber der deutschen Mentalität nie überwanden. Ich fing an zu begreifen, weshalb die Angst, es könne zu einem Rückfall in die Barbarei kommen, viele Menschen zeitlebens begleitete.
Ich erinnere mich, wie sehr es mich in den ersten Jahren meiner Recherchen für dieses Buch irritierte, wenn die Interviewpartner völlig emotionslos von ihren Kriegsschrecken berichteten, in einer Stimmlage, als läsen sie aus einem Telefonbuch vor. Sie klangen wie betäubt. Wer so redet, dem kann man nicht lange zuhören.
Erst jetzt, im Alter, fangen viele Menschen an zu begreifen, wie stark sie von ihren frühen Verlusten und Bedrohungen geprägt wurden. Der Prozess der Rekonstruktion der eigenen Kriegskindheit wird in seinem Ergebnis überwiegend als entlastend, wenn nicht gar als befreiend erlebt. In meinem Bekanntenkreis fällt mir immer wieder auf, wie stark sich während dieser »Befreiungsarbeit« Sprache und Stimmlage verändern. Beides wird lebendiger. Das schlägt sich auch in den Fernsehbeiträgen zum Thema nieder. Wenn Zeitzeugen Zugang zu ihren Gefühlen haben, berühren uns ihre Aussagen tief. Nach langem Schweigen haben viele Kriegskinder endlich ihre Sprache gefunden – und sie werden gehört.
»Ich konnte meine Kinder nicht lieben«
Wie der Münchner Arzt und Traumaforscher Michael Ermann beobachtet hat, sind viele Angehörige der Kriegskinder-Jahrgänge in ihrer Identität verunsichert. Nicht selten haben sie das Gefühl, ihren Platz in dieser Welt noch nicht gefunden zu haben. Die beschädigte Identität ist eine Folge davon, dass die wichtigsten Prägungen so lange nicht zur Kenntnis genommen wurden. Michael Ermann erklärt: »Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.« Darum also geht es vielen Kriegskindern, wenn sie sich im Alter ihren frühen Erinnerungen zuwenden: Sie wollen das brüchige Lebensgefühl in eine positive Identität verwandeln. Sie spüren, dass sie diesen Weg gehen müssen, um in ihrem letzten Lebensabschnitt inneren Frieden zu finden.
Heute wissen wir: Waren Mutter und Vater in ihrem Lebensgefühl und in ihrer Identität verunsichert, konnten sie ihren Kindern wenig Orientierung geben. Auch viele Kinder der Kriegskinder, die »Kriegsenkel«, beklagen, wie sehr sie sich durch das Schweigen und durch Familiengeheimnisse belastet fühlen – Geheimnisse, die ihrer Ansicht nach bis heute Spannungen zwischen den Generationen verursachen. Häufig wird gesagt: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen – das hat irgendwie mit dem Krieg zu tun.« Ich habe den Eindruck, die Hälfte der Leserinnen und Leser der »Vergessenen Generation« sind Kinder der Kriegskinder, die mehr über ihre Eltern wissen wollen. Sie bedanken sich bei mir, weil ihnen die Lektüre zu mehr Verständnis für Mutter oder Vater verholfen habe. In jeder zweiten E-Mail steht, man hoffe, die Beziehungen zwischen den Generationen würden sich künftig bessern.
Gelegentlich kommen Erfolgsmeldungen. Es gibt durchaus Familien, in denen die Vergangenheit der Eltern und Großeltern kein Tabu mehr ist und offen besprochen wird. Aber ein solcher Austausch ist weit seltener, als die unübersehbare Medienpräsenz des Themas vermuten lässt. In einer Vielzahl von Mails wurde ich gebeten, mich der stillen Dramen der Kinder der Kriegskinder anzunehmen. An Gesprächspartnern herrschte kein Mangel.
Kriegsenkel
2009 erschien mein Buch »Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation«. Auch einige Kriegskinder scheinen es gelesen oder doch zumindest durch ihre Kinder davon gehört zu haben. Ein Dutzend älterer Menschen äußerte mir gegenüber offen Empörung. Tenor: Da habe man es so schwer gehabt im Leben, und nun solle man noch schuld sein an den Problemen seiner erwachsenen Kinder, die ja nichts Schlimmes erlebt hätten. Sie wehrten die Thematik ab, denn: Ihren Kindern geschadet zu haben und dennoch von Schuld frei zu sein, diese Kombination konnten sie einfach nicht für möglich halten. Auf der anderen Seite stellt inzwischen bei jeder Kriegskinder-Lesung eine Mutter die Frage: »Was mögen wir an unsere Kinder weitergegeben haben?« Vor allem macht man sich Gedanken darüber, ob man seinen Kindern ausreichend Vertrauen ins Leben vermitteln konnte.
Eine Frau bat am Ende einer Lesung darum, mich unter vier Augen zu sprechen. Erst schwieg sie, dann begann sie zu zittern, und ihr entfuhr der Satz: »Ich konnte meine Kinder nicht lieben!« Dies sei ihr aber erst bewusst geworden, seit sie wisse, dass sie ein Kriegskind sei. Als Traumatisierte habe sie keine Gefühlstiefe besessen, sie sei wohl »wie betäubt« gewesen. Nun aber, in psychotherapeutischer Behandlung, spüre sie, wie sie emotional erwache. Die Beziehung zu ihren Kindern habe sich seitdem deutlich gebessert. »Auch meine Kinder bestätigen es«, fügte sie hinzu, und auf ihrem Gesicht erschien ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln.
Die Kriegskinder und die mediale Öffentlichkeit
Erst seit wenigen Jahren ist »Kriegskinder« eine Generationsbezeichnung. Zuvor sagten diese Jahrgänge von sich: »Wir sind die Nachkriegsgeneration.« Auch Helmut Kohl sah sich so – er wurde 1930 geboren. Drei Viertel seiner Kabinettsmitglieder gehörten diesen Jahrgängen an – also etwa von 1930 bis 1945. Sie sprachen vom Krieg, aber beiläufig. Sie sagten: Das war für uns normal, das haben wir doch alle erlebt. So empfinden es Kinder. Das heißt: Sie verharrten auch noch als Erwachsene in dieser Kinderhaltung und waren davon überzeugt, prägend seien für sie die Fünfzigerjahre gewesen. Erst jetzt, im Alter, sagen sie: Wir sind die letzte Kriegsgeneration.
Es ist an dieser Stelle wichtig, sich klarzumachen, wie unterschiedlich in den Nachkriegsjahrzehnten mit den Themen Krieg und NS-Vergangenheit umgegangen wurde und welche Perspektive wann dominierte. Seit den Siebzigerjahren, vor allem seit die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« gesendet worden war, galt das Thema »Die Deutschen als Opfer« als kulturell nicht mehr erwünscht. In den Medien, an den Schulen, in der Forschung ging es fast ausschließlich um die Fakten und Hintergründe von Hitler-Deutschland, um die Opfer der NS-Verbrechen. Vor diesem Paradigmenwechsel hatten die Deutschen sehr wohl darüber geklagt, wie sehr sie im Krieg, in der Gefangenschaft und während der Nachkriegsarmut gelitten hätten. Die Not und die totalen Verluste der Heimatvertriebenen waren im Westen des geteilten Deutschlands ein unüberhörbares öffentliches Thema (im Osten sorgte die SED dafür, dass alles totgeschwiegen wurde).
Fest steht: Der Umgang mit der unheilvollen deutschen Geschichte vollzog sich in auffälligen Kehrtwendungen. Als »Die vergessene Generation« 2004 erschien, war zunächst nicht klar, wie die Thematik gesellschaftspolitisch aufgenommen würde. Ich war auf Gegenwind vorbereitet und stellte mir vor, wenigstens die Hälfte der Rezensenten werde mir vorwerfen, ich hätte die Deutschen als Opfer stilisiert. Und genau so stand es dann auch in einer der ersten Kritiken (»Stuttgarter Zeitung«). Hauptvorwurf: Die Autorin argumentiere »vulgärpsychologisch«. Dem Buch fehle es an Tiefe und Substanz. Und schließlich der Satz: »Der Klett-Cotta-Verlag muss sich die Frage gefallen lassen, warum er nun auch auf der Wir-sind-doch-alle Opfer-Welle mitreitet.« Es sollte der einzige Verriss dieser Art bleiben. Offenbar hatte schon damals ein Umdenken begonnen. Die Leiden in der deutschen Bevölkerung zu ignorieren galt nicht mehr als zeitgemäß.
Der Deutschland-Reflex
Die öffentliche Debatte über die deutsche Schuld und die Sorge, in Deutschland sei die Demokratie aufgrund seiner unheilvollen Geschichte gefährdeter als anderswo, sind seit 2005 deutlich schwächer geworden – in dem Maße, wie Fernsehsendungen über die leidvollen Erfahrungen durch Krieg und Vertreibung zunahmen. Ob es früher ein Zuviel an Medienbeiträgen über Nationalsozialismus und Holocaust gegeben hatte? Immer wieder haben sich Ausländer dazu geäußert, unter anderem Cees Nooteboom in seinem Roman »Allerseelen« von 1998. Geschildert wird darin ein Einzelgänger, ein Niederländer, der den Unfalltod seiner Frau und seines Sohnes nicht verkraftet hat und dessen dunkle Grundstimmung sich mit der »Melancholie« der deutschen Hauptstadt Berlin verbindet: »Er war nun schon lange genug hier, um zu wissen, dass im Gegensatz zu im Ausland oft gehörten Behauptungen die ewigen Selbsterforschungen, in welcher Form auch immer, nie aufhörten, dafür brauchte man nur während einer beliebig ausgewählten Woche das Wort Jude in allen Medien zu zählen, eine mal unterschwellige, mal offen zutage tretende Obsession, die nach wie vor in dem mitschwang, was sich schon lange zu einer gut funktionierenden liberalen, modernen Demokratie entwickelt hatte.«
Doch dann geschah etwas Überraschendes: Die Fußballweltmeisterschaft 2006 verwandelte Deutschland in einen sommerlichen Garten, in dem die deutschen Fahnen blühten. Das Verhältnis zum wesentlichen Symbol der Nation hatte sich entkrampft. Dies wurde nicht nur von der deutschen Öffentlichkeit überwiegend begrüßt, sondern auch in den ausländischen Medien. Ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen hat den Deutschland-Reflex von vielen Millionen Staatsbürgern sichtlich geschwächt – jenes Unbehagen, das sich unwillkürlich beim Auftauchen nationaler Gefühle und nationaler Symbole einstellte. Im Fußballsommer war davon nichts mehr zu spüren – und niemand zeigte sich überraschter als die Deutschen selbst.
