SECHSTES KAPITEL
Die verlorene Heimat als Fixpunkt
Über Flucht und Vertreibung wurden unzählige Romane und Sachbücher geschrieben. Auch ist die Gruppe der Vertriebenen – im Unterschied zu den Bombenopfern – recht gründlich bis zu Beginn der Siebzigerjahre erforscht worden. Bei den meisten Überlebenden blieb die verlorene Heimat der Fixpunkt ihres Daseins. Dass als Folge von Hitlers Vernichtungskrieg im Osten etwa 14 Millionen Menschen ihre Heimat verloren hatten und davon womöglich 2 Millionen ihr Leben – andere Schätzungen gehen von 200 000 aus –, dies alles wurde also keineswegs verschwiegen.
Weniger wurde über die Tatsache gesprochen, dass das größte Leid hätte vermieden werden können, wenn die Deutschen nicht von ihren eigenen Leuten daran gehindert worden wären, rechtzeitig zu fliehen – und aus einem weiteren Grund: An ihn erinnerte Antony Beevor, hochgelobter britischer Autor der Sachbücher »Stalingrad« und »Berlin 1945. Das Ende«, als er in einem Beitrag in der »Welt« schrieb: »Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges, kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten in der Falle eines von den Nazis geschaffenen Alptraums. Hitlers Weigerung zum Rückzug bedeutete eben auch, daß deutsche Frauen und Kinder dem russischen Vormarsch einfach überantwortet wurden.«
Das Thema Vertreibung bekam in Deutschland den Stempel einer Interessenpolitik, weil zwar nicht alle, aber in jedem Fall die lautesten Funktionäre der Vertriebenenverbände auf die Rückgabe der deutschen Ostgebiete pochten. Aus der Vertreibungskatastrophe wurde ein Politikum, das alle kollektiven Gefühle von Verlust und Trauer, aber auch von Mitgefühl aufzusaugen schien. Es gab keine wirkliche Solidarität mit den Flüchtlingen. Der Lastenausgleich wurde zwar von der ganzen Bevölkerung finanziert, aber er löste bei den Westdeutschen eher Neid aus; in der Regel gönnte man es den Flüchtlingen nicht, dass sie für erlittene Verluste in einem gewissen Umfang entschädigt wurden.
Interessant ist, dass selbst in den betroffenen Familien detailliertes Wissen über das, was Eltern und Großeltern widerfahren war, vielfach zurückgehalten wurde. Man kann sagen: Bei den jüngeren Deutschen ist über das millionenfache Vertriebenenschicksal wenig bekannt. Die heute vierzigjährigen Kinder der ehemaligen Flüchtlingskinder haben häufig keine genaue Vorstellung davon, wie viel Zeit damals vergangen sein mochte zwischen dem Verlassen der Heimat und dem Ankommen irgendwo in Sachsen, Bayern oder Norddeutschland. Wochen? Monate? Womöglich länger?
Die Flucht und der von vielen Umwegen, Rückwärtsschleifen oder Stockungen beeinträchtigte Fluchtweg sind weitgehend blinde Flecken im Familiengedächtnis: entweder weil die zweite und dritte Generation sich nicht sonderlich daran interessiert zeigte oder weil die Älteren die Jungen nicht mit ihren schweren Erinnerungen belasten wollten, oder weil über bestimmte traumatische Erfahrungen nicht gesprochen werden konnte. Das gilt vor allem für viele Hunderttausend vergewaltigte Frauen, von denen bekannt ist, dass nur wenige, wenn überhaupt, im Alter ihr Schweigen brachen.
Auf der Flucht geboren
Über das Schicksal der Kinder auf der Flucht weiß man wenig. In den Achtzigerjahren gab die Historikerin Bärbel Beutner ein kleines Buch mit dem Titel »Auf der Flucht geboren« heraus. Die hier gesammelten Erfahrungsberichte vermitteln wie im Brennglas die äußerst bedrohte Situation von Frauen und Kindern. »Da wurde ein vergessenes Fläschchen zur Katastrophe«, schreibt Beutner im Vorwort.
Da liest man von einer Frau, dass ihr nach der Niederkunft, weil sie sofort weiterziehen musste, nicht einmal Zeit blieb, ihr Kind zu waschen – das geschah dann erst sieben Tage später. Auf einem Frachtschiff kam ein Mädchen mithilfe zweier Tierärzte zur Welt; bei einem Bombenangriff flogen Fenster und Tür auf das Bett einer Wöchnerin mit ihrem Neugeborenen. Und es gibt die Geschichte einer Mutter, die versuchte, ihr Kind mit Brennnesselsaft am Leben zur erhalten, vergeblich; eine andere trug ihren erfrorenen Säugling noch tagelang mit sich herum.
