ACHTES KAPITEL
Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter
Die Schule der Johanna Haarer
»Eine ungeheure weltanschauliche Wandlung vollzieht sich zur Zeit in unserem Volk. Neue Pflichten, neue Verantwortung warten auf jeden. Auf Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.«
Dies schrieb nicht Adolf Hitler, sondern die Ärztin Johanna Haarer im Vorwort ihres Ratgebers »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« – eine der vermutlich folgenreichsten Veröffentlichungen im Dritten Reich. Sich heute mit Haarers Anleitungen zu Säuglingspflege und frühkindlicher Dressur zu beschäftigen heißt, besser zu verstehen, warum Menschen der Kriegskindergeneration häufig so merkwürdig unauffällig waren, warum sie sich selbst nicht wichtig nahmen, warum sie ihre Kindheit auch Jahrzehnte danach noch als »etwas ganz Normales« empfinden konnten.
Johanna Haarers Wissen über Kinder bezog sich nur auf ihre eigene Mutterschaft. Ausgebildet war sie zur Fachärztin für Lungenerkrankungen. Am längsten hielt sie sich in ihrem Buch mit dem Thema Reinlichkeit auf. Ihm widmete sie 25 Seiten. Für die Gedanken, die sie sich über die körperliche und die geistige Entwicklung machte, reichte eine halbe Seite. Ihre natürlichen Feinde sah Haarer in Zeitgenossen, die sich an den frühen Erkenntnissen der Psychologie und der Psychoanalyse sowie an der Reformpädagogik orientierten. In den Zwanzigerjahren gab es bereits Frauenkliniken mit Rooming-in und Dissertationen zur Notwendigkeit des Stillens gleich nach der Geburt, was – heute unbestritten – die Bindung zwischen Mutter und Kind stärkt und Stillschwierigkeiten verringert. Lange bevor die Nazis an die Macht kamen, war also schon viel über das Entstehen oder Verhindern der Mutter-Kind-Bindung nachgedacht worden.
Aber allein die Diskussion darüber war selbstberufenen Volkserziehern wie Johanna Haarer ein Dorn im Auge. Sie propagierte, dass das Kind erst 24 Stunden nach der Geburt erstmals die Brust bekommen sollte, und sie wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, Mutter und Kind unmittelbar nach der Entbindung in getrennten Zimmern unterzubringen. Letzteres hielt sich in Deutschland bis in die Siebzigerjahre hinein. Erst dann kam es zu Überlegungen, ob dem Bedürfnis nach Nähe zwischen Mutter und Neugeborenem womöglich doch etwas Natürliches und Förderliches zugrunde liegen könne.
Haarer plädierte in ihrem Ratgeber ständig für »Ruhe«, was bedeutete, dass Babys im Wesentlichen sich selbst überlassen bleiben sollten. Gleichzeitig warnte sie vor einem Zuviel an Zärtlichkeit: »Vor allem mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlaß mit dem Kinde abzugeben. Das tägliche Bad, das regelmäßige Wickeln des Kindes und Stillen bieten Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen, ihm Zärtlichkeit und Liebe zu erweisen und mit ihm zu reden. Die junge Mutter hat dazu natürlich keine Anleitung nötig. Doch hüte sie sich vor allzu lauten und heftigen Bekundungen mütterlicher Gefühle.«
Auf Seite 248 heißt es dann: »Solche Affenliebe verzieht das Kind wohl, erzieht es aber nicht. Im Gegenteil. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es sehr oft schon frühzeitig zu förmlichen Kraftproben zwischen Mutter und Kind kommt. Auch wenn das Kind auf die Maßnahmen der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann läßt sie sich nicht irre machen.«
Bravo. Eine deutsche Mutter zieht ihren Stiefel durch. Es kann nach Haarer überhaupt nicht sein, dass ein Baby Grund hat, sich zu wehren. Dieser Fall ist bei ihr nicht vorgesehen. Eine deutsche Mutter kennt keine Fehler, außer dem einen: ihre Kinder zu verzärteln.
