ZWÖLFTES KAPITEL
»Als alter Mann werde ich glücklich sein«
Zwei Kindheiten: Hanno und Kaspar
Dass Eltern ihren Kindern nicht nur Vermögen oder Schulden vererben, sondern auch psychische Lasten, gehört zu den immer wiederkehrenden Motiven in Familienromanen, bei den »Buddenbrooks« zum Beispiel. Als Thomas Buddenbrook den Niedergang seiner traditionsreichen Firma nicht mehr aufhalten kann, wird er depressiv, und gleichzeitig verlangt er von seinem kleinen Sohn das Unmögliche: Aus dem kränkelnden, feinfühligen und musisch hochbegabten Hanno soll einmal ein vitaler, erfolgreicher Geschäftsmann werden. Eines Tages begleitet er den Vater bei Pflichtbesuchen, und das Kind erkennt, mit welch ungeheurem Aufwand hier eine Fassade aufrechterhalten wird.
Er sah nicht nur die sichere Liebenswürdigkeit, die sein Vater auf Alle wirken ließ, er sah auch – sah es mit einem seltsamen quälenden Scharfblick, wie furchtbar schwer sie zu machen war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher, mit geschlossenen Augen, deren Lider sich gerötet hatten, in der Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der Schwelle des nächsten Hauses eine Maske über ebendieses Gesicht glitt, immer aufs Neue eine plötzliche Elasticität in die Bewegungen ebendieses ermüdeten Körpers kam.
Hanno spürt also sehr genau den Preis, den sein Vater zahlt, und die permanente Erschöpfung des Erwachsenen geht auf das Kind über. Stumm weigert es sich, sein Erbe anzutreten, und weiß doch, dass es aus der Familientradition kein Entrinnen gibt. Hannos Körper hält dem Druck nicht stand. Der Junge stirbt an Typhus, weil – wie Thomas Mann es ausdrückte – »die Stimme des Lebens« nicht laut genug in ihm rief.
Die Geschichte von Kaspar Kampen* ist dagegen eine völlig andere. Sie ausgerechnet mit Hanno Buddenbrook einzuführen, obwohl in der Kindheit der beiden absolut keine Parallelen zu entdecken sind, mag paradox erscheinen. Und doch wird es Sinn machen, wenn wir am Ende dieses Kapitels noch einmal darauf zurückkommen. Im Unterschied zu Hanno wurde Kaspar in einem liebevollen Nest in Empfang genommen, im Jahr 1970. Er war ein respektiertes Kind, das bewunderte »Prinzchen«, bestens versorgt, wie es bei Einzelkindern seiner Herkunft und Altersgruppe üblich war. Kaspar fand seine Eltern in Ordnung. Großstadtbürger – er Wissenschaftler, sie Lektorin –, tolerant, an Politik und zeitgenössischer Kunst interessiert und beide geprägt von den pädagogischen Reformbewegungen der Siebziger, in die ihr Sohn hineingeboren wurde.
Heute ist Kaspar 32 Jahre alt und von Beruf Operntenor. Auf der Bühne muss er sich oft in tragische Rollen hineinsingen, privat lacht er gern. Da amüsiert ihn besonders die Erinnerung an eine spezielle Macke seiner Mutter. Das sei für ihn eine typische Kindheitserfahrung gewesen, sagt er – und der einzige Mangel, an den er sich überhaupt erinnern könne: »Es gab nie, aber wirklich nie, frisches Brot. Meine Mutter hatte das frische Brot immer schon gekauft, aber es musste erst das alte weggegessen werden, sodass, wenn wir dann das neue gegessen haben, das dann auch schon wieder nicht ganz frisch war . . .«
Gelegentlich hatten seine Eltern ihm vom Krieg erzählt, vom Hunger und von den Bombenangriffen im Ruhrgebiet, weshalb sein Vater fast jede Nacht im Keller verbringen musste, bis dessen Mutter den damals Achtjährigen im weit entfernten Böhmen in Sicherheit brachte. Kaspars Mutter erlebte als Sechsjährige die Flucht aus Schlesien. »Sie erzählte mir, dass sie ihre Puppe zurücklassen musste«, erinnert sich der Sohn. »Das ist mir, als ich klein war, natürlich besonders nahegegangen.«
Ein Sohn, der die Bühne liebt
Er selbst habe eine glückliche Kindheit gehabt, versichert er, ohne nennenswerte Probleme, auch als Heranwachsender nicht. Von seinen Eltern erbte Kaspar die Liebe zum Theater. Er wollte zunächst Schauspieler werden. Wolfgang und Gisela Kampen* unterstützten seinen Berufswunsch. Dass ihr Sohn Begabung und eine schöne Stimme besaß, war ihnen schon früh aufgefallen. Als Jugendlicher liebte er kleine Gesangsauftritte, auch vor den Freunden des Hauses. Die waren restlos begeistert und fragten die stolzen Eltern, woher Kaspar das wohl habe, aber darauf gab es keine Antwort.