Bemerkenswert ist das Buch auch deshalb, weil die Herausgeberin sich auch über die Folgen Gedanken machte: Da jedes überlebende »Fluchtkind« so etwas wie ein Wunder darstellte, erhielt es in seinem späteren Leben einen Sonderplatz in der Familie – aber auch aus anderen Gründen: »Ich bin als ›Fluchtkind‹ aufgewachsen und habe doch nie selbst fliehen müssen«, sagt Beutner über ihre eigene Herkunft. »An meinem Geburtstag wiederholte sich Jahr für Jahr der Fluchtweg: ›Heute vor soundsoviel Jahren sind wir los . . . Dann kamen wir da und dort an . . . So lange ist es nun schon her! . . . An unserem Fluchtkind können wir sehen, wie lange wir schon von zu Hause weg sind . . .‹«
Dass gerade in Flüchtlingsfamilien die Kinder zu Anpassung und Leistung angehalten wurden, ist bekannt. »Rücksicht verstand sich von selbst, ständiges Bemühen, Fehler zu vermeiden, Störungen zu vermeiden, Erwartungen zu erfüllen«, schreibt Beutner. »Das Schlimmste, was passieren konnte: Enttäuschungen verursachen. Und darüber hinaus gab es noch Schlimmeres: Schande herbeiführen, Ehrenrühriges verschulden, sei es durch schlechtes Benehmen oder durch schlechte Leistungen, denn wir hatten doch nur noch den guten Namen, alles andere war doch verloren.«
Der Mutter immer dankbar sein ...
Angesichts der Verluste der Eltern war für die heranwachsenden Kinder Lebensfreude nicht unbedingt etwas Selbstverständliches, was Beutner zu der rhetorischen Frage veranlasst: »Wie konnte man sich unbeschwert vergnügen, wo diese doch den Krieg erlebt hatten?« Die Rolle, die man dem »Fluchtkind« auferlegte, war womöglich noch einschränkender als die seiner älteren Geschwister: Es hatte seiner Mutter, die Übermenschliches für ihr Kind getan hatte, in Dankbarkeit verpflichtet zu bleiben – auch wenn dies nie direkt ausgesprochen wurde.
»Wenn ein Fluchtkind all das erspürte«, führt Beutner aus, »konnte der Mutter manches nicht ›angetan‹ werden, was eigentlich zu der normalen Entwicklung eines Kindes gehört. Natürlich war es schon gar nicht möglich, wegzugehen, auszuziehen, ein eigenes Leben zu führen. Jede weitere Station im Leben mußte so geregelt werden, daß die Mutter nicht vernachlässigt oder gar verlassen wurde.«
Bärbel Beutner macht der älteren Generation keine Vorwürfe, sie spricht nicht von Schuld, aber sie ist auch frei von Selbstvorwürfen, weil sie erkannt hat, dass auch ihr Leben unverkennbar von der Vertreibung geprägt wurde.
Loyalität gegenüber den Eltern ist im Prinzip etwas Gutes; nur war es offenbar für viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien schwer zu unterscheiden, wann ein liebevolles Unterstützen der Mutter unbedingt nötig war und wann so viel Rücksichtnahme ein eigenes Leben verhinderte. Jahrzehnte hatte die erwachsene Tochter Bärbel der Mutter zuliebe in ihrer westfälischen Kleinstadt verbracht, obwohl das Gefühl blieb, dass dies die »richtige Heimat« nicht sein konnte. Die alte Heimat, die der Eltern, sei auch in ihr mächtiger gewesen, sagt sie. Das Leben in Westdeutschland habe etwas Vorläufiges, Zufälliges behalten. »Die Wirklichkeit des Lebens hier blieb fragwürdig, wenn man sich auch völlig hineinfand. Das Bewußtsein blieb merkwürdig gespalten.«
Halb Deutschland unterwegs
Die Flüchtlinge und Vertriebenen gehören zu den vielen Millionen Deutschen, die während der Nazizeit und danach von den Wogen der Kriegsauswirkungen durchs Land getrieben wurden. Wie sah ihre Situation im Frühsommer 1945 aus? Längst nicht alle Schlesier, Pommern, Ostpreußen und Sudetendeutsche hatten bis zu diesem Zeitpunkt so etwas wie eine provisorische Bleibe gefunden. Eine unbekannte, aber in jedem Fall große Zahl versuchte noch, bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen. Andere wanderten umher, verarmt, zerlumpt, von irgendwelchen Zufälligkeiten hierhin und dorthin geweht, oder sie wurden von den Besatzern zwischen den Zonen hin und her geschoben. Diese letzte Odyssee muss viele Flüchtlinge an den Rand der Verzweiflung gebracht haben, denn das Grauen, das hinter ihnen lag, war noch frisch.
