VIERZEHNTES KAPITEL

Ein Plädoyer für Vernunft und Trauer

Wie der Kriegsschrecken gedenken?

Vernunft und Trauer lassen sich nicht verordnen. Aber man kann dafür werben. Eine Bereitschaft für Vernunft und Trauer wäre nötig, um sich folgenden Fragen zu nähern: Was können wir heute angesichts der noch unverarbeiteten Kriegsschrecken tun? Wie könnte eine öffentliche Gedenkkultur aussehen, die der Katastrophe, aber auch dem heutigen Abstand zur Katastrophe gerecht wird?

Wir haben es hier mit einem gesellschaftlichen Thema zu tun, das äußerst unbeliebt ist. Wer unvermittelt fragt: Wie könnte man angemessen der Kriegsschrecken in Deutschland gedenken?, stößt schnell auf die Gegenfrage: Haben wir nichts Besseres zu tun? Oder es kommt die Belehrung, man möge bitte beachten, dass die Deutschen wieder auf dem besten Weg seien, sich als Opfer zu stilisieren. Schon wieder wachse – wie in den Fünfzigerjahren – die Gefahr, dass deutsches Leid mit dem der Holocaustüberlebenden und anderer Naziopfer aufgerechnet werde. Also lieber nicht daran rühren.

Im Gegenteil. Wir müssen daran rühren, nun, da sich zeigt, dass Luftkrieg und Vertreibung die deutsche Bevölkerung untergründig weit mehr beschäftigten, als dies angenommen wurde. Erstens müssen wir uns darum kümmern, damit nicht länger traumatische Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Zweitens müssen wir es tun, um einen neuen Opferkult zu verhindern. Und drittens sind wir dazu verpflichtet, um den Frieden in Europa zu erhalten.

Der Ausbruch der Gewalt im Balkan in den Neunzigerjahren hat gezeigt, dass das Langzeitgedächtnis für unverarbeitete kollektive Schrecken nachtragend und unberechenbar ist. Fünfzig, sogar hundert Jahre können verstrichen sein, und man glaubt, die Zeit habe alle Wunden geheilt – aber dann eskaliert irgendein Konflikt, und eine ungeheure Zerstörungskraft bricht auf. Unverarbeitete kollektive Traumata können sich in Ressentiments niederschlagen wie auch in blutigen Auseinandersetzungen. Ähnlich wie bei Blindgängern und Giftmülldeponien bestünde verantwortliches Handeln darin, die Gefahr zu entschärfen, bevor sie zum Ausbruch kommt.

Demokratien, sagt man, seien die besten Garanten für ein friedliches Nebeneinander der Nationen, und dies einmal mehr, wenn sie sich zusammengeschlossen haben, wie es in der Europäischen Gemeinschaft geschah. Aber Demokratien müssen stabil sein. Wie stabil die deutsche Demokratie ist, wissen wir nicht, denn sie musste sich gottlob noch nicht bewähren. Aber wir wissen, dass sie jung ist, eine Nachkriegserrungenschaft – und in den neuen Bundesländern noch keine 15 Jahre alt. Schon deshalb brauchen wir ein Bewusstsein für alle gesellschaftlichen Stressfaktoren, damit wir wenigstens solche mildern, auf die wir als Bevölkerung Einfluss haben. Die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen oder die leeren öffentlichen Kassen wieder zu füllen gehört zu den Aufgaben der Politik – da kann der Einzelne wenig tun. Anders bei dem Thema, das uns nun während des ganzen Buches beschäftigt hat. Jeder kann in seiner Umgebung dazu beitragen, dass Angehörige der Kriegsgeneration als solche wahrgenommen und ernst genommen werden. Damit wäre schon viel erreicht. Für Solidarität ist es nicht zu spät.

Menschen gelingt es am besten, ihr Leid zu verarbeiten, wenn sie die Unterstützung der Gemeinschaft spüren. Wer dagegen in seiner Opferrolle verharrt, bereitet auch seine Kinder und Kindeskinder darauf vor. Auf diese Weise werden sie anfällig für Manipulationen und eine leichte Beute für politische Rattenfänger. Große Opfergruppen, die ständig jammern, ob versteckt oder offen, schwächen die Demokratie. Ganz anders jene Opfer, die den Mut haben zur Klage und zur Trauer – was etwas ganz anderes ist als Jammern. Ihnen gelingt es am ehesten, ihre persönlichen Krisen zu bewältigen. Und nicht nur das: Nach dem Prinzip der ansteckenden Gesundheit entwickeln sie danach die Fähigkeit, andere Menschen in Krisen zu motivieren, sodass auch diese endlich aktiv werden und sich ihren Problemen stellen.

Nicht jammern – trauern!

Jammern produziert neue Opfer. Trauer ist der Weg zu einer neuen inneren Stärke. Eine Bereitschaft zur Trauer wäre also der allerbeste Schutz gegen einen neuen Opferkult. Sie könnte dazu beitragen, dass wir Deutschen uns nicht länger in Verstrickungen, Schuldzuweisungen, diffusen Ängsten, Selbstbeschwichtigungen und überholten Denkmustern verlieren.

Eine Bereitschaft zur Vernunft würde zudem helfen, die Fakten zu akzeptieren und damit wahrzunehmen, dass die Deutschen in einer traumatisierten Kultur leben.