Mutter und Vater verhielten sich völlig anders als ihr Sohn. Am liebsten war es ihnen, wenn sie nicht weiter auffielen. Selbst ihre Geburtstage schienen ihnen ein bisschen peinlich zu sein. Bloß nicht im Mittelpunkt stehen. Bloß nicht öffentlich auftreten. Es ließ sich aber nicht immer vermeiden. Zweimal im Jahr musste Gisela Kampen in der Konferenz der Verlagsvertreter neue Bücher präsentieren. Jedesmal wurde ihr vorher übel vor Aufregung.
Gelegentlich kam es vor, dass Vater Wolfgang einen Fachvortrag halten musste. Dann litt er schon drei Tage vor dem entscheidenden Ereignis unter Versagensängsten, die er nur mit größter Mühe kontrollieren konnte. Lange Jahre seines Berufslebens war das so gewesen. Auch konnte er die Anerkennung seiner Kollegen nicht wirklich in sich aufnehmen. Sein Selbstwert war zu schwach. Applaus und Lob ernährten ihn nicht. Er misstraute seinen eigenen Leistungen und damit auch den Bewertungen anderer.
Kaspar dagegen, der schließlich an einer Musikhochschule Gesang studierte, liebte die Bühne und den Beifall. Schon als Student übernahm er unbezahlte Rollen an kleinen Privattheatern. Da er zudem über komisches Talent verfügte, verdiente er seinen Lebensunterhalt mit kurzen Auftritten in Fernsehproduktionen. Es gelang ihm einfach alles, er traute sich alles zu. Mit 23 Jahren heiratete er.
Mit 26 Jahren geriet er in eine schwere Krise. Er kannte sich selbst nicht mehr wieder – grenzenlos erschöpft und leer fühlte er sich. Depressionen, Angst und Verzweiflung wurden seine ständigen Begleiter. Und er konnte nicht mehr singen.
»Da ist plötzlich meine ganze Art zusammengebrochen.« Nüchtern und selbstverständlich spricht Kaspar von seiner großen Lebenserschütterung. »Als ich damals nicht mehr zurande kam, ergab das einfach keinen Sinn. Für mich persönlich war es so erschreckend, weil es so absolut aus dem Nichts kam: Ich hatte ja dieses Selbstbild, es sei alles prima gelaufen, ich schaffe alles. Das war dann plötzlich nicht mehr so. Ich hatte früher eigentlich immer alles geregelt in meiner Umgebung, und ich war immer der Sonnyboy, der Macher, auch in meiner Ehe. Meine Frau war finanziell von mir abhängig, und irgendwann war das zu viel Stress. Da brach alles zusammen.«
Für Kaspars Eltern lag der Grund klar auf der Hand: Seine Ehefrau sei schuld, meinten sie. Ständig habe sich ihr Sohn für sie abstrampeln müssen, bis er sich völlig verausgabt habe und überhaupt nicht mehr er selbst gewesen sei. Und auch dann habe sie nicht aufgehört, sondern immer noch mehr von ihm gefordert . . .
Die Schuldzuweisung seiner Eltern brachten den jungen Mann nicht weiter. Natürlich hatte seine anhaltende Verzweiflung auch mit seiner inzwischen gescheiterten Ehe zu tun, aber darunter lag noch etwas ganz anderes, etwas Fremdes, das ihn bedrohte.