»Deutschland – ein Ameisenhaufen«, so beschreibt die Historikerin Margarete Dörr die Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie geht davon aus, dass damals jeder zweite Deutsche unterwegs war; und es zogen mehr Frauen umher als Männer. Drei Bände umfasst Dörrs Veröffentlichung mit dem Titel »Wer die Zeit nicht miterlebt hat . . .«, worin sie die »Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach« in der Art eines Riesenpuzzles zusammenfügte. Wer wirklich wissen möchte, wie es den Frauen ging und wie unterschiedlich ihre Schicksale waren, kommt an Dörrs Arbeit nicht vorbei. Von ihr wird man kein Wort der Heroisierung hören, zum Beispiel in Bezug auf die sogenannten Trümmerfrauen, aber auch kein Klagelied.
»Bis zum Schluß«, schreibt sie, »schlugen sich Arbeiterinnen und Angestellte unter unsäglichen Strapazen zu ihren Dienststellen durch, machten frag- und klaglos Überstunden, pflanzten Bäuerinnen im Morgengrauen Kartoffeln, bevor die Tiefflieger kamen, versuchten Lehrerinnen den Unterrichtsbetrieb aufrechtzuerhalten. Sie taten es nicht allein unter Zwang, sondern aus einem heute kaum noch nachvollziehbaren Pflichtbewußtsein und aus purem Überlebenswillen.« Die Historikerin nennt auch den Preis für die ungeheuren Leistungen: »Frauen und Mütter waren eigentlich nie ausgeschlafen; je länger der Krieg dauerte, desto weniger. Viele waren ausgepowert und erschöpft und rappelten sich dennoch immer wieder von neuem auf.«
In Deutschland unterwegs waren zur Stunde null neben den Heimatlosen auch sehr viele evakuierte Frauen und Kinder, die in ländlichen Regionen, auch in östlichen Gebieten Zuflucht vor den Bomben gesucht hatten. Nun wollten sie in ihre Heimatstädte zurück. Es wird geschätzt, dass 5 bis 10 Millionen Menschen während des Krieges an Evakuierungen teilnahmen, deren Dauer allerdings sehr unterschiedlich war, von wenigen Wochen bis zu zwei Jahren.
Ahnungslose Dorfbevölkerung
In seiner Romantrilogie »Das Haus auf meinen Schultern« hat Dieter Forte ausführlich darüber geschrieben. Als Kind war er häufig aus Düsseldorf evakuiert worden, hatte erlebt, dass seine Mutter in der Fremde als »Bombenweib« begrüßt wurde. Jedesmal war es so, dass Mutter und Sohn schon nach kurzer Zeit beschlossen, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, dass sie der kriegsfreien Idylle entflohen, weil sie das ahnungslose dörfliche Klima einfach nicht aushielten.
Natürlich gab es auch hier Sirenen, die gelegentlich aufjaulten. Das wurde eine Übung genannt, und die Menschen gingen weiter, als wäre nichts geschehen. Sie gingen oft ganz besonders langsam, um zu beweisen, daß sie sich durch eine Sirene nicht erschrecken ließen. Der Junge, der sofort in den nächsten Keller rannte, wurde ausgelacht, und in den kleinen Lebensmittelläden wurde den Frauen gesagt, die Städter hätten überhaupt keine Nerven. Sie schnitten mit einem breiten Messer ihre Butterrollen durch und meinten, sie täten sich vor nichts fürchten, sie könne man nicht erschrecken, seine Ruhe dürfe man sich nicht nehmen lassen.
Hier war seit hundert Jahren nichts passiert, einmal war eine Kuh aus dem Schlachthof weggelaufen, das Tagblatt erinnerte jedes Jahr daran, und der Junge, der an jedem Vormittag vor dem vergitterten Aushang des Tagblatts stand, um die Meldungen zu lesen, fand nie eine Meldung über die Bombardierungen im Reichsgebiet.
Zu den Evakuierten und Flüchtlingen, die sich bei Kriegsende auf Deutschlands Straßen und Schienen befanden, gesellten sich Schülerinnen und Schüler, die durch die Kinderlandverschickung irgendwo in der Ferne, teilweise an den Rändern des Deutschen Reiches, abgesetzt worden waren. Etwa 2 Millionen, die meisten schon im jugendlichen Alter, hatten an diesen Maßnahmen teilgenommen. Nun sahen sie sich teilweise von ihren Lehrern – »Der Russe kommt!« – im Stich gelassen und mussten sich allein durchschlagen. Auf jeden Fall kann man vermuten, dass es reichlich Erfahrung mit dem Massentransport unter erschwerten Bedingungen gab, so wie sie Dieter Forte bei einer Evakuierung beschrieb:
Der Zug fuhr durch Deutschland, fuhr viele Tage und Nächte, er kroch langsam durch abgedunkelte Städte, stand wartend vor brennenden Fabriken, zog an Feldern vorbei, auf denen Gefangene arbeiteten, bewacht von Soldaten, überquerte im Schrittempo die Flüsse auf Behelfsbrücken, neben denen Flakbatterien lagen, tauchte in dunkle, nasse Wälder ein, blieb stundenlang auf freier Strecke in einer unbekannten Gegend stehen. Oft mußten sie dann aus dem Zug springen und sich auf den Bahndamm legen, Flugzeuge brausten über sie hinweg, dann krochen sie wieder auf allen vieren in den Zug, fuhren weiter, fuhren endlos weiter, ohne zu wissen, wohin.
Die Frauen in diesem Zug erzählten sich ihre Geschichten, Geschichten von gefallenen Söhnen, vermißten Ehemännern, verlorenen Eltern, Todesgeschichten aus allen Erdteilen, Geschichten vom Land, vom Himmel und vom Meer, von ausgebrannten Panzern, abgeschossenen Flugzeugen und verschollenen U-Booten, Geschichten von zerstörten Häusern und Wohnungen und den auf ewig verlorenen Dingen, an denen ihr Herz einmal hing, von denen die herumgezeigten Fotos nur noch ein blasses Abbild der Erinnerung waren.
Nach Kriegsende war »Reisen« eigentlich nicht mehr der richtige Begriff für die Art und Weise, wie Menschen weite Strecken überwanden. Mal konnten sie ein paar Kilometer fahren, dann wieder gingen sie zu Fuß. Manchmal brachte sie ein Traktor oder ein alliiertes Militärfahrzeug oder ein Ochsengespann ein paar Kilometer weiter. Oder sie belagerten tagelang einen Bahnhof in der Hoffnung auf einen Transport in überfüllten Viehwaggons. Viele Menschen, die als Kinder während endloser Zugfahrten stehen mussten, von den Erwachsenen eingeklemmt, denen sie vielleicht gerade eben bis zur Körpermitte reichten, überfällt heute noch ein heftiges Ekelgefühl, wenn sie sich nur an den Gestank erinnern.
Häufig taten sich Frauen, Kinder und Alte zu wandernden Großgruppen zusammen, zogen abwechselnd ihre Habe auf Leiterwagen hinter sich her, über viele Hundert Kilometer. Kaum jemand spricht heute mehr von den wunden Füßen in kaputten Schuhen und von dem Segen, den es bedeutete, wenn ein Großvater mitmarschierte, der Schuhe flicken konnte.
Margarete Dörr erinnert zudem an die vielen Frauen und Mädchen, die sich bei Kriegsende fern von daheim im Arbeitsdienst, im Osteinsatz, bei der Wehrmacht oder in einem anderen Kriegshilfsdienst befanden; auch sie wollten nach Hause. Zudem hätten Frauen häufig versucht, ihre verwundeten Männer oder Söhne in Lazaretten oder in Lagern zu besuchen.
Der größte Wunsch, so Dörr, habe darin bestanden, sich nach den Wirren der Kriegszeit in der Familie wiederzufinden, wieder zusammenzukommen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Aber dieser Weg führte durch Entbehrung, Hunger, extrem unhygienische Verhältnisse und damit durch Seuchengefahren.
Harte Verteilungskämpfe
In den Massenunterkünften bestanden die sanitären Anlagen häufig nur aus einem einzigen Waschbecken. Kein Wunder, dass die Menschen, ganz gleich, wie entkräftet sie waren, nur einen Gedanken hatten: Fort, schnell fort! Eine Transportmöglichkeit galt als Lottogewinn. Dementsprechend waren die Verteilungskämpfe, an denen sich kurz nach Kriegsende auch sehr viele freigelassene Kriegsgefangene beteiligten.