Zu den Fakten: Dass Nazideutschland Europa mit einem grausamen Krieg überzog und viele Millionen Menschen ermordete – wer, außer einigen alten und neuen Rechtsradikalen, würde das bestreiten? Aber der Konsens über Fakten stößt hierzulande schnell an seine Grenzen – wie es zum Beispiel die schon lange schwelende Auseinandersetzung um das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zeigt.

»Niemandem, erst recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet sein«, schrieb Antony Beevor, »das Thema des deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm in den vier Jahren davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an den Deutschen überhaupt erst geweckt hat.« Ich vermute: eine Mehrheit der Deutschen würde Beevor zustimmen, eine Minderheit nicht.

Kommen wir zu dem zweiten Punkt, über den es keine Einigkeit in der Bevölkerung geben wird, auch nicht im Ausland – die sogenannte Vergangenheitsbewältigung. In seinem Buch »Wie anders sind die Deutschen?« stellte der Franzose Alfred Grosser fest: »Von außen wird die Gemeinschaft der Deutschen mit Mißtrauen betrachtet: ist sie sich wirklich ausreichend der im Namen von Deutschland verursachten Leiden bewußt?«

Aber gewss doch, meinte Beevor. »Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste Historikergeneration hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu Greueltaten der SS oder der Wehrmacht genauestens erforscht.« Gelegentlich habe so viel Engagement der Geschichtsschreibung nicht nur gut getan, fügte er hinzu. Manche Themen hätten zuweilen eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung erhalten, wo doch Geschichte nie so ordentlich aufgehe. »Im Ausland hört man oft den Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu sehr um sich selbst, wie selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der Naziära abrechnen.«

Ich vermute auch hier: Eine Mehrheit der Deutschen würde dem zuletzt genannten Vorwurf aus dem Ausland zustimmen, eine Minderheit wiederum nicht.

Und nun der dritte Punkt. Die Deutschen als Opfer. Fakt ist, dass die Bevölkerung unsäglich unter dem Krieg gelitten hat. Das wird auch nicht bestritten. Unklar ist, wie die Deutschen heute damit umgehen sollen. »Ist es nicht ihr Recht, die Erinnerung an ganz spezifische Leiden des deutschen Volkes zu bewahren?«, fragte Grosser. Darum geht es. Das Problem ist nur: Fühlen wir uns als Volk tatsächlich dazu berechtigt, oder gehört es nicht vielmehr zum Erbe der Vergangenheit, dass wir uns nie mehr freimachen können von den ausländischen Bewertungen? Warten wir nicht unbewusst darauf, dass uns das Ausland endlich die Erlaubnis gibt, guten Gewissens unserer eigenen Opfer zu gedenken und den Traumatisierten Hilfe anzubieten?

»Natürlich ist es nur recht und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet«, schrieb Antony Beevor. Aber eine Gegenposition zu ihm ist leicht zu finden. In der »Süddeutschen Zeitung« warnte Moshe Zimmermann vor »moralischer Aufrechnung und Relativierung«, nun, da »Bomben, Flucht und Vertreibung Elemente des öffentlichen Diskurses« seien. Bei den Menschen, die sich als Opfer zu erkennen gaben, hatte der Experte für deutsche Geschichte, der in Jerusalem lebt, »Vorwürfe und Zorn« entdeckt, weshalb er die Frage stellte: »Gegen wen soll sich der Unmut der Leser von Grass, Friedrich oder der vielen Gedenktafeln und auch der Besucher des geplanten Vertriebenenzentrums richten?«

Wie lässt sich eigentlich unterscheiden, welche ausländischen Bedenken wir ernst nehmen müssen und welche nicht? Ich glaube, eine Unterscheidung ist dann erst möglich, wenn wir selbst eine Haltung zu einer angemessenen Gedenkkultur gefunden haben und nicht länger glauben, bei einem solchen Thema reiche es aus, irgendwelche Meinungen abzusondern.

Ich denke in diesem Zusammenhang an die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Er sah sich dazu veranlasst, weil die Themen Naziverbrechen, Schuld und Vergangenheitsbewältigung nicht etwa durch eine gesunde demokratische Gedankenvielfalt weiterentwickelt wurden, sondern in einer unheilvollen Meinungsverwirrung zu ersticken drohten. Nach Weizsäckers Rede war die politische Umgangskultur, was die Nazivergangenheit betraf, eine andere. In Debatten wurde weit seltener als vorher auf Schuld oder der Verleugnung von Schuld herumgeritten. Nun gab es leisere Töne, weniger Vorwürfe und Unterstellungen. Die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, wuchs. Statt der Frage nach deutscher Schuld stand die Verantwortung im Vordergrund, sprich, die Aufgaben und die Verpflichtungen, die Deutschland aufgrund des Erbes seiner Vergangenheit nun zu übernehmen hatte.

Die Auswirkungen einer großen Rede

Dem Bundespräsidenten war es ganz offensichtlich gelungen, alle Deutschen anzusprechen. Sie fühlten sich in ihrem unterschiedlichen Betroffensein wahrgenommen, auch als Opfer. Darum waren die positiven Auswirkungen seiner Ansprache später in allen gesellschaftlichen Bereichen zu spüren. Als ich die Rede kürzlich noch einmal las, kam mir der Gedanke: Hier hat sich jemand berufen gefühlt, als Deutscher den Deutschen zu helfen, aus einem Labyrinth der Emotionen wieder herauszufinden. Er tat es mit der Stimme der Vernunft, mit dem Wissen um völlig unterschiedliche Lebenserfahrungen, mit einem klaren Mitgefühl und mit deutlicher Abgrenzung gegenüber unredlichen Entschuldungstendenzen. Gleichzeitig bestätigte Weizsäckers Erfolg den pädagogischen Lehrsatz, dass man Menschen nur dann erreicht, wenn man sie wirklich wahrnimmt und nicht ihre Bedürfnisse durch moralische Appelle kleinzureden versucht. Der Bundespräsident beherzigte die Einsicht, dass man keine Verhaltensänderung bei seinem Gegenüber bewirkt, solange man ausschließlich auf das schlechte Gewissen zielt.

Die Zeit war reif für Weizsäckers lange Rede. Ich meine, die Zeit heute, fast zwanzig Jahre später, ist reif für eine weitere Rede. Thema: »Über das angemessene Gedenken der Kriegsschrecken in Deutschland«. Ich wünsche mir, dass eine väterliche oder mütterliche Autorität dem Gezänk und der Ideenlosigkeit ihre Stimme der Vernunft entgegensetzt. Die Fakten, die allgemein bekannt sind und nicht mehr infrage gestellt werden, reichen dafür allemal aus.

Es bedarf eines gesellschaftlichen Diskurses, aber der versickert immer wieder. Vielleicht wäre es günstiger gewesen, das Thema Luftkrieg wäre durch einen anderen Anlass in die Öffentlichkeit gelangt als durch Jörg Friedrichs Bestseller »Der Brand«. Aber wenn etwas kaum Beschreibbares wie das Grauen der Bombenangriffe so lange im Untergrund rumort hat, dann ist sein Auftauchen nicht mehr steuerbar, weder von den Betroffenen noch von den Rationalisierern, nicht von den Historikern und erst recht nicht von den Massenmedien. Sie können Themen nur ignorieren oder aufheizen, aber sie nicht in vernünftige Bahnen lenken.

Ich konnte die Kritik an Jörg Friedrich nicht so recht begreifen. Vielleicht wird sich mit genügendem Abstand zeigen, dass »Der Brand« für die Kriegskindergeneration eine ähnliche Bedeutung hatte wie Alice Schwarzers »Der kleine Unterschied und die großen Folgen« für die neue Frauenbewegung. Auch damals, 1975, war es für die Kritiker leichter, in diesem Buch eine haltlose Aneinanderreihung von Behauptungen zu sehen, als sich zu fragen, warum die Leserinnen es so fasziniert verschlangen, vor allem aber, wieso es fremde Frauen dazu brachte, einander plötzlich ihre imtimsten Dinge zu erzählen.

Mag ja sein, dass Friedrichs Präsentation, wie seine Gegner sagen, »wissenschaftlich unredlich« und seine Sprache allzu emotionalisierend ist. Aber schließlich: Friedrich war selbst ein Kriegskind, vielleicht wusste er besser als die Nachgeborenen, was seine Altersgenossen zum Thema Bombenkrieg brauchten. Vielleicht spürte er ihr Bedürfnis, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen, und lieferte dafür die Initialzündung.

Nach dem Erscheinen von »Der kleine Unterschied und die großen Folgen« ging es überhaupt erst richtig los mit der Frauenliteratur in Deutschland, auch mit der Frauenforschung. In einigen Jahren werden wir wissen, was für eine Veröffentlichungswelle »Der Brand« ausgelöst haben wird.

Von den heftigen Gefühlen zurück zu den Fakten, zu den heute gesicherten Erkenntnissen der Traumaforschung. Es gibt Kriterien, mit deren Hilfe sich der Behandlungserfolg in etwa voraussagen lässt. Man weiß, unter welchen Bedingungen sich Patienten wieder gut erholen und welche Umstände eine Genesung verhindern. Günstig ist es vor allem, wenn ein Opfer den Trost der Gemeinschaft erfährt. Das kann eine Familie sein, aber auch die ganze Verwandtschaft, oder noch besser, wie in bestimmten afrikanischen Traditionen, das ganze Dorf. Wichtig ist, dass einem Menschen vor einem Kreis von Zeugen gesagt wird: Ja, dir ist Unrecht widerfahren. Ja, es gibt allen Grund, dass du zurzeit mit deinem Leben nicht gut zurechtkommst. Es ist normal, dass du jetzt verwirrt oder unendllich traurig bist. Es ist gut, zu weinen und sich anderen Menschen anzuvertrauen.

In unserer Kultur finden Gemeinschaftsrituale, in denen öffentlich Unrecht bezeugt wird, nur im Gerichtssaal statt. Dort steht aber nicht das Opfer im Mittelpunkt, sondern der Täter. Und da Richter nicht die Aufgabe haben, Trost zu spenden, sondern die Wahrheit herauszufinden, weshalb Opfer häufig wenig einfühlsam befragt werden, besteht die Gefahr, dass Gerichtsverhandlungen einem traumatisierten Menschen eher schaden.

Was bleibt? Eigentlich nur die Trauerfeier. Tränen sind erlaubt. Die Gemeinschaft tröstet. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein stimmiges und nicht um ein leeres Ritual. Für ein früheres Buch habe ich mehrere Elternpaare, die ihr Kind verloren hatten, danach gefragt. Ihre Antworten machten die Unterschiede zwischen einer noch zusätzlich belastenden und einer hilfreichen Trauerfeier sehr deutlich.

Die Befreiung durch eine Trauerfeier

Dass Trauer keine Krankheit ist, sondern zu heilen vermag, erfuhr Hildegard Schwarz* auf völlig unerwartete Weise. An einem Märztag im Jahr 1995 nahm sie abends an einem Trauergottesdienst teil. Als sie ihre Reise in ihre Heimatstadt plante, ahnte sie nicht, was sie dort erwartete. Sie wollte nur, wie jedes Jahr zur selben Zeit, auf den Friedhof gehen. Im März 1945 war die Kleinstadt bei einem Luftangriff – der einzige seit Kriegsbeginn – fast vollständig zerstört worden. Dieser Katastrophe wurde nun, fünfzig Jahre später, in einer groß angelegten Trauerfeier gedacht. In der Kirche war Hildegard Schwarz ohne Begleitung, und sie wollte auch allein sein.

»Ich kann mich erinnern, dass ich fassungslos und hemmungslos im Gottesdienst weinte, und ich war wohl auch die Einzige«, erzählt sie mir acht Jahre später. »Und ich habe auch in Erinnerung, dass die, die ich von früher kannte, mich auch erkannt haben. Doch ich wollte nicht mit ihnen sprechen. Warum, das weiß ich nicht genau.« Es könne damit zusammenhängen, überlegt sie weiter, dass ihre Familie nach dem Krieg durch die Sucht des Vaters sozial geächtet war, was sie 1995 noch nicht verarbeitet hatte. »So souverän war ich eben damals noch nicht.«

Bis zu dieser Trauerfeier in der Stadt ihrer Kindheit besaß Hildegard Schwarz keinerlei emotionalen Zugang zu dem, was ihr als Zehnjährige widerfahren war. Nie klagte oder weinte sie, weil sie ihre Mutter und ihre drei Geschwister bei einem Bombenangriff verloren hatte. Tatsächlich sprach sie so gut wie nie darüber, und wenn doch, dann so nüchtern, als läse sie aus einer Zeitung vor. Keine Trauer. Stattdessen ein Rationalisieren, so wie sie es als Jugendliche als Überlebensstrategie eingeübt hatte.

Anfang der Neunzigerjahre geschah es, dass sie im Fernsehen einen Beitrag über den Luftkrieg in Deutschland sah und gleichzeitig fassungslos über ihre Tränen war. Als sie am Telefon ihrer Tochter sagte, sie könne sich ihr Weinen absolut nicht erklären, denn dies gehe sie doch alles nicht persönlich an, verschlug es der Tochter die Sprache. Wie war es möglich, dass ihre Mutter sich selbst nicht als ein Opfer des Bombenkriegs empfinden konnte?

Im März 1945 hatte Hildegards Mutter, von den Fliegern überrascht, mit ihren vier Kindern an der Außenmauer eines Hauses Deckung gesucht. Genau auf dieses Haus war dann eine Bombe gefallen. Die kleine Hilde hatte den Piloten gesehen, er flog sehr tief. »Das heißt, er hatte es ganz gezielt auf dieses Haus und die Menschen abgesehen«, stellt Hildegard Schwarz fest. Die ganze Familie wurde verschüttet. »Ich konnte mich nicht bewegen. Ich lag direkt auf meinem älteren Bruder.« Der Junge fragte: »Wo ist Mutti, wo sind die anderen?« Und Hilde sagte: »Die sind tot. Die sind im Himmel.« Dann beteten beide das Vaterunser. Danach starb der Bruder unter ihr, und Hilde verlor das Bewusstsein.

Als sie zwei Tage später aus den Trümmern geborgen wurde, brannte die Stadt immer noch. Die Zehnjährige war unverletzt, aber ihre Beine trugen sie nicht mehr. Im Leiterwagen wurde sie zur Beerdigung gebracht. Es dauerte Wochen, bis sie wieder laufen konnte.

Ihr Vater verkraftete den Verlust seiner Familie nicht. Er verfiel der Sucht. Als Arzt war es ihm ein Leichtes, an Rauschmittel zu kommen. Er sackte sozial immer tiefer ab, wurde zum Gespött der Kleinstädter. Hildegard schämte sich und machte ihm heftige Vorwürfe. Nach seinem frühen Tod zog die Tochter fort. Sie studierte, heiratete, bekam drei Kinder, baute eine eigene Familie auf. Aber eine gute Ehe führten sie und ihr Mann nicht. Weder fanden sie eine erträgliche Form des Zusammenlebens, noch konnten sie sich trennen. Hildegard Schwarz besaß nicht die Kraft, Entscheidendes zu verändern – bis zu dem Zeitpunkt, als sie in der Kirchenbank saß und endlich weinen konnte. Erst bei dieser Trauerfeier wurde ihr klar: »Du hast das Recht zu klagen! Du bist gar kein schwieriger Mensch. Das, was du erlebt hast, war schwer!«

Nach dem Gottesdienst schloss sie sich einem Fackelzug an, der durch die ganze Stadt führte. »Da waren Stationen, wo Gebete gesprochen wurden«, erzählt sie. »Und dann sind wir am Friedhof vorbeigegangen, der liegt am Berg. Und am Fuß, zur Straße hin, steht eine Kapelle. Hier hatten sie eine Tafel mit den Namen zum Gedächtnis der Opfer angebracht. Es tat mir gut, dass ich die Namen meiner Mutter und meiner Geschwister lesen konnte.«

Ein Ritual entfaltet seine Wirkung

In den folgenden Wochen und Monaten entfaltete das Ritual seine Wirkung. Rückblickend erkannte Hildegard Schwarz: Es war einer der wichtigen Wendepunkte in ihrem Leben. Eine Befreiung. Dieses Kapitel ihrer Kindheit sei nun abgeschlossen, sagt sie, in dem Sinne: Es ist keine Last mehr. Ihr Wesen habe sich inzwischen sehr verändert. Oder besser: Sie habe endlich die seelischen Räume wieder aufgemacht, wo sie eigentlich zu Hause sei. »Dabei ist mir bewusst geworden«, sagt sie, »dass ich als Kind ein heiteres, unbeschwertes quirliges Ding war und dann durch das alles erst schwierig geworden bin, also extrem auf mich selber zurückgezogen, ständig in dieser Not und dieser Sorge: So wie du bist, mag dich niemand, das versteht ja niemand. So eingeigelt, wie du bist. Also das war sehr, sehr lange so in meinem Leben.«

Das habe auch ihre Ehe geprägt, gibt sie zu, und natürlich auch ihren Mann belastet, aber ohne dass ihr dies bewusst gewesen sei. Sie sagt: »Er hat mich mal eine Dostojewski-Figur genannt. Das bin ich aber nicht.«

Obwohl es vielleicht schwerfällt zu glauben: Hildegard Schwarz hat keinerlei Ressentiments gegenüber dem englischen Bomberpiloten. Vielleicht deshalb, weil sie ihre Lebensbilanz insgesamt positiv zu sehen vermag. Sie verfügt über Bildung und eine robuste Gesundheit, ist finanziell gut versorgt, versteht sich bestens mit ihren Kindern und den Enkeln.

Seit Jahrzehnten engagiert sich die Katholikin im christlichjüdischen Dialog. Stets war sie der Meinung: Die Folgen von Auschwitz sind für die Überlebenden weit schwerer zu ertragen gewesen als das, was ihr als Kind zugestoßen ist.

Ihre Geschichte hat mir gezeigt, dass bei Trauerfeiern die Proportionen stimmen müssen. Es reicht zur Information, zu mehr nicht, wenn der Zerstörung einer ganzen Stadt in einem Vortrag gedacht wird. Es bringt auch keine Entlastung, wenn im Rahmen eines Gottesdienstes den Toten ein Requiem von 15 Minuten gewidmet wird. Dies geschah in einer Kölner Kirche aus Anlass der schweren Luftangriffe Ende Juni 1943, der sogenannten »Peter-und-Paul-Nacht«. Obwohl damals in ebendieser Gemeinde die Hälfte der Mitglieder ums Leben gekommen war, führte der Geistliche das Requiem nur mit dürren Worten ein. In seiner Predigt leuchtete er die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten aus. Es ist deprimierend, wenn Kirchenmänner ihren ureigensten Ritualen nichts zutrauen.

Hildegard Schwarz hat Gedenkfeierlichkeiten beschrieben, an denen eine ganze Stadt Anteil nahm. Was könnte angemessener sein, da doch die ganze Stadt zerstört worden war?

Die Störung eines Gottesdienstes

Große öffentliche Trauerveranstaltungen aus Anlass des Bombenkriegs sind aber, wie man weiß, eine heikle Sache. Nicht ausgeschlossen, dass vor der Kirchentür Nazis einem deutschen Opferkult huldigen oder dass antifaschistische Gruppen die Rechtsextremen draußen und die Teilnehmer drinnen gleichermaßen an den Pranger stellen. Gedenkgottesdienste können auch entgleisen. Ein gutes Beispiel dazu fand ich in einem Essay des Hamburger Theologen Fulbert Steffensky.

1993 fanden in Hamburg Gedenkfeiern für die Opfer der sogenannten Aktion Gomorrha statt, der Bombenangriffe 50 Jahre zuvor. Es gab einen Gedenkgottesdienst im Michel mit geladenen Gästen aus Coventry und aus Petersburg, mit dem Bürgermeister und der Bischöfin; vor allem aber mit alten Leuten, die diese Angriffe miterlebt hatten oder Angehörige in jenen Nächten verloren hatten. Während des Gottesdienstes kam es zu einer Störung. Eine Gruppe von jüngeren Leuten drang ein, besetzte die Mikrophone. Sie konnten nach Streit und Gerangel eine Erklärung verlesen: Um diese Toten gäbe es nichts zu trauern, sagten sie. Die Trauer um die Toten der Bombennächte verdränge die eigentliche Trauer, nämlich um die Toten der KZs. Die Konsequenz aus der deutschen Geschichte könne nur lauten: Nie wieder Deutschland.

Die jungen Leute, die den Gedenkgottesdienst störten, waren übrigens Theologiestudenten. Stimmen wie ihre hörte ich nicht, als ich mich auf der Suche nach Gesprächspartnern zum Thema »Öffentliches Gedenken« befand. Aber auffällig war doch, dass kaum jemand, den ich ansprach, tatsächlich die Menschen im Blick hatte, die womöglich heute noch an den Kriegsfolgen leiden. Mitgefühl war selten. Die politischen Bedenken überwogen.

Auf Anhieb konnte ich es nicht begreifen, denn ich saß ja nicht irgendwelchen dumpfen Menschen gegenüber, sondern verantwortungsvollen Trägern unserer Gesellschaft. Heute glaube ich zu wissen, was dahintersteckt. In der Wissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von mangelnder Opferempathie, also der Schwierigkeit, sich in das Leid eines anderen einzufühlen. Um mich verständlich zu machen, ist an dieser Stelle ein kleiner Exkurs in die sogenannte Täter-Opfer-Forschung nötig.

Es gibt hier die erschreckende Erkenntnis, dass vor allem viele jugendliche Schläger nicht in der Lage sind, zu empfinden, dass sie ihrem Opfer tatsächlich geschadet haben. Selbst wenn es so war, dass sie zu mehreren brutal über einen Wehrlosen herfielen, glaubten sie später, ihr Opfer habe nur ein paar Schrammen abbekommen – auch dann, wenn Polizeifotos sie mit einem übel zugerichteten Gesicht konfrontierten.

Sie empfinden sich nicht als Gewalttäter, sondern als junge Männer, die gern raufen. Es wird schlichtweg geleugnet, dass sie ein Verbrechen begingen. Stattdessen spielen sie die Tat herunter: So schlimm kann es nicht gewesen sein, so was kann doch im Eifer des Gefechts vorkommen . . .

Es hat sich nun herausgestellt, dass bei vielen dieser Menschen, die in Romanen als »gefühlskalt« bezeichnet werden, ein schweres Kindheitstrauma zugrunde liegen kann. In den meisten Fällen waren auch sie Opfer von Gewalt, zum Beispiel von Missbrauch in der Familie. Als Außenstehender kommt man an dieser Stelle schnell auf den Gedanken, dass das nichts als ein Trick des Täters sei, um sich selbst als Opfer zu stilisieren, damit er Mitleid erweckt und mit Nachsicht behandelt wird. Allerdings hat die psychotherapeutische Arbeit mit psychisch kranken Straftätern gezeigt, dass sie sich in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, als Kind ein hilfloses Opfer gewesen zu sein. Auf keinen Fall wollen sie sich den alten Gefühlen des Ausgeliefertseins aussetzen. Die hatten sie lange Jahre gut weggepackt, verdrängt, vergessen. Und da sie als Traumatisierte ihr eigenes Leid nicht wahrnahmen, waren sie auch völlig gefühllos gegenüber anderen Menschen, denen sie nun ihrerseits Gewalt antaten.

In der Therapie ist nun der zentrale Punkt der, dass die Täter sich ihres Traumas bewusst werden und dabei ihren seelischen Schmerzen wiederbegegnen, dass sie also die in ihnen steckende tiefe Verzweiflung und Ohnmacht erfahren. Nicht wenige sträuben sich bis zuletzt gegen die Therapie; sie empfinden sie als eine Art Folter. War die Behandlung aber erfolgreich, sind sie danach in der Lage, auch Mitgefühl für ihre Opfer zu entwickeln.

»Eine traumatische Kultur«

Als ich nach Frankfurt fuhr, um dort Micha Brumlik zu interviewen, hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht, dass ich bei unserem Gespräch noch einmal den Erkenntnissen der Täter-Opfer-Forschung begegnen würde. Ich hatte ihn besucht, weil er in einer Veröffentlichung Deutschland »eine traumatische Kultur« genannt hatte, und das fand ich bei einem Holocaustforscher jüdischer Herkunft ungewöhnlich.

Gleichzeitig war seine Aussage unmissverständlich. Sie hieß: Das Grauen, das die Vernichtungslager auch später noch in den Seelen der überlebenden Opfer verbreiteten, war weit schwerer zu ertragen als das Nachwirken von Kriegsgewalt, Bomben, Flucht und Hunger.

»Gleichwohl ist es wichtig, dass die Deutschen auch ihre eigenen Verletzungen wahrnehmen«, sagte Brumlik, »denn solange dies unterbleibt, können sie nicht wirklich Empathie, sprich einfühlendes Verständnis für andere Opfer entwickeln.« Dabei hatte er vor allem jene Jahrgänge im Blick, die nun dem Ruhestand zustreben oder sich bereits darin eingerichtet haben.

Das verblüffte mich, war ich doch gerade in der Generation der Kriegskinder auf eine ungewöhnlich starke, manchmal fast übermäßige Bereitschaft gestoßen, sich mit den Naziverbrechen und dem Leid der Holocaustüberlebenden zu befassen. Und ihnen ausgerechnet sollte es an Mitgefühl mangeln?

Ja, das sei möglich, sagte Brumlik, wobei er allerdings hinzufügte: »Ich glaube, es hat diese Generation, sofern sie politisch bewusst war, ihre ganze psychische Kraft gekostet, diesen moralischen Blick gegen die zum Teil verbrecherische Elterngeneration aufzubieten, und diese Kraft konnte wahrscheinlich nur dadurch mobilisiert werden, dass das eigene Leiden verdrängt worden ist.«

Wenn aber die Haltung »Nie wieder Auschwitz« ausschließlich einer moralischen Position entspringt, dann folgt daraus, wie Brumlik sich ausdrückte, eine moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern, jedoch kein Einfühlen in ihr Leid. Und diese Pflicht mag gerade vielen Älteren in Deutschland über die Jahrzehnte zu einer Last geworden sein, die sie nun gern loswürden. In diesem Zusammenhang erinnerte Brumlik an Martin Walser, der sich ja tatsächlich in seinen jungen Jahren in einer Fülle von Stücken und Essays mit der Massenvernichtung und Auschwitz auseinandergesetzt habe, aber offensichtlich so, dass das innerlich völlig an ihm vorbeigegangen sei. »Das ist nicht das gewesen, wofür sein Herz geblutet hat«, sagte Brumlik mit Nachdruck. »Das hat er aus einer moralischen Verpflichtung heraus übernommen, und je älter er wird, umso deutlicher wird zugleich, wie er an dieser moralischen Verantwortung leidet, und zwar so sehr, dass dann zum Schluss in unterschiedlicher Form tatsächlich antisemitische und judenfeindliche Äußerungen sich in seinem Werk häufen.«