Von Reflexen weiß man: Sie sind tief verwurzelt. Mit Willenskraft lassen sie sich nicht verhindern. Allenfalls kann man mit Vernunft gegensteuern, damit einem heftigen Impuls keine Handlung folgt. Der Deutschland-Reflex war für viele junge Menschen schwer zu ertragen – nicht weil sie Nationalisten gewesen wären, sondern weil sie spürten: Es gab dazu kein wirklich offenes Gespräch in ihren Familien. Sie erfuhren nur Andeutungen über die deutsche Vergangenheit, und dies produzierte Verwirrung und ein erneutes Schweigen. Letztlich hatte es zur Folge, dass viele junge Menschen sich nicht für die Geschichte ihrer Familie interessieren.
Heute stelle ich mir die Frage, wie sich die neue Unverkrampftheit im gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema »deutsche Schuld« auswirken wird. Werden die Deutschen vergesslicher oder sogar noch verantwortungsbewusster werden?
Bislang waren vor dem Hintergrund des Wissens um die NS--Vergangenheit die Sensoren für den Erhalt unseres Rechtsstaats gut entwickelt. Das verdanken wir vor allem der Generation der Kriegskinder. Sie haben in der alten Bundesrepublik dafür gesorgt, dass das Wissen über den Nationalsozialismus und seine Massenverbrechen in den Schulen und Hochschulen und in den Medien verankert wurde. Die verantwortungsvolle Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, die das Ansehen von Deutschland enorm gesteigert hat, ist ihr Verdienst.
»Kriegskinder für den Frieden«
Ältere Menschen treten zunehmend in der Öffentlichkeit auf, oder sie lassen sich als Zeitzeugen in Schulen einladen. Wenn Schülerinnen und Schüler anfangen zu begreifen, dass es nicht nur Schuld, sondern auch Leid gegeben hat, werden sie ihr Land, aber auch ihre Großeltern besser verstehen. Und nicht nur nach Bombenangriffen sollten die Schüler fragen, nach Vertreibung und Hunger, sondern auch nach den Erfahrungen in einer Diktatur bzw. in zwei Diktaturen. Einen besseren Schutz für unsere Demokratie gibt es nicht.
Als Zeitzeugen sind die Kriegskinder von unschätzbarem Wert. Das interessanteste Projekt scheint mir derzeit ein zentrales deutsches Kriegskinder-Archiv für die Forschung zu sein. Initiator ist der Förderverein »Kriegskinder für den Frieden«. Der von ehemaligen Kriegskindern gegründete gemeinnützige Verein setzt sich für die wissenschaftliche Friedensarbeit ein. Eine Videothek soll entstehen, ein repräsentatives Archiv mit Zeitzeugen-Interviews. Im Januar 2010 wurde damit in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Universität Hamburg begonnen. 800 bis 1000 Interviews sind erforderlich, damit das Archiv interdisziplinär und international genutzt werden kann.
Jedes Interview kostet einschließlich seiner wissenschaftlichen Aufbereitung und Archivierung 2000 Euro. Der Verein »Kriegskinder für den Frieden« sowie die an diesem Großprojekt beteiligten Wissenschaftler hoffen nun auf die finanzielle Unterstützung aus den Reihen der deutschen Kriegskinder. Daher der Aufruf: »Spenden Sie mit 2000 Euro Ihr eigenes Kriegskind-Interview!« Aber auch Angehörige können einen Beitrag zur Friedensarbeit leisten. Wie oft wird vor dem runden Geburtstag eines älteren Menschen gefragt: Was sollen wir ihr oder ihm nur schenken? Da lohnt es sich über ein Kriegskind-Interview als Gemeinschaftsgeschenk nachzudenken. Kommt es zustande, gibt es natürlich auch eine Video-Kopie für das Familienarchiv.
Die Kriegskinder können selbst viel dazu beitragen, dass das Interesse am Schicksal der »vergessenen Generation« nicht mehr erlischt und die Wege zum Frieden geebnet werden.