»Wehret den Anfängen!«
Nationalsozialisten wie Haarer und ihr Münchner Verleger Julius F. Lehmann lehnten die liebevolle Beziehung zwischen einer jungen Frau und ihrem Säugling ab, weil sie darin die Anfänge einer verweichlichten Jugend witterten. Der Nachwuchs sollte gestählt ins Leben gehen, »hart wie Kruppstahl«, wie es in der Nazipropaganda hieß. Daher Haarers wiederholte Warnung: »Wehret den Anfängen!«
Vor allem aber – und hier trat Verleger Lehmann mit missionarischem Eifer auf – sollten die Deutschen lernen, auf die Reinhaltung ihrer Rasse zu achten. Lehmann besaß einen der größten deutschen Medizinverlage und war in erster Linie nicht an hohen Auflagen, sondern an den Inhalten interessiert. Mit seinen Veröffentlichungen hatte er schon vor dem Ersten Weltkrieg bewirkt, dass die bis dahin von den Universitäten und Medizinern wenig beachtete Rassenhygiene diskutabel wurde. Er machte sich auch stark für den ersten Lehrstuhl für Rassenkunde, der 1930 an der Universität Jena eingerichtet wurde. Als der Verleger die Zeit gekommen sah, den Gedanken der Rassenhygiene möglichst an jede deutsche Frau heranzutragen, erkannte er in Haarer die geeignete Autorin, was dann auch ihr Vorwort bestätigte.
Wir erleben heute einen großangelegten Feldzug unserer Staatsführung mit, in dem das gesunde Erbgut und das rassisch Wertvolle zäh verteidigt werden gegen alles Krankhafte und Niedergehende, das unter der Herrschaft eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes zu überwuchern drohte. Jedem Volksgenossen müssen die Augen geöffnet werden für die Bedeutung der richtigen Gattenwahl auch nach gesundheitlichen und rassischen Gesichtspunkten. Drei Marksteine weisen hier die Richtung: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und das Ehegesundheitsgesetz.
Der Ratgeber, dessen Titelblatt die Autorin als »Frau Dr. Johanna Haarer« bezeichnet, war nach seinem ersten Erscheinen 1934 schon nach wenigen Wochen vergriffen. 1937 war die Auflage auf 100 000 gestiegen, und ein Fortsetzungsband »Unsere kleinen Kinder« war herausgekommen. Bis Kriegsende wurden von »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« 700 000 Exemplare verkauft. Ohne Zweifel hatte die Erfolgsautorin und glühende Anhängerin des Führers, die 1939 mit ihrem Lesebuch »Mutter, erzähl von Adolf Hitler« einen weiteren Bestseller landete, in der Säuglingspflege und der Kindererziehung Maßstäbe gesetzt. Aber die Erfolgsstory ging nach dem Krieg weiter: 1949 war das Buch wieder auf dem Markt. Nun hieß es statt »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« nur noch »Die Mutter und ihr erstes Kind«, war von nationalsozialistischem Gedankengut gereinigt, hielt sich auch mit pädagogischen Äußerungen weitgehend zurück und galt bis zu seinem letzten Erscheinungsjahr 1987 als ein Standardwerk. Ein Jahr später starb Johanna Haarer.
Der kaum veränderte Titel der Neuerscheinung legitimierte gleichzeitig die Ursprungsfassung: Sie stand weiterhin daheim im Bücherregal, bereit, bei Erziehungsbedarf neues Unheil anzurichten, weil Eltern keinen Grund sahen, sich von einer so anerkannten Kapazität auf dem Gebiet der Säuglingspflege und Kleinkindpädagogik zu trennen.
Seinen Erfolg in der Nazizeit verdankt der Haarer-Ratgeber der Tatsache, dass er institutionell gefördert wurde. Vor allem geschah dies in der »Reichsmütterschulung«, die von der NS-Frauenschaft ins Leben gerufen worden war. Die Kurse wurden im Laufe der Jahre von Millionen jungen Frauen besucht. Auch in den Einrichtungen des BDM galt im Fach Säuglingspflege Dr. Haarer als die maßgebende Autorität, die noch weit in die neue Bundesrepublik hineinreichte.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus der bereits erwähnten Untersuchung »Deutsche Nachkriegskinder«. Anfang der fünfziger Jahre wurden Mütter gefragt, wann ihre Kinder trocken waren. Das Ergebnis: 24 Prozent mit einem Jahr, 26 Prozent mit eineinhalb Jahren und 22 Prozent mit zwei Jahren. Aus heutiger Sicht sind das verblüffende Zahlen, geht man doch davon aus, dass Trockenwerden ein Reifungsprozess ist und dass Kinder frühestens ab dem zweiten Lebensjahr ein Gefühl für die Blasenfüllung entwickeln. Eine amerikanische Studie, die 400 Mittelklasse-Kinder aus den Vorstädten Philadelphias erfasste, kam zu dem Ergebnis, dass von Trockensein erst ab drei Jahren die Rede sein könne. Und so sieht das frühe Trainingsprogramm von Johanna Haarer aus:
Beginnt man mit dem Abhalten, bevor das Kind sitzen kann, so faßt man es von rückwärts an beiden Oberschenkeln unter und hält es über das Töpfchen. Das Körperchen findet Halt an den Unterarmen der Mutter. Im Anfang ist es reiner Zufall, wenn die Entleerung ins Töpfchen erfolgt. Sobald das Kind zu pressen beginnt, sagen wir ihm immer den gleichen Laut vor, der eben in der Kinderstube für diese Verrichtung üblich ist – z. B. »A-aa« für Stuhl oder »bsch-bsch« für das Brünnlein.
»Das Kind nicht riechen können«
Wichtig sei, sagt Haarer, dass das Kind begreife, »dass die Entleerungen eine Pflicht sind, die es regelmäßig erfüllen soll«. Aber das reicht noch nicht. Die Babys sollen schon früh lernen, sich vor ihren Ausscheidungen zu ekeln. Und wie! Dazu noch einmal ein Haarer-Zitat:
Stellen wir ihnen die Durchnässung mit Harn, die Beschmutzung mit Stuhl und schlechte Gerüche als etwas Abscheuliches hin, und zeigen wir ihnen, daß derartiges immer sofort entfernt, beschmutzte Kleidung gewechselt werden muß. Wenn wir dies immer wieder unermüdlich tun, bekehren wir das Kind bald zu unserem Standpunkt. Es wird zunehmend unglücklich und unbehaglich, wenn es naß oder schmutzig ist. Es verlangt nach Sauberkeit. Haben wir es erst so weit, dann ist der Kampf schon halb gewonnen.
Wie solches Belehren Wirkung erzielen soll, ohne dass ein Kind sich abgewertet und abgelehnt fühlt, verriet die Autorin nicht. Sie konnte es vermutlich auch nicht, sprach stattdessen immer wieder von dem »berüchtigten Kleinkindergeruch«, was Sigrid Chamberlain zu der Feststellung veranlasst: »Haarer kann das Kind, kann Kinder nicht riechen, das macht sie an vielen Stellen deutlich.«
In ihrem 1997 erschienenen Buch »Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« hatte die Soziologin Chamberlain den Ratgeber als Teil des Nazierziehungsprogramms entlarvt. Sie sieht in den Handlungsanweisungen von Haarer vor allem »die Verhinderung von Liebesfähigkeit«; den Müttern sei nahegelegt worden, ihren Neugeborenen »das Antlitz zu verweigern«. Tatsächlich wird auf vielen Abbildungen im Buch das Baby sonderbar steif gehalten, was wenig Blickkontakt und kaum körperliche Berührung erlaubt. Hier wurde, so Chamberlain, »absichtsvoll zu Beginn des menschlichen Lebens Bindungs-, Beziehungs- und Liebesfähigkeit zerstört«.
In ihrem Ratgeber hatte sich Haarer mit dem Erziehungsziel der Nazis verbündet, wonach der Deutsche hart zu sich selbst und zu anderen sein sollte, aber auch opferbereit. Ihre Anleitungen zur Säuglingspflege förderten einen Menschentypus, dessen Beziehungsfähigkeit wenig ausgeprägt war. Dafür wurden schon früh die Weichen gestellt, vor allem dann, wenn es gelang, den Geruch eines Säuglings regelrecht zu verteufeln. Haarer wusste: »Ein richtig gepflegtes Kind riecht nicht!« Chamberlain wiederum setzt dem entgegen, dass der Geruchssinn eine wichtige Rolle im wechselseitigen Bindungsprozess zwischen Mutter und Kind spiele: »Spätestens vom fünften Lebenstag an erkennt der Säugling den Geruch seiner Mutter und wendet sich der Quelle dieses Geruches spontan zu. Das Baby bevorzugt auch den Geruch seiner Mutter vor dem Geruch anderer Frauen. Mütter berichten ihrerseits häufig, daß jedes ihrer Kinder einen anderen Körpergeruch gehabt habe.«
Als ich Chamberlains Buch las, fragte ich mich, warum Haarers Ratgeber nicht schon von der 68er-Bewegung ausgegraben und angeprangert worden war. Deren Protagonisten sahen in der Kleinfamilie – also dem Milieu, in dem sie selbst groß geworden waren – ein Grundübel. Die neuen pädagogischen Experimente, das Entstehen der sogenannten Kinderläden in den Siebzigerjahren – dies alles entwickelte sich in krasser Abgrenzung zum autoritären Erziehungsstil der eigenen Eltern. Man wollte die Familie von »repressiven Strukturen« befreien. Die unentrinnbaren Abhängigkeiten der Kinder von ihren Eltern sollte es künftig nicht mehr geben.
Zu diesem Zeitpunkt war die Forschung darüber, wie frühkindliche Bindungen entstehen oder zerstört werden, noch nicht weit gediehen. Dass durch die Folgen der Nazipädagogik auch ihre eigene Bindungsfähigkeit Schaden genommen haben könnte, war den 68ern zunächst nicht bewusst. Nicht mit den Eltern über die Nazizeit reden zu können gehörte sozusagen zur familiären Grundausstattung der rebellischen Studenten. Aber wie Chamberlain zu bedenken gibt, hatte möglicherweise das Kommunizieren von Anfang an nicht stattgefunden. Vielleicht wurde das Schweigen der Eltern doch nicht durch die Vorwurfshaltung der eigenen Kinder ausgelöst oder durch Scham- und Schuldgefühle, sondern es war schon vorher nie zu einem Dialog in den Familien gekommen.
Ende der Siebzigerjahre dann – nicht zufällig der Beginn der Therapiewelle – waren die 68er bei sich selbst und ihren Beziehungsstörungen angekommen, wie sie Peter Schneider rückblickend in seinem Roman »Paarungen« beschrieb:
Jeder vereinzelte sich, stahl sich mit seiner kleinen, mißtrauischen Liebe, mit seiner Trennung auf Probe in seine vier Wände davon, zeugte Kinder bei heruntergelassenen Jalousien. Heimlich traf man sich auf dem Standesamt, feierte Hochzeit vor dem Schreibtisch des Standesbeamten, im Kreis von zwei oder drei Freunden, auf deren Verschwiegenheit Verlaß war, und teilte anschließend auf umweltfreundlichen Karten die unfrohe Nachricht mit. Was war eine Hochzeit ohne Zeremoniell, ohne Pathos? Fragte man, wurde von Steuervorteilen geredet, von der notwendigen Rücksicht auf zukünftige Kinder, vom erwiesenen Scheitern alternativer Lebensformen. Selten, daß ein Paar den Entschluß zur Ehe mit dem einzigen Satz begründete, der des Anlasses würdig war: Wir lieben uns und wollen zusammenbleiben, und zwar, um es genau zu sagen, für immer!
Streit mit der Nazimutter
Die Verwaltungsjuristin Renate Blank*, 1940 geboren, Mutter von zwei Kindern und zum zweiten Mal verheiratet, gehörte selbst zur rebellierenden Jugend in Berlin, obwohl sie 1968 keine Studentin mehr war, sondern versuchte, die Balance zwischen Beruf und Familie zu finden. »Nachdem mein Sohn geboren war«, erinnert sie sich, »kam meine Mutter und brachte mir diesen Haarer-Ratgeber aus der Nazizeit mit. Ich sah nur das Titelbild und hatte schon genug!« Es zeigte eine sehr deutsch aussehende Jungmutter, die ihr Kleinkind auf dem Arm hält, es aber nicht etwa anschaut, sondern statt dessen triumphierend in die Kamera blickt. Damals hatte Renate den Ratgeber nicht einmal aufgeschlagen, sondern nur zu ihrer Mutter gesagt: »Nimm den Schund wieder mit!« Dreißig Jahre später las sie das Buch von Sigrid Chamberlain, das sich mit ebendiesem »Schund« beschäftigte. »Und als ich die Fotos sah, die ja Zitate aus dem Haarer-Buch sind«, erzählt sie, »fiel es mir wie Schuppen von den Augen: diese distanzierten jungen Mütter mit ihren weißen, gestärkten Schürzen. Ich dachte vorher immer, das war die Macke von meiner Mutter.«
Das Verhältnis zwischen Renate und ihrer Mutter war nie spannungsfrei. Noch als Erwachsene litt die Tochter unter den Folgen der demütigenden Erziehungsmethoden in ihrem Elternhaus. Als sie dann sah, dass Gerda Blank* als Oma bei ihren Enkeln genau da weitermachen wollte, wo sie bei ihren Kindern, als sie ihr entwachsen waren, eines Tages hatte aufhören müssen, kam es zum ersten großen offenen Streit und schließlich zum Bruch. – Jahre später dann entdeckte sie Sigrid Chamberlains Auseinandersetzung mit den Haarer-Büchern. Vor allem in dem Kapitel »Das Kind nicht riechen können« fand Renate eine Bestätigung dessen, was sie auf dem Höhepunkt ihres Streits der Mutter geschrieben hatte – in einem Brief, auf den nie eine Antwort gekommen war.
Ich hatte während der folgenden zwanzig Jahre wenig Glück mit Freundinnen, und schon gar nicht mit Männern. Ich war mißtrauisch und zu sehr darauf bedacht, mich nicht zu entblößen. Alles, was mich zusammenhielt, war eine Fassade aus Lächeln und Lebhaftigkeit. Niemand, so glaubte ich, würde mich lieben können, wenn er mir erstmal wirklich nahe gekommen war. Auch dies, Mutter, ist unmittelbar die Folge Deiner Erziehungstaten. Du hattest mir klar gemacht, daß ich stinke. Das hast Du mir im Grunde nur hin und wieder gesagt, aber oft genug, um mich glauben zu machen, daß ein abscheulicher Geruch an mir hafte. Da Du mir nie, kein einziges Mal, das Gegenteil gesagt hast, mußte ich davon ausgehen, daß dies ein Dauerzustand an mir war, der offenbar weder durch eifriges Waschen noch Zähneputzen zu beseitigen war.
Neben dem Reinlichkeitskampf sah die Nazipädagogin Johanna Haarer auch das Füttern als eine Schlacht an, die gewonnen werden musste. Sie verstand absolut nicht, dass Säuglinge ab einer bestimmten Entwicklungsstufe nicht mehr nur passiv sind, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen wollen, wobei dann gelegentlich der Spinat in Mamas Gesicht landet. Auf Haarers Ratschläge reagiert Chamberlain mit unüberhörbarer Empörung: »Das Baby soll mit festem Griff bewegungslos gehalten werden, so daß es nur noch den Mund öffnen und schließen kann und schlucken muß, was der Erwachsene ihm zuteilt, und zu einem Zeitpunkt, den dieser bestimmt.« Sie sieht darin einen ungeheuerlichen Akt der Unterwerfung und Destruktion.
Ich war schon Anfang zwanzig, als ich zum ersten Mal in der Lage war, Essen zu genießen. Ich erinnere mich noch genau. An der Uni hatten Leute gefragt: »Renate, kommst du mit in die Pizzeria?« Wenn ich an die gemeinsamen Essen bei uns zu Hause denke, wird mir übel. Hast Du wirklich vergessen, Mutter, wie die Stimmung am Eßtisch war? Wie Deinen drei Kindern der Prozeß gemacht wurde; wie sie wegen ihrer schlechten Noten zusammengestaucht wurden, wie Verbote und andere Strafen verhängt wurden für falsches Benehmen – eine lange Liste der Vergehen, die Du in Deinem Kopf gespeichert hattest und die nun dem Vater vorgelegt wurde, damit auch er sich an dem Erziehungsprogramm beteiligte. Gleichzeitig warst Du gekränkt, wenn so wenig gegessen wurde. Du sahst darin eine Missachtung Deiner Kochkünste. Du hattest keinen Blick dafür, dass es Kindern auf den Magen schlagen könnte, wenn sie sich bedroht fühlen. Am schlimmsten aber war es, wenn jemand Dein Essen nicht mochte – wenn jemand würgte und würgte und es am Ende gar erbrach, zum Beispiel die gekochte Fettschwarte vom Eisbein. So etwas war in Deinen Augen offene Meuterei. Da setzte es sofort eine Ohrfeige, und es mußte dreimal der Satz wiederholt werden:
»Was Mutti kocht, schmeckt gut.«
Wenn die Eltern Blank – was äußerst selten geschah – in den Fünfzigerjahren auf den gnadenlosen Umgang mit ihren Kindern angesprochen wurden, dann antworteten sie im Brustton der Überzeugung: »Wir halten nichts von Affenliebe.«
Alle drei Kinder wurden im Krieg geboren, und alle drei wurden getreu den Grundsätzen erzogen, die Johanna Haarer unters Volk gebracht hatte. »Liebe Gerda, bist auch streng genug zu den Kindern?«, mahnte Albert Blank in einem Feldpostbrief.
Johanna Haarer zeigte viel Verständnis für Eltern, die glaubten, sich nicht anders als mit Gewalt durchsetzen zu können: »Manchmal verfängt eben nichts anderes mehr als eine ›fühlbare‹ Strafe, und aus dem abschreckenden Klaps werden ein paar nachdrücklichere Schläge.«
Jede Art unerwünschten Verhaltens sollte einem Kind so früh wie möglich ausgetrieben werden, und hierzu zählte in vielen Familien: Weinen und Klagen im Keim zu ersticken – so wie Hitler selbst es gefordert hatte. Dazu gab es zwar explizit von Haarer keine Äußerung, aber ihre ganze Haltung gegenüber dem Kind machte deutlich, dass es seiner Mutter zu folgen hatte. Keine Widerrede! Auf diese Weise geschah es, dass sich die Erwachsenen, ganz gleich, wie hart sie ihre Kinder anfassten, von Haarers Autorität ermutigt fühlten.
Wie Wölfchen seine Lebensfreude verlor
Anfang April 1943: Die Deutschen stehen unter dem Schock der Niederlage von Stalingrad. Eltern bangen um ihre Söhne, Frauen um ihre Männer, von denen schon seit Wochen keine Feldpost mehr kam. Die allgemeine Stimmung ist eine Mischung aus Angst, Sorge und Gereiztheit. In einem Zug von Breslau nach Berlin sitzt die junge Gerda Blank mit ihrem halbjährigen Sohn und der kleinen Renate. Am Anfang der Reise ist Wölfchen noch ein richtiges Strahlekind. Als würde die Sonne aufgehen, sagen die Mitreisenden im Abteil, ja, wie das wärmt in diesen schweren Zeiten . . . Aber dann fängt der Säugling an zu quengeln, brüllt schließlich los. Sein Geschrei steigert sich, wird unerträglich. Seine Mutter schafft es nicht mehr, ihn zu beruhigen. Da wendet sie sich mit einem Lächeln an die anderen Menschen im Abteil und fragt höflich: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ihn mal kurz durchprügele?« Aber nein, wird ihr bedeutet, machen Sie nur ...
Die Mutter legt Wölfchen übers Knie und schlägt ihm ein paarmal aufs Hinterteil – »durchaus kräftig«, wie sie später mit Nachdruck sagen wird, »sonst hätte es ja nicht gewirkt«. Und wie es wirkte: Der Säugling schnappt noch mal kurz nach Luft und schläft postwendend ein.
Später wird die Geschichte von Wölfchens schlagartigem Verstummen in das Repertoire der Familienanekdoten aufgenommen. Noch als alte Frau wird Gerda Blank davon erzählen, allerdings nur im Kreise von Gleichaltrigen, bei denen sie sich der Haltung sicher sein kann, dass »Klapse noch nie jemandem geschadet haben«.
Wölfchen war überhaupt so ein Wunderkind, wird die Mutter hinzufügen: Mit einem Jahr schon sauber. Und immer so ein strahlendes Gesicht. Und so schöne Bewegungen, als es dann laufen konnte . . .
Wenn der Vater noch lebte, er hätte Wölfchens Kindheit womöglich etwas anders geschildert. Wenige Wochen bevor Albert Blank in den Siebzigerjahren starb, hatte er sich laut darüber Gedanken gemacht. »Irgendetwas ist damals schiefgelaufen mit Wolf«, sagte er in einem der wenigen offenen Gespräche mit seiner Tochter. »Er war so ein graziöses Kind. Aber mit drei Jahren wurde er plötzlich verkrampft; und so ist er bis heute geblieben.« »Man hätte ihn vielleicht nicht schlagen sollen«, meinte Renate. Der Vater zuckte zusammen und schwieg.
Es war das einzige Mal, dass die Tochter es wagte, seine Erziehungsmethoden zu kritisieren. Weil sein Zweitältester mit zwei Jahren noch ins Bett machte, schlug ihm der Vater jedesmal mit einem Stöckchen auf die Beine, bis sie rote Striemen zeigten – mit dem Erfolg, dass der Junge noch mit zwölf Jahren ein Bettnässer war. Auch scheuchte der Vater seine drei- und vierjährigen Söhne mit nackten Füßchen über die spitzen Steine seines Hofs. Ihr Jammern rührte ihn nicht, im Gegenteil, da mussten die Kleinen dieselbe Strecke wieder zurück . . . Die Schulzeit brachte dann neue Gründe, den Nachwuchs zu quälen. Schlechte Klassenarbeiten und Zeugnisse hatten Prügel zur Folge; alle drei Kinder entwickelten sich zu Schulversagern.