Bei den jüngeren Deutschen wiederum wächst die Wunschvorstellung, die eigene Familie möge auf der Seite der Gerechten gestanden haben. Als ich über das Gespräch mit Brumlik nachdachte, fiel mir die wundersame Vermehrung der Widerstandskämpfer in Deutschland ein. Nach einer repräsentativen Umfrage des Emnid-Instituts, die zusammen mit Interviews in dem Buch »Opa war kein Nazi« veröffentlicht wurde, gibt es in Deutschland eine große Diskrepanz zwischen dem Familiengedächtnis und der Erinnerungskultur. Während im offiziellen Gedenken unablässig der Holocaust und die Verbrechen der Deutschen betont würden, schrieb dazu der Mitautor des Buches Harald Welzer in der »Süddeutschen Zeitung«, kultiviere das Alltagsgedächtnis ein Bild, in dem die Nazis die anderen, nie aber Mitglieder der eigenen Familien seien. Besonders die Enkelgeneration deute die in der Familie gehörten Geschichten um: zu Erzählungen vom alltäglichen Widerstand, vom couragierten Verhalten in gefährlicher Zeit. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung spiele im Familiengedächtnis nur eine marginale Rolle.

Und dies sind die Zahlen, die zeigen, wie wohlwollend eigene Familienangehörige bezüglich ihrer Rolle und Haltung in der Nazizeit eingestuft werden. Bei der Umfrage kam folgende Vorstellung heraus: Ein Viertel der damals erwachsenen Bevölkerung hat Verfolgten geholfen, 13 Prozent waren im Widerstand aktiv. Ganze 3 Prozent sind Antisemiten gewesen.

Die Umfrageergebnisse müssen uns wachsam halten. Der Trend des Schönredens und auch des Heroisierens ist allzu deutlich. Er könnte, sollte Deutschland eines Tages von weit schlimmeren Krisen geschüttelt werden, als heute vorstellbar sind, in gefährlicher Weise zunehmen und Menschen in großen Mengen in die Arme von neuen Nazis treiben.

Womöglich brauchen wir, damit der Weg zu einer realistischen Einschätzung eigener Familienangehöriger frei wird, nicht ein Mehr des öffentlichen Gedenkens der Naziopfer, sondern stattdessen Raum für eine Gedenkkultur der eigenen Opfer.

Dazu gehören aber nicht nur diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg Angehörige verloren. Am wichtigsten scheint mir heute zu sein, sich bewusst zu machen, dass es sich bei vielen ehemaligen Kriegskindern um Überlebende handelt, die unsere Solidarität brauchen.

Wenn Überleben eine gemeinsame Identität stiftet

Eine weitere Erkenntnis aus der Traumaforschung besagt, dass üblicherweise kollektive Katastrophen leichter verkraftet werden als individuelle. Der Grund liegt darin, dass das gemeinsame Überleben eine verbindende Identität stiftet. Das geschieht aber nur dann, wenn es eine gesellschaftliche Anerkennung des Leids gibt. Auf diese Weise entsteht auch eine gegenseitige Solidarität.

Dies aber war bei den Angehörigen der Kriegskindergeneration nicht der Fall. Da ihre Leiden nicht öffentlich wahrgenommen wurden, kamen sie auch als Erwachsene nicht dazu, so etwas wie Solidarität oder gar eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Häufig geschah das Gegenteil: Wenn Menschen laut sagten, dass sie der Krieg weiter verfolge, wurden sie als labil abgestempelt und auf diese Weise schnell zum Verstummen gebracht.

Natürlich gab es die Ausnahmen, Menschen, die von ihren Eltern immer wieder hörten: »Ihr hattet es schwer in der Kindheit, sehr schwer.« Aber wenn ein Thema grundsätzlich in einer Gesellschaft verschwiegen wird, wissen die Ausnahmen nicht, wie gut sie es im Vergleich zu anderen hatten. Sie halten dann aufdeckende Beiträge in den Medien für maßlos übertrieben. Sie können einfach nicht nachvollziehen, wie hart das Leben zu Menschen sein kann, die traumatisiert sind – aber davon keine Ahnung haben!

Auch hier gibt es eine Parallele zur Frauenbewegung. Natürlich hatte es auch in den Siebzigerjahren schon Frauen gegeben, die sich nie unterdrückt gefühlt hatten, die ihre Sexualität genossen, weshalb sie die ganze Aufregung nicht verstanden. Soziale Ungerechtigkeit? Gibt es überall. Mangelnde Berufschancen? Selbst schuld. Sexueller Missbrauch? Wohl doch eher alles Einbildung. Gewalt gegen Frauen? Wo denn?

Erst wenn die beste Freundin mit einem gebrochenen Kiefer im Krankenhausbett landete, gerieten die vom Schicksal begünstigten Frauen ins Grübeln. Dann erst wurden sie aufmerksam auf Missstände, von denen sie selbst nie betroffen waren. So kam es, dass damals der Zusammenhalt unter den Frauen wuchs.