Aber nicht nur die Deutschen wollten so schnell wie möglich heim, weshalb sich das Land in einen Ameisenhaufen verwandelt hatte. Dörr schreibt auch von den »etwa zehn Millionen Displaced Persons, die ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die wieder repatriiert werden sollten«.
Es gab die Langreisenden und die Kurzreisenden; aber auch die Letzteren mussten mit abenteuerlichen Fahrten rechnen. Wenn zum Beispiel Kölner zu Hamsterfahrten nach Gießen oder ins Oldenburger-Land aufbrachen, weil es dort Butter gab, waren sie womöglich erst drei Tage später zurück. »Hamstern«, was für ein freundliches Wort für Chaos und Strapaze . . . Und das Hamstern hielt noch lange an. Im Mai 1947 war das Thema immer noch aktuell, weshalb sich die »Die Neue Zeitung« in München veranlasst sah, einen Beitrag des Schriftstellers Erich Kästner zu drucken:
In Brandenburg an der Havel hielt ein Personenzug, den nur Brueghel hätte malen können. Doch zu seiner Zeit gab es keine überfüllten Eisenbahnen, und heute gibt’s keinen Brueghel. Es ist nicht immer alles beisammen . . . Die Trittbretter, die Puffer und die an den Waggons entlangführenden Laufstege waren mit traurigen Gestalten besät, und oben auf den Wagendächern hockten, dicht aneinandergepreßt, nicht weniger Fahrgäste als unten in den Coupés. Von dem Zug, den wir sahen, war nichts zu sehen – er war mit Menschen paniert!
Sie saßen, hingen, standen, klammerten sich an, blinzelten apathisch in die Nachmittagssonne, dachten nicht an Kurven und Tunnels, sondern nur an ihre Rucksäcke mit den paar Pfunden gehamsterter Kartoffeln und an die Gesichter daheim. War’s nicht früher einmal verboten gewesen, sich während der Fahrt aus dem Fenster zu beugen? Und jetzt kauerten alte Frauen und magere Kinder zu Hunderten, ohne Halt und Lehne, auf den rußverschmierten Dächern wie auf einstöckigen, geländerlosen Omnibussen. Nun war es niemandem mehr untersagt, sich das Genick zu brechen.
Eine couragierte Zwölfjährige
Und dennoch: Wer damals mit jugendlicher Kraft und Unternehmungslust ausgestattet war, für den mögen die Hamsterfahrten auch ihre schönen Seiten gehabt haben. Ursula Henke* aus Essen war zwölf Jahre, als sie regelmäßig allein ins Sauerland fuhr, um ihre Mutter, ihren kleinen Bruder und sich selbst mit Lebensmitteln und Tauschware zu versorgen. Schon früh zeigte sich bei Ursula ein Geschäftssinn, der sie bis heute nicht verlassen hat.
Da ihre Familie dreimal ausgebombt war und nichts mehr besaß, was sie bei den Bauern hätte eintauschen können, kaufte sie in Essen auf Pump eine große Zahl Kartoffelmesserchen und machte damit im Sauerland gute Geschäfte. Während sie von Hof zu Hof zog, füllte sich ihre riesige Einkaufstausche mit Kartoffeln, Eiern und manchmal auch Speck. Schwer beladen kehrte sie zur Bahnstrecke zurück, und da sie sich mit dem Lokomotivführer angefreundet hatte, der sich gegenüber dem blonden couragierten Mädchen gern hilfsbereit zeigte, wurde ihre pralle Tasche während der Fahrt vorn in der Lokomotive verstaut, sodass ihr kostbares Erhamstertes nicht unterwegs geklaut wurde. Ursula verdiente gut mit ihrer Geschäftsidee, den Kartoffelmesserchen.
Bei ihr, die 1933 geboren wurde, entdeckte ich wieder jene Überlebenskraft, mit der offenbar viele Kinder in schweren Zeiten ausgestattet waren, wenn drei Voraussetzungen zutrafen: Erstens, sie waren körperlich gesund; zweitens, sie hatten, bevor die Katastrophe über sie hereinbrach, noch einige unbeschwerte Kinderjahre ansammeln können, und drittens, sie besaßen liebevolle Eltern.