Von klein auf waren sie eingeschüchtert worden. Widerstand und Widerworte durfte es gegenüber Mutter und Vater nicht geben. Da kam sofort eine Ohrfeige, oder der Rohrstock wurde eingesetzt. Ihr Leben lang wird sich Renate daran erinnern, dass sie als Sechsjährige in einer Gaststätte, »ohne zu mucksen«, etwas Scheußliches austrank – eine heiße Zitrone, die versehentlich mit Salz statt mit Zucker serviert worden war.
Ihr Bruder Wolf, dem schon so früh die Freude am Leben ausgetrieben worden war, entwickelte sich zu einem Erwachsenen, der sentimental werden konnte, aber kaum je Einfühlsamkeit zeigte. Seine eigenen Kinder schlug er zwar nicht, aber als seine Frau es nicht ertrug, ihr Baby abends im Bett schreien zu lassen, sagte er: »Dann tu dir doch Ohropax rein. Dann hörst du nichts.« Er meinte derartige Problemlösungen völlig ernst – ähnlich wie seine Mutter, die noch im hohen Alter das Verprügeln eines Säuglings für ein geeignetes Erziehungsmittel hielt.
Auch Mädchen weinen nicht!
Dass in der Nazizeit der Satz »Ein deutscher Junge weint nicht!« ergänzt wurde durch »Auch ein deutsches Mädchen weint nicht!«, ist für Sigrid Chamberlain sehr wichtig: »In den Mädchen wurde nämlich früh und absichtsvoll etwas zerstört, das gemeinhin als ihr Privileg gilt: nämlich das Lebendürfen von Gefühlen. Es wachsen dann Frauen heran, die, wenn sie einmal Mutter werden, ihre Kinder wiederum in einem kaum vorstellbaren Ausmaß innerlich alleinlassen, auch wenn sie es bewußt gar nicht wollen.«
Wenn ein kleines Kind aufgrund von Schmerzen oder Angst weine und dann wegen seines Weinens geschlagen werde, dann, so Chamberlain, könne es geschehen, »daß das Kind seine eigenen Zustände gar nicht mehr wahrnimmt und sich innerlich völlig abtötet«. Die Soziologin spricht aber auch davon, dass »kümmerliche Reste von Spontaneität« überleben könnten. Diese wiederum könnten sich dann in kleinen Fehlern ausdrücken, die dem Kind »aus Versehen« passieren. Chamberlain stellt fest: »Gerade solche Fehler provozierten oft besonders heftige Wutausbrüche der Mutter.«
Von Deiner Seite gab es keinen Schutz, sondern nur Verrat. Deine Tochter zu sein hieß, Dir ganz und gar ausgeliefert zu sein: Deinen Launen, Deinem Frust, Deinem Zorn und Deiner gelegentlichen Gnade. War ich unaufmerksam, fiel mir etwas zu Boden, hast Du mich beschimpft oder geschlagen. War ich total in ein Buch vertieft und deshalb nicht in der Lage, ad hoc Deinen Befehlen zu gehorchen, hast Du mich geschlagen. Erst schriest Du: »Hände aus dem Gesicht!« – dann schlugst Du zu. Ich gehorchte jedesmal, ich nahm die Hände vom Gesicht, weil ich an den Rohrstock dachte.