Immer tiefer versank er in Hoffnungslosigkeit – bis er eines Tages so weit war, sich einer Psychotherapeutin anzuvertrauen. Gemeinsam leuchteten sie Kaspars Kindheit aus, doch da war nichts, absolut nichts, was seinen Zusammenbruch plausibel machte.
Im Nachhinein, nun, da alles überstanden ist und Kaspar besser singt als je zuvor, muss er manchmal über die ganze Geschichte lachen. »Eigentlich ist es ja so bescheuert, so absurd. Man hat ja im Grunde gar nichts Schlimmes erlebt. Nichts objektiv Schlimmes. Meine Zeit mit Didi Hallervorden, Mike Krüger und Otto Waalkes, was habe ich schon Schlimmes erlebt, außer 1978, als die deutsche Fußballmannschaft in Argentinien gegen Österreich ausgeschieden ist . . .«
Die Kriegsschrecken der Eltern geerbt
Wie die meisten Menschen hatte sich Kaspar vorher nie mit dem Themenkomplex Trauma beschäftigt. Schon gar nicht wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er die Kriegsschrecken seiner Eltern geerbt haben könnte. Das war doch wohl nicht möglich, dass er an den Spätfolgen von Ereignissen litt, die fünfzig Jahre zuvor – lange vor seiner Geburt – stattgefunden hatten? Doch, das sei sehr wohl möglich, sagte die Therapeutin. Sie gab ihm einige Fachartikel über die zweite Generation der Holocaustüberlebenden zu lesen. Da fing er an zu begreifen.
»Als die Therapeutin und ich uns mit der Kindheit meiner Eltern beschäftigten«, erzählt Kaspar, »ergaben sich relativ schnell die Parallelen. Meine Eltern haben durch den Krieg einfach nicht erfahren, dass die Welt ein sicherer Ort ist, wo man sich wohlfühlt und geborgen. Und genau das Gefühl habe ich dann auch bei mir festgestellt, obwohl es, wie gesagt, keinen äußeren Anlass dafür gab.«
Danach dauerte es noch eine ganze Weile, bis er verstand, dass es sich bei seiner Depression nicht um den Zusammenbruch einer geschwächten Psyche gehandelt hatte, sondern dass sein Anpassungssystem nicht mehr funktionierte – genauer: seine unbewussten Strategien, mit denen er seit seiner Kindheit negative und verstörende Gefühle von sich ferngehalten hatte. Das Stichwort »Anpassung« enthielt den Schlüssel zu seiner schweren Störung. Der Sohn, der angeblich so ganz anders als seine Eltern war, erkannte nun sehr ähnliche psychische Strukturen, die aus einem permanenten Gefühl des Bedrohtseins herrührten, das er nun erstmals wahrzunehmen vermochte.
Kaspar ist heute davon überzeugt: Er hat gegenüber seinen Eltern nicht »das glückliche Kind gespielt«. Er war wirklich glücklich. Es müsse wohl so gewesen sein, sagt er, dass er die angstbesetzten Empfindungen von sich abgespalten habe, genauso wie seine Eltern die realen Schrecken ihrer Kriegserlebnisse abgespalten hätten. Rückblickend weiß er, dass sein Anpassungssystem bis auf wenige Ausnahmen perfekt funktionierte. Nur ganz gelegentlich wurde er als Kind von heftigen Ängsten überfallen, die sich als Heimweh äußerten. Als Siebenjähriger sollte er mit einer befreundeten Familie eine Woche in Holland verbringen. Aber er bekam dort Panikattacken, er hielt es nicht mehr aus, sodass Wolfgang Kampen seinen Sohn wieder abholen und nach Hause bringen musste. »Mein Vater hatte als Kind lange Trennungen durch die Kinderlandverschickung erlebt, das war natürlich eine hohe Anpassungsleistung von ihm gewesen, da nicht durchzudrehen. Er konnte also über meine Kinderängste nur lachen. Guck dich doch mal um, hat er gesagt, hier ist Frieden, hier ist ein schöner Campingplatz, hier sind deine Freunde, und du bist überhaupt nicht allein.«
Als Kaspar erwachsen wurde, wuchs in ihm das Gefühl, dass er ständig wachsam sein müsse, dennoch war es ihm nicht bewusst. Wie er während der Psychotherapie erkannte, wurden die Gefühle des Bedrohtseins mit sonderbaren, reflexartigen Strategien in Schach gehalten. Noch einmal das Stichwort »Anpassung«: Wollten seine Eltern nicht auffallen, weshalb sie sich eben unauffällig verhielten und sich jeder Situation anpassten, wurde Kaspar die fixe Idee nicht los, dass seine Künstlerexistenz bei anderen Menschen auf Kritik stieß. In seinem Kopf beschäftigte er sich ständig damit, was andere Leute wohl von ihm denken mochten, eigentlich unwichtige Leute, die Nachbarn zum Beispiel, und er entwickelte in Gedanken lange, stumme Monologe, in denen er nicht müde wurde, seinen Lebensstil zu rechtfertigen.
Es gab noch andere Parallelen zu seinen Eltern. »Ein Freund von meinem Vater hat sich einmal über die Angststruktur meines Vaters gewundert: dass er eine große Angst hat vor relativ harmlosen Dingen, aber wenn es richtig hart kommt, dann überhaupt nicht.« Der junge Mann bekennt lachend: »Und genauso war das bei mir, dass ich sehr viel Angst gehabt habe, was die Nachbarn denken, aber als mir dann auf der Autobahn mit 130 der Reifen geplatzt ist und ich fast draufgegangen wäre, da war ich auch hinterher sehr, sehr ruhig.«
Als er mit seinen Eltern über die Hintergründe seiner Depression sprach, konnte sein Vater es überhaupt nicht nachvollziehen. Er wurde wütend. War es je einem Kind besser ergangen als seinem prächtigen, begabten Sohn, dem die Welt stets so viel Liebe und Bewunderung entgegengebracht hatte?
»Aber dann«, erinnert er sich dankbar, »ist mein Vater in sich gegangen und hat im Nachhinein für sich als Wahrheit festgestellt, dass es so sein muss.«
Vater und Sohn – wie zwei Veteranen
Das Verhältnis hat sich also nach einem kurzen Beziehungsgewitter wieder entspannt. Heute können sie über Gemeinsamkeiten schmunzeln, die ihnen früher überhaupt nicht aufgefallen wären. Im August 2002 folgte Wolfgang Kampen einer Einladung ins Land der Selbstmordattentate – nach Israel. Seine Angst vor einem Bombenanschlag war gering. Natürlich gab es ringsum große Bedenken gegen dieses Unternehmen, aber nicht bei Kaspar. Sohn und Vater beruhigten sich damit, dass die Gefahr in Israel schließlich nicht größer sei, als in Deutschland in einen Autounfall verwickelt zu werden. Vater und Sohn führten ein Gespräch wie unter Veteranen – zwei gute Kumpel, die ihre Lektion summa cum laude gelernt hatten: wie man mit permanenter Bedrohung umgeht; wie man das Gift des Terrors einfach an sich abtropfen lässt. Ein bisschen Angst hatte Wolfgang Kampen dennoch vor seiner Israelreise, aber nur, weil er einen Vortrag halten musste.
Kampen ist ein nachdenklicher Mensch. In Fachkreisen gilt er als hochkompetent, während er im Auftreten und in seinen Ansprüchen bescheiden geblieben ist. Dazu passt, dass er sich meistens für berufliche Projekte engagierte, die wenig Geld brachten. Bis heute ist er alles andere als ein Großverdiener. Auch Kampen hat, wie sein Sohn, eine Lebenskrise überwunden. Früher maß er seiner Kriegskindheit so wenig Bedeutung bei, dass in drei Sätzen alles gesagt zu sein schien: Dass er noch Glück gehabt habe. Dass man ihn nach Böhmen in Sicherheit gebracht habe. Ende gut, alles gut.
Damals hätten die schönen Erinnerungen im Vordergrund gestanden, erzählt er. »Selbst der Mangel hat ja in einer solchen Kindheit seine positiven Seiten: Das Glück beispielsweise, an einem Stück Friedenstoilettenseife zu riechen, das ist etwas Unbeschreibliches. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass man sich tatsächlich damit waschen könnte. Ich denke auch, dass sich darin ausdrückt, dass der Frieden etwas Wunderbares war und wie sehr man sich danach sehnte . . .«
Heute ist ihm klar, wie viel er als Kind verdrängt hat, weil er die Schrecken nicht ertragen konnte. Kampen gehört zu den wenigen Deutschen seiner Generation, die ein klares Bild davon haben, wie der Zweite Weltkrieg sein weiteres Leben prägte. Er spricht von den »inneren Ruinenlandschaften, die in Deutschland hinterlassen wurden« und zitiert damit Wolfgang Staudte, den großen Regisseur der Nachkriegszeit. Mit seinen Spielfilmen, die er in den Trümmern drehte, wollte er die Botschaft vermitteln: Wir werden die zerstörten deutschen Städte wieder aufbauen, aber es wird sehr viel schwerer oder vielfach kaum möglich sein, die innerlich zerstörten Menschen zu heilen.
Eine schizoide Episode
1943: Eine Stadt im Ruhrgebiet. Jede Nacht Bombenalarm. Jede Nacht weckt eine junge Mutter – nennen wir sie Hildegard Kampen – ihren Sohn Wolfgang. Dann nimmt sie ihren Säugling auf den Arm und den Koffer in die andere Hand und geht in den Luftschutzkeller . . . Völlig normale Kriegsverhältnisse. Und so bewegte sich auch die Entscheidung, die Hildegard Kampen eines Tages traf, durchaus noch im Rahmen des Üblichen. »Damit wenigstens einer der Familie überlebt«, so begründet sie ihren Entschluss, wird der achtjährige Wolfgang in einen Zug der Kinderlandverschickung gesetzt, ganz allein, niemand aus seiner Klasse fährt mit. In einem böhmischen Ort wird er von einer fürsorglichen Witwe aufgenommen. Wolfgang ist ein liebenswerter kleiner Kerl. Tapfer nimmt er die neuen Lebensumstände hin und schreibt nach Hause: »Ich habe es gut getroffen.« Und das stimmt auch, denn seine Ersatzmutter kocht ihm seine Lieblingsgerichte, und er liest sich durch die komplette Karl-May-Ausgabe. – Nach Kriegsende kehrt das Kind in seine Heimat zurück.
1980: Wolfgang Kampen ist Mitte vierzig und erlebt eine Phase beruflicher Anspannung; er hat schon mehrere Nächte nicht mehr schlafen können. Seine Bewusstseinskontrolle bricht zusammen. Es kommt zu einer Nervenkrise, zu einer, wie es später heißt, »schizoiden Episode«, die durch den Besuch einer schwer depressiven Frau in seiner Wohnung ausgelöst wird. »Plötzlich sah ich deren Augen wie Kohlen glühen, als ob der Teufel da stünde«, erzählt Kampen später. »Das heißt, ich hatte so eine Art Halluzination, und damit brach dann die Krise endgültig aus.«
Für einige Wochen ist er Patient in einer psychiatrischen Klinik. Danach lenkt eine Psychotherapeutin Kampens Blick sehr gezielt auf seine Kriegskindheit. Hier finden sich schließlich die Verbindungslinien zu zwei ganz anderen depressiven Frauen, in Böhmen.
1944: Der Krieg hat den kleinen Wolfgang in seiner böhmischen Idylle eingeholt. Er hört einen Schrei – einen Aufschrei, der alles Entsetzen dieser Welt zu enthalten scheint. Er rennt in die Küche, wo er seine Ersatzmutter findet, zusammengebrochen, in der Hand ein Wehrmachtschreiben. Ihr Mann starb im Ersten Weltkrieg, ihr ältester Sohn fiel 1940 in Frankreich – und jetzt ist auch der zweite Sohn tot!
Wolfgang Kampen hat es nie vergessen können. »Es wird die fürchterlichste Situation meines Lebens überhaupt gewesen sein«, sagt er. »Dieser Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verliert. Unter ein stärkeres Unglück kann sie nicht gesetzt werden: eine Frau – von der ich als kleiner Junge ja vollkommen abhängig bin – verliert ihr letztes Kind!«
Das Ende der Zärtlichkeit
1945: Der Krieg geht zu Ende. Im Haus der Witwe wird eine Flüchtlingsfrau mit ihren beiden Kindern einquartiert. Wochenlang sind sie Wolfgangs liebste Spielkameraden. Eines Tages erfährt er, die Mutter habe ihre Kinder und sich selbst erschossen. Der Junge ist nicht in der Lage zu begreifen, was ihm da mitgeteilt wird. Einige Stunden später stolpert er im Keller über die Leichen seiner Freunde . . .
Nach Kriegsende sieht der kleine Wolfgang endlich seine Mutter wieder. Sie ist ihm fremd geworden. Kampen erzählt: »Es gab dann zwischen mir und ihr eigentlich keine Zärtlichkeit mehr. Ich wehrte es ab, denn ich glaube, diese Trennung, diese zwei Jahre waren einfach nicht mehr zu überbrücken. Und man kann ja als Kind über solche Dinge nicht reden.«
Seine Heimreise, zurück ins Ruhrgebiet, in überfüllten Zügen damals im Sommer 45, dauerte eine Woche, und einmal war es im Waggon so voll und so eng, dass er über eine lange Strecke den Boden nicht erreichte, weil er zwischen den Mitreisenden eingeklemmt war.
Dass er grundsätzlich den Boden unter den Füßen verloren hatte, wurde ihm erst dreißig Jahre später bewusst, im Zusammenhang mit seiner Lebenskrise. »Im Nachhinein stellte ich dann fest, dass der Ausbruch all dieser Dinge eine Befreiung war«, erzählt er. »Ich lebe heute überhaupt nicht mehr unter der Angst, dass sich das wiederholen könnte. Aber bis zu diesem Zeitpunkt – und ich war immerhin über vierzig – habe ich das ja mit mir herumgeschleppt die ganze Zeit. Diese Spannungen, diese Angst.«
Die Verarbeitung seines Traumas verhalf Kampen zur dauerhaften Genesung. Auch begriff er, warum seine Arbeit für ihn so anstrengend gewesen war, warum jede Außerplanmäßigkeit ihn so stark unter Druck gesetzt hatte: Darunter lag ein ständiges Gefühl des Bedrohtseins, was ihm in keiner Weise bewusst gewesen war.
1996: Kampen hört seinen depressiven Sohn Kaspar sagen: »In mir ist ein Gefühl, als ginge die Welt unter.« Der Vater erschrickt zutiefst. Er denkt: Was sagt er da? Woher kennt der Junge das? Es ist doch meine Geschichte. Das ist doch mein Gefühl.
Wieder sind viele Jahre vergangen. Wolfgang Kampen ist seiner Kindheit noch näher gekommen, und das könnte sich sogar steigern, sollte er eines Tages Enkel haben. Inzwischen kann er mit einem gewissen Staunen über das Kind berichten, das er einmal war. Es hatte nicht nur verdrängt, um zu überleben, sondern es besaß offenbar auch so etwas wie eine hellsichtige Weisheit, die ihm die Gewissheit eingab: Als alter Mann werde ich glücklich sein. Es war wie ein Mantra: »Als alter Mann werde ich glücklich sein.«
Was für ein Satz . . .
»Das war mein Optimismus damals«, erklärt Kampen. »Ich wusste, ich würde überleben. Aber gleichzeitig waren die erlebten Schrecken so groß, dass ich es mit meinem Kinderverstand nicht für möglich hielt, in irgendeiner absehbaren Zeit damit fertigzuwerden.«
Der kleine Wolfgang sollte recht behalten: Kampen, nun ein älterer Mann, führt ein weitgehend zufriedenes Leben.
Heilung ist möglich
Die Geschichte von Wolfgang und Kaspar Kampen zeigt, dass die Zerstörungskraft des viele Jahrzehnte zurückliegenden Krieges jederzeit wieder zuschlagen kann, heute noch, und in den nachfolgenden Generationen. Ihre Geschichte hat aber auch etwas Tröstliches. Im Unterschied zu Hanno Buddenbrook waren hier zwei Kinder in der Lage, bedrohliche Einflüsse, die ihnen womöglich den Lebensmut geraubt hätten, von sich fernzuhalten. Viele Jahre später allerdings wurde ihnen ihr Verdrängen zum Hemmnis, was schließlich ihre psychische Gesundheit bedrohte. Eine Heilung war aber möglich, nachdem die seelischen Hintergründe aufgedeckt und verarbeitet werden konnten.