»Schreckliches – aber auch viel Schönes«
Ursulas Bruder Klaus, vier Jahre jünger, scheint, wie nun bei der Behandlung in einer psychosomatischen Klinik deutlich wurde, weit mehr unter den Kriegsumständen gelitten zu haben, obwohl oder weil die Umstände seiner Kindheit ihn bis dahin nie beschäftigt hatten. Im Unterschied dazu waren bei seiner Schwester zeit ihres Lebens immer wieder Kriegserinnerungen aufgetaucht, »Schreckliches – aber auch viel Schönes«.
Für unser Interview treffe ich Ursula Henke in ihrer Wohnung im zweiten Stock, die einen Ausblick auf einen belebten Platz erlaubt. Sie ist ihrer Heimatstadt, sogar ihrem Viertel, treu geblieben. Ein Viertel wie ein Dorf. Unter Ursulas Wohnzimmerfenster ist gerade Markt. Ach ja, denkt sie, wenn dort Gesichter auftauchen, die sie schon seit ihrer Kindheit kennt, inzwischen sehr alte Gesichter . . . Manchmal erinnern sie Ursula an Geschehnisse aus den ersten Nachkriegsjahren: wie Mutters Freundin Annegret fremdgegangen war mit mehr als einem englischen Soldaten, während ihre drei verstörten Kinder jeden Abend beteten, der Papa möge endlich aus dem Krieg heimkommen; wie im Haus nebenan bei den Brüdern Heinz und Willi der schwarzgebrannte Schnaps dazu beitrug, dass Geselligkeiten zu Orgien entgleisten.
Völlig anders hatte sich Ursulas Mutter verhalten. Sie habe mit dem ganzen Drunter und Drüber nicht das Geringste zu tun haben wollen, sagt Ursula, die ihr deshalb heute noch dankbar ist. Der Mutter sei es nur darum gegangen, ihren Kindern beizustehen und Tag für Tag von Neuem auf die Heimkehr ihres Mannes zu hoffen.
In den Fünfzigerjahren, so Ursula, hätten sich die Leute, die sozial etwas ins Abseits geraten waren, dann plötzlich wieder der Moral entsonnen. Da seien alle auf einen Schlag ehrbar und fein geworden, so »als hätte es dieses andere Leben nie gegeben«. Und wie brav erst deren Kinder sein mussten! Wehe, da hätte Ende der Fünfziger eine Tochter ein uneheliches Kind erwartet. Was für eine Schande!
Ins Bett, weil das Zimmer so eisig war
Während des Krieges wurde Ursulas Familie mehrfach evakuiert, jedesmal an andere Orte. Wunderschön sei es in Thüringen gewesen, erzählt sie, wo sie nicht wie Evakuierte, sondern wie lieber Besuch behandelt worden seien. Da hätten sie beim Bürgermeister gewohnt. Das seien reiche Leute gewesen, die sonntags zweispännig mit der Kutsche zur Kirche fuhren. An diese Zeit habe sie nur schöne Erinnerungen: Es seien extra Plätzchen gebacken worden, es gab einen Hund und – eine Rarität in der Kriegszeit – sogar Männer im Haus. Und im Winter sei sie wie alle anderen Dorfkinder auf Skiern zur Schule gefahren.
Bei der zweiten Evakuierung traf Ursula auf sehr bescheidene Verhältnisse. Schlimm waren die Enge und das Klima des Zusammenlebens. »Aber man muss so eine Familie auch verstehen«, sagt die Siebzigjährige, deren Dialekt das Ruhrgebiet erkennen lässt, und zeigt unten auf den Marktplatz: »Stellen Sie sich mal vor, da würde plötzlich ein Bus halten mit fünfzig Leuten, und dann würde es an Ihrer Wohnung klingeln, und vor der Tür stünde eine Mutter mit zwei Kindern, und es hieße: Die müssen Sie jetzt aufnehmen.«
Die Gastgeber von damals, fährt sie fort, hätten doch überhaupt keine andere Wahl gehabt, als ihnen von ihrer kleinen Wohnung ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Und dann hätten sie zu bestimmten Zeiten auch noch die Küche und ihr Wohnzimmer abtreten müssen. »Wenn es oben in unserem Schlafzimmer eisig kalt war, haben wir tagsüber im Wohnzimmer gesessen. Das mussten wir dann um Punkt sieben Uhr räumen, und dann blieb nur noch« – sie schüttelt sich bei der Erinnerung –, »dass wir uns zu dritt oben ins Bett legten, weil wir sonst bitterlich gefroren hätten.«
Klaus wurde eingeschult, aber das Lernen machte ihm von Anfang an Probleme. »Meine Mutter war viel zu nervös, um ihm zu helfen«, erzählt Ursula. »Ich sehe uns drei noch in diesem fremden Wohnzimmer, wo wir so unerwünscht waren, und die Mutter und Klaus mühten sich ab mit den Hausarbeiten. Da habe ich oft gedacht: Wäre doch der Papa da, der hätte bestimmt mehr Geduld.«
In dieser Zeit war Ursulas Mutter oft schwermütig. Sie las Vaters Feldpostbriefe, in denen er dringend bat, sie möge mit den Kindern ausharren, dort sei sie in Sicherheit, alles andere sei zu gefährlich. Und während die Mutter die Briefe las, weinte sie, weil sie ihren Mann so sehr vermisste und weil das Heimweh, ihre Sehnsucht nach ihren Verwandten in Essen mit jedem Tag wuchs – bis sie eines Tages, kurz vor Weihnachten, wieder in ihre Heimatstadt zurückkehrte. Bei einem Fliegerangriff erlitt sie eine Fehlgeburt, von der sie sich nicht mehr erholte. »Sie musste dann drei Monate ins Krankenhaus«, sagt ihre Tochter. »Ja, unserer Mutter ging es im Krieg sehr schlecht. Sie hielt es einfach nicht aus, dass sie vom Vater getrennt war.«
Vom ihm kamen fast täglich Briefe, manchmal auch Päckchen mit Lebensmitteln. Dazu schrieb er, sie sollten anderen nichts davon abgeben. Ursula erinnert sich: »Ölsardinen kamen manchmal, irgendwelche Dinge, die er sich von seiner Ration abgespart hatte. Und da hab ich mir immer vorgestellt, dass er nicht satt wurde, aber uns das schickt. Das war so meine Kindervorstellung.« – Während eines Heimaturlaubs nahm der Vater sie mit zu einem Besuch beim Großvater. Was dort geschah, vergaß sie ihr ganzes Leben nicht mehr: »Der Papa hat dem Großvater etwas erzählt, etwas Schlimmes, was er als Soldat in Russland erlebt hatte. Und da haben beide Männer geweint.«
Zu Fuß von Thüringen ins Ruhrgebiet
Für unser Interview hat Ursula Henke Kaffee gemacht, und sie hat einen großen Umschlag mit der Aufschrift Post vom Vater bereitgelegt. »Das sind die wenigen Feldpostbriefe, die wir noch besitzen«, sagt sie. Bei Kriegsende kam keine Post mehr vom Vater. Ein Brief, den Ursula ihm geschrieben hatte, kam als unzustellbar zurück.
Die Familie befand sich im Mai 1945 in Thüringen, wohin sie ein weiteres Mal evakuiert worden war. »Wir sind dann zu Fuß nach Essen gelaufen«, erzählt Ursula nicht ohne Begeisterung in der Stimme. »Daran habe ich schöne Erinnerungen. Wir waren eine Gruppe von 13 Leuten, auch die Großeltern zogen mit.« Drei Wochen waren sie unterwegs. Am Abend wurde am großen Feuer gekocht. Sie übernachteten in Scheunen. »Für uns Kinder war das schön«, sagt Ursula. »Aber die Mama hat nachts geweint. Es war schlimm, dass ich ihr nicht helfen konnte . . .«
Nach dem Krieg waren sie bettelarm; dreimal ausgebombt, da bleibt nicht viel Besitz. Ursula bekam einen Mantel, der einmal eine Wolldecke gewesen war. Sie zog Unterhosen aus »Zuckersackwolle« an. Ihr Kommunionkleid hatten zuvor schon drei Cousinen getragen. Eine einzige frische Erdbeere aufs Brot geschnitten – was für eine Köstlichkeit! Die Mutter tauschte ihre Lockenwickler gegen Kartoffeln und wickelte ihre Haarsträhnen auf Zeitungspapier.
Mit zwölf Jahren war Ursulas Kindheit vorbei. Vormittags nahm sie am Unterricht in einer Aufbauschule teil; für den Rest des Tages dachte und handelte sie wie eine Erwachsene. Dann bekam sie Typhus und musste neun Monate im Krankenhaus bleiben. Die Zimmer waren Baracken, vor den Fenstern befand sich ein Graben. Wenn ihre Mutter sie besuchte, musste sie hinter dem Graben stehen. »Es war eine richtig schwere Epidemie mit Toten. Abends waren wir zu elft im Zimmer, am nächsten Tag waren es nur noch neun.« Doch am meisten quälte Ursula, dass sie ihrer Mutter nicht beistehen konnte.
Nachdem das Mädchen auskuriert war, stellte sich heraus, dass sie in der Aufbauschule nicht mehr mitkam. Sie musste zurück auf die Volksschule. Zu den gravierenden Kriegsfolgen, die ihr weiteres Leben bestimmten, gehört, dass sie nur sechs Jahre lang die Schule besuchte. Zunächst arbeitete sie als Haushaltshilfe, dann gelang es ihr, weil ihre Schulunterlagen nicht so genau angeschaut wurden, in einem Bekleidungsgeschäft eine Lehre zu machen. Dabei handelte es sich um einen Familienbetrieb mit Tradition – und mit einem Sohn, der sich in Ursula verliebte. Sie heirateten jung, bekamen zwei Kinder.
Vom Vater kam kein Lebenszeichen mehr. »Wir waren felsenfest überzeugt, er kommt wieder! Jeden Morgen haben wir das von Neuem geglaubt. Jeden Abend waren wir enttäuscht. Dann haben wir gebetet und weiter gehofft.« Und gewartet. Zwei Jahre, fünf Jahre. Bei der Mutter dauerte das Warten ein ganzes Leben. Sie weigerte sich, ihren Mann für tot erklären zu lassen, verzichtete lieber auf ihre Hinterbliebenenrente. Der verschollene Vater blieb der große Schmerz in der Familie. »Manchmal«, erinnert sich Ursula, »haben wir regelrecht gesponnen und gedacht: Vielleicht hat er sich in Russland eine neue Frau genommen und hat da auch Kinder . . .«
Ursula Henke und ihr Mann führten eine glückliche Ehe, in der Privates mit dem Geschäftlichen verbunden war. Die entbehrungsreichen Aufbaujahre machten sich bezahlt. Man arbeitete viel, aber man verdiente auch gut. Mit sechzig Jahren wurde Ursula Witwe. Der Tod ihres Mannes, um den sie lange trauerte, hatte zur Folge, dass auch der große Kummer über den Verlust des Vaters sie noch einmal einholte.
Im Jahr 1995 – die Mutter war schon tot – erhielten Ursula und ihr Bruder Klaus einen Brief der Kriegsgräberfürsorge. Darin stand, dass Ulrich Henke Anfang der Fünfzigerjahre in einem russischen Lager verstorben war.
Dennoch: Ursula ist dankbar. Bei allen Schwierigkeiten hat sie viel Glück gehabt. Wenn sie sich in ihrer Altersgruppe umschaut, dann weiß sie, wie leicht so ein Leben hätte missglücken können: Angesichts ihrer mangelhaften Schulbildung hätte sie arm bleiben können. Sie hätte den falschen Mann heiraten können, einen, der seine Frau mit dem Satz demütigte, dass sie »nur durch ihn etwas geworden« sei. Vielleicht hätte sie sich als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern durchschlagen müssen. Oder sie hätte aus falscher Rücksichtnahme gegenüber der Mutter ganz und gar auf eine eigene Familie verzichtet. Stattdessen war es Ursulas Mutter immer wichtig gewesen, dass ihre Tochter eine eigene Existenz aufbaute und dennoch das Vergnügen nicht zu kurz kam. Sie erinnert sich: »Wie oft hat die Mama die Kinder gehütet, damit mein Mann und ich tanzen gehen konnten.« Heute haben ihre Kinder selbst Kinder, und aus der Geschäftsfrau ist eine begeisterte Großmutter geworden.
Ein letzter Brief
Am Schluss unseres Interviews geht Ursula Henke noch einmal die Feldpostbriefe durch. Den Umschlag mit der Aufschrift Post vom Vater habe sie im Nachlass ihrer Mutter gefunden, sagt sie. »Ich weiß noch jetzt – ich bin eine alte Frau! – die Nummer: 17 5 81. Das ist die Feldpostnummer!« Dann zeigt sie mir ihren letzten Brief an den Vater, jenen Brief, der als unzustellbar zurückgekommen war. Lange hält sie ihn in der Hand, dann spricht sie aus, worüber sie nachdenkt: »Ich möchte nur mal wissen, warum mein kleiner Kinderbrief so zerfleddert ist. Die Post von meiner Mutter ist völlig in Ordnung. Aber sehen Sie das? Mein Brief ist total zerfleddert.« Dafür gibt es nur eine Erklärung: Ursulas Mutter muss den Kinderbrief wieder und wieder gelesen haben.