Du hast von mir absoluten Gehorsam erwartet. Gab ich Widerworte, schlugst Du mir ins Gesicht. Weigerte ich mich, Lebertran zu schlucken, schlugst Du mich ins Gesicht. War ich nicht leise genug, so daß Dein Mittagsschlaf gestört wurde, schlugst du mich ins Gesicht. Es war auch gefährlich, in Deiner Gegenwart zu weinen, jedenfalls aus Verzweiflung oder Angst: das war für Dich kein Grund. Du sagtest immer: »Wer weint ohne Grund, der kriegt eine Ohrfeige, damit er weiß, warum er weint.«
Ging mir etwas kaputt, oder hatte ich Dir einmal nicht gehorcht, setzte ich alles daran, Deine Wut zu mildern: mit Schmeichelei, mit Beschwichtigung, mit Selbstbezichtigung, mit Verschweigen, mit Lügen. Aber wehe, Du hast mich beim Lügen erwischt: Dann hast Du erst recht auf mich eingeprügelt. Wenn Du Deinen Erziehungsauftrag mit solcher Deutlichkeit spürtest (nämlich: man muß dem Kind das Lügen austreiben), gab es keinen Funken Gnade mehr. Dann hieß es: »Hol den Rohrstock, Renate – wir gehen in den Keller!«
Es gab Pausen. Du hast mich nicht ständig geschlagen. Aber die Bedrohung blieb. Mit einer Ohrfeige war stets zu rechnen. Als ich erwachsen war, habe ich Dich einmal gefragt: »War ich ein aufmüpfiges Kind, schwer erziehbar, mißraten?«
»Keineswegs«, sagtest Du. »Ich habe nicht in Erinnerung, daß du schwierig warst.«
»Aber warum hast du mich dann so viel geschlagen?«
»Renate, du übertreibst.«
Natürlich gab es auch zu Haarers Zeiten Familien, in denen es nicht üblich war, Kinder zu verprügeln. Ihnen legte die Ärztin und Autorin nahe, dass »das schreiende und widerstrebende Kind, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ›kaltgestellt‹, in einen Raum verbracht wird, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet wird, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift.«
Und man glaubt gar nicht, möchte ich hinzufügen, wie leicht man »ungezogene« Kinder, die in Wahrheit vom Krieg verstört waren, mit diesem Erziehungsstil lenken konnte: vom Horror des Luftschutzkellers in den Horror der dunklen Abstellkammer . . .
Sigrid Chamberlain führt in ihrem Buch die Bestrafungsvielfalt der schwarzen Pädagogik auf, die durch Johanna Haarers Ratgeber noch einmal folgenreich autorisiert worden war. Dass »Schläge noch keinem Kind geschadet« haben, wurde als Merksatz nicht nur in den Familien von Generation zu Generation weitergereicht, sondern auch in der Institution Schule. Bis in die Siebzigerjahre hinein konnten gewalttätige Lehrer ungebremst ihre Schreckensherrschaft aufrechterhalten, obwohl ihre Kollegen und auch die Eltern genau Bescheid wussten; so lange hielt sich eine Erziehungskultur, wonach ein prügelnder Lehrer keinen Gegenwind zu befürchten hatte.
In Erinnerungen an die Nazivergangenheit taucht er immer wieder auf. Ein typisches Exemplar beschrieb der Kölner Architekt Peter Busmann auf der Jahrestagung des »Ordens Pour le Mérite« im Juni 2003 in Berlin. In seinen Vortrag »Architektur im Schnittpunkt von Zerstörung und Überleben« baute er ein zentrales Kindheitserlebnis ein, das es verdient, weitererzählt zu werden:
Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die ich 1943 als Kind in Kiel erlebt habe: Stellen Sie sich ein häßliches kasernenartiges Schulgebäude vor und da den Schulhof während der Pause. Ich prügle mich mit einem Klassenkameraden, und wie das Schicksal es will, liege ich gerade in dem Moment über meinem Gegner, als wir beide in eines der Souterrain-Fenster fallen, dessen Glasscheiben mit lautem Klirren zu Bruch gehen.
Kaum bin ich wieder auf den Beinen, werde ich von einer schadenfroh grölenden Horde zum aufsichtführenden Lehrer gestoßen. Der nimmt mich wortlos mit in das Klassenzimmer, entnimmt dem Schrank einen Rohrstock, schlägt mich aber nicht, fährt nur mit dem Daumen fast liebevoll über das Marterinstrument und sagt: »Morgen, Freundchen . . .«
Wieder losgelassen, bin ich allein mit meiner Angst und den jagenden herzklopfenden Gedanken, deren Mittelpunkt nicht so sehr die bevorstehende Züchtigung ist wie die Scham, »es« zu Hause erzählen zu müssen.
Zu Hause bringe ich kein Wort heraus.
In der Nacht werden wir von heulenden Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Fliegeralarm jagt uns alle in den Keller, fragwürdiger Schutz im Getöse von FLAK- und Bombentreffern.
Unser Block bleibt dieses Mal noch verschont, und ich muß mich am nächsten Morgen mit bleischwerem Herzen auf den Weg zur Schule machen. Von der letzten Straßenbiegung sind es noch wenige Schritte bis zur Schule, als ich aufblicke, kann ich es nicht fassen: Die Schule ist weg. Anstelle des gewohnten Backsteinmassivs nur ein Haufen rauchender Trümmer. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder ein solches Glücksgefühl gehabt zu haben wie in diesem Moment.