NEUNTES KAPITEL
»Aber recht, recht lieb wollen wir sein ...«
Wenn Kinder zu Freiwild werden
Vor zwölf Jahren starb Elisas Schwester. Es war Selbstmord. Die Fünfzigjährige hatte sich von einer Talbrücke in die Tiefe gestürzt – genau jene Brücke, auf der Elisa und Mechthild schon als kleine Mädchen gestanden und überlegt hatten: Machen wir doch einfach Schluss und springen . . .
Die Kindheit von Elisa, geboren 1944, wäre auch ohne Krieg eine Kette von Gewalt und Leid gewesen. Denn ihr größter Feind waren nicht die Bomben und der Hunger, sondern ihr eigener Vater. Dennoch habe ich mich entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen, weil sie deutlich macht, dass Kinder damals doppelt gefährdet waren. Man weiß zwar, dass Kinder in Zeiten von Chaos und Elend oft alleingelassen werden, aber man denkt nicht unbedingt weiter: dass dies günstige Umstände sind für Erwachsene, die einen Gewinn daraus ziehen, sich an Schwächeren zu vergreifen. Kinder können im Krieg zu Freiwild werden.
Auch lässt sich am Beispiel von Elisa Freiberg* gut darstellen, was Traumata anrichten können: dass die Folgen häufig erst viele Jahre später – wie aus heiterem Himmel – auftauchen und dass die Symptome meistens nichts über die Ursache verraten. Elisas Überlebensgeschichte zeigt, dass es möglich ist, sich dem Grauen der eigenen Kindheit zu stellen, ohne daran zu zerbrechen. Es ist wirklich kein Naturgesetz, dass im Alter alles schlimmer wird. Es kann auch besser werden. Man muss nicht alles aushalten. Es kann sich lohnen, nach Alternativen zu suchen, wenn der Körper oder die Seele schmerzen: So mancher Patient, der deshalb unter starke Medikamente gesetzt wurde, hätte vielleicht bessere Chancen, wenn sein Arzt auch einmal ein Kriegstrauma in Betracht zöge.
Aber kommen wir zum Ausgangspunkt unseres Kapitels zurück, zum Elend der Nachkriegsjahre. Wenn davon berichtet wird, ist gleichzeitig immer wieder von einem großartigen Zusammenhalt die Rede. Schaut man genauer hin, entpuppt sich die Solidarität als etwas, das sehr schnell an seine Grenzen stieß. Notgemeinschaften entstanden, weil Menschen in Gruppen mehr Chancen hatten durchzukommen und weil sie sich auch vor Überfällen und Diebstahl besser schützen konnten. Es wird leicht übersehen, dass die Fürsorge für die eigenen Kinder, wenn es um das nackte Überleben geht, oft nur ein Mythos ist. Wir wissen von den Straßenkindern in Brasilien, die fortgeschickt wurden oder aus eigenem Antrieb ihre Familie verließen, weil sie dort nicht genug zu essen bekamen oder misshandelt wurden. Wir hören von Eltern, die ihre Kleinkinder verkaufen oder ihre pubertierenden Töchter in Bordelle geben. Wir erinnern uns vielleicht an die Zeichnungen des Malers Heinrich Zille, die im Berliner Hinterhofmilieu entstanden. Seine Bildbände »Mein Milljöh« sowie die Zyklen »Hurengespräche« und »Berliner Luft« wurden während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Seine satirischhumoristischen Zeichnungen weisen ihn als einen genauen Chronisten der damaligen Elendsverhältnisse aus.
Zille weiß, dass der Wortwitz der Armen ein Teil ihrer Überlebensstrategie ist, aber er übersieht auch nicht die stumme Not der Kinder – zerlumpte kleine Wesen, hungernd und bereit zur Prostitution. All dies scheint in Zilles Hinterhöfen genau wie in den brasilianischen Slums kein Geheimnis unter den Bewohnern zu sein, weil die Armut von einer Generation in die nächste weitergetragen wurde.