Viel war auch von Solidarität die Rede, als ich in Karlsruhe Helmut Simon, Bundesverfassungsrichter im Ruhestand, interviewte und er seine eigene Generation der Kriegsteilnehmer mit der der Kriegskinder verglich. »Meine Generation – ich bin Jahrgang 1922 – hatte schwere Leiderfahrungen hinter sich«, sagte er, »aber sie war eine anerkannte, in der Öffentlichkeit geschätzte Gruppe, die auch – soweit sie überlebt hatte – ein starkes Selbstwertgefühl entwickelt hatte. Es gab auch so etwas wie ein solidarisches Wir-Gefühl.«

Trotz aller politischen Gegensätze, stellte Simon fest, habe das gemeinsame Erleben, das gemeinsame Überleben, eine große Rolle gespielt. »Das schloss zusammen, sodass man sich auch gegenseitig half. Also, es war ein begrenztes Wir-Gefühl. Aber es war da, und man fühlte sich nicht allein. Fast jeder hatte Unglaubliches erlebt und musste damit fertigwerden.« Dass jemand an seinen Traumatisierungen litt, wurde selbstverständlich akzeptiert, fügte er noch hinzu. Bei den Kriegskindern sei vieles anders. Laut Simon wirken sie unauffälliger, und sie sind mit einem geringeren Selbstwertgefühl ausgestattet als seine eigene Generation.

Kein Wunder. Sie befinden sich in einer üblen Klemme. In ihrer Kindheit hatte es geheißen: Stell dich nicht so an. So was haben doch alle erlebt! Schau nach vorn. Daran haben sie sich brav gehalten. Und nun, da sie alt werden, hören sie in ihrer Umgebung: Was soll es denn bringen, nach so vielen Jahren? Was versprichst du dir davon, wenn du mit über sechzig noch in deiner Kindheit herumstocherst . . .

Auch Simon hatte sich gefragt, ob es für die Jüngeren nicht besser sei, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Aber der Austausch mit seiner Frau, Jahrgang 1940, hat seine Sichtweise verändert.

»Was haben wir mit unserer Wut gemacht?«

Heide Simon-Ostmann, von Beruf Pastoralpsychologin, ist auch aus persönlicher Erfahrung bewusst, dass noch vieles Unerledigte darauf wartet, endlich verarbeitet zu werden: »Zum Beispiel: Was haben wir denn mit unserer Wut gemacht? Was haben wir denn mit unserer Enttäuschung gemacht? Was haben wir mit unserem Ehrgeiz, unserer Lebensfreude, also, was haben wir mit all diesen Regungen gemacht? Die haben wir alle irgendwo säuberlich verpackt in den Schrank gelegt oder haben sie sogar als Leiche im Keller liegen.«

Wichtig sei also, sagt sie, dass Angehörige ihrer Generation von ihrer unmittelbaren Umgebung nicht gebremst, sondern ermutigt würden. Aber das allein, findet sie, reiche nicht aus. »Wir brauchen auch die öffentliche Ermutigung! Wir sind als Generation – weil wir es uns nicht selber geben können – auf eine Genehmigung von außen angewiesen: Ihr dürft und ihr sollt das Schlimme aufarbeiten! Es gibt Gründe, warum das Aufarbeiten nötig ist: dass du als Kind gehungert hast, dass dich die Tiefflieger übers Feld gehetzt haben, dass du durch brennende Städte gelaufen bist . . .«

Nur – wer könnte diese Erlaubnis geben? Wir sind wieder bei dem Ausgangsthema dieses Kapitels, bei der Frage nach dem Sinn öffentlichen Gedenkens und kollektiver Trauer. Könnte es dazu einen Konsens geben, zum Beispiel im Deutschen Bundestag? Unwahrscheinlich. Als der CSU-Politiker Peter Gauweiler dort Ende 2002 einen Gedenktag für die deutschen Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg anregte, stieß er auf breites Desinteresse.

Es war also noch nicht einmal die Bereitschaft zu erkennen, sich darüber Gedanken zu machen. Die Bundesregierung – selbst eine Truppe von Kriegskindern, wenn man bedenkt, dass über die Hälfte der Kabinettsmitglieder diesen Jahrgängen angehören – sah jedenfalls keinen Handlungsbedarf. Der Schluss ihrer äußerst knapp ausgefallenen Anwort ließ daran keinen Zweifel: »Im Widmungstext der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland in der Neuen Wache zu Berlin heißt es dazu: ›Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.‹«

Aber noch einmal: Es geht nicht um Kranzniederlegungen für die Toten. Es geht vor allem darum, die Überlebenden zu stützen. Die Kriegskinder haben sich in den Ritualen des Volkstrauertags nicht wiedergefunden – warum sollte dies bei einem »Bombenopfergedenktag« oder in der Neuen Wache zu Berlin besser gelingen?

Die Bundesregierung und der Politiker Gauweiler haben noch nicht verstanden, warum es notwendig ist, den öffentlichen Diskurs über das angemessene Gedenken der Kriegsschrecken endlich zu führen und ihn vor allem zu gestalten.

Mit dem Schicksal Frieden schließen

Ein neuer Opferkult? Bloß nicht. Stattdessen Solidarität mit den Überlebenden. Ihren Trauerprozess unterstützen. Heide Ostmann-Simon bringt es auf den Punkt: »Es ist jetzt an der Zeit, das Geschehene zu verarbeiten und zu trauern. Und zwar deshalb, damit Menschen ihre psychische Energie, die sie in die Verdrängung gesteckt haben, wieder freibekommen. Warum? Damit sie diese Energie in die wichtige Aufgabe investieren können, gut alt zu werden!«

Trauern bedeutet, das versäumte Leben und die Verluste wahrzunehmen. Trauern hilft, die leidvollen Erfahrungen zu verarbeiten und als Teil der eigenen Identität anzunehmen. Trauern heißt: mit seinem Schicksal Frieden schließen.