Ein Volk von Zerlumpten und Bettlern
Die Kapitulation der Deutschen 1945 führte dagegen zur Verelendung eines Volkes, das einmal bessere Zeiten gekannt hatte. Am 30. Juli 1944 notierte der Sozialist Erich Nies in seinem später veröffentlichten »Politischen Tagebuch«: »Das deutsche Volk wird in seinen Trümmern jahrelang leben müssen, hungernd und arm, furchtbar arm, arm wie noch zu keiner Zeit seiner Geschichte. Es wird dem hypnotisch wirkenden Blick der ganzen Welt ausgesetzt sein und in seinen Ohren wird wie Donnergetöse die höhnende Weltenstimme gellen: Du hast’s verdient, es geht Dir grimmig schlecht (Faust). Und jeder Einzelne wird empfinden müssen, daß er ins Leere klagt.«
Genauso kam es. Aus einer Gesellschaft mit überwiegend kleinbürgerlichen Strukturen wurde quasi über Nacht ein Volk von Zerlumpten und Bettlern, unter ihnen nicht wenige, die sich an eine bizarre doppelte Moral klammerten. Werte wie Anständigkeit und Ehrlichkeit wurden zum Schein hochgehalten, obwohl kaum eine Großstadtfamilie durchgekommen wäre, hätte sie diese beherzigt. Es war das große Verdienst des Kölner Kardinals Frings, dass er von der Kanzel herab Verständnis für das Stehlen von Kohlen zeigte, weshalb in der Bevölkerung für diese Art von Diebstahl das Wort »fringsen« in Umlauf kam.
Was als Anekdote in die Kölner Stadtgeschichte einging, macht deutlich, wie schwer es dem Einzelnen gefallen sein mochte, moralisch die Orientierung zu behalten. Kurz: es handelte sich um Zeiten, in der Menschen besser klarkamen, wenn sie hie und da ein Auge zudrückten. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass gleich beide Augen geschlossen wurden, wenn Erwachsene eigentlich genau hätten hinsehen und eingreifen müssen. Unter solchen Bedingungen sind Aufmerksamkeit und Schutz für Kinder auf ein Minimum herabgesetzt. Das bedeutet: Gewalttätige Eltern haben die denkbar besten Chancen, ungehindert ihre Kinder zu quälen.
Ein Gott, der alles rechtfertigt
Wie alle Väter, die prügeln, sah auch Walter Reichel* sich nicht als Sadisten, sondern als verantwortungsbewussten Erziehungsberechtigten, der aus Elisa, Mechthild und den anderen Kindern anständige Menschen machen wollte. Zudem hatte er eine Autorität auf seiner Seite, die durch nichts und niemanden angegriffen werden konnte: Gott. Was auch immer Reichel oder seiner Familie an Schlimmem widerfahren sollte – der liebe Gott hatte es so gewollt.
Elisa besitzt einen Brief, den er von einer Reise an seine Frau und die Kinder schrieb, nachdem er einen schweren Luftangriff miterlebt hatte: »Viele kleine und große Menschen sind tot. In einem Kindergarten sind allein siebzig Kinder mit den lieben Tanten verschüttet gewesen. Sie sind alle tot. Papa ist recht traurig da vorbeigegangen.« Am Schluss des Briefes heißt es: »Vergeßt nie, daß einmal der Tag kommen kann, da auch uns eine Kugel trifft. Ich bin so froh, dass ich weiß, der liebe Gott nimmt uns dann zu sich in den Himmel. Darum brauchen wir gar keine Angst zu haben. Aber recht, recht lieb wollen wir sein zu allen Menschen, besonders aber zu unseren Angehörigen, zur Oma, Mutti und den Geschwistern.«
Über seine Einstellung zum Nationalsozialismus weiß Elisa wenig. Er sei gern Soldat gewesen, glaubt sie, zumal er den ganzen Krieg über in Deutschland blieb und nicht an die Front musste. Er habe wohl zu jenen Mitläufern gehört, die Hitler von seinen Verbrechen abgetrennt hätten, nach dem Motto: Das hat der Führer nicht gewusst . . .
Bei Kriegsende hatten alle Familienmitglieder überlebt – aber ärmer als Reichel konnte einer gar nicht sein. Er war Pastor in einer christlichen Freikirche, die ihr Gemeindeleben und damit auch die Pfarrer aus eigenen Spenden finanzierte. Jeder andere Vater einer siebenköpfigen Familie hätte irgendwelche Hilfsarbeiten angenommen oder sich an Schwarzmarktgeschäften beteiligt, damit die Seinen etwas zu essen hätten. Nicht so Pfarrer Reichel. Er war der Meinung: Gott wird schon für meine Familie sorgen. »Kinder sind ein Geschenk Gottes, so sah er das«, erinnert sich seine Tochter Elisa. »Man muss sich um sie nicht kümmern. Das macht der liebe Gott. Wenn der liebe Gott ihnen nichts zu essen gibt, dann verhungern sie eben, das will dann der liebe Gott so . . .«
Elisa Freiberg ist eine verblüffend jung aussehende Frau, die ihren vorzeitigen Ruhestand genießt, zum zweiten Mal verheiratet, diesmal glücklich. Einige Wochen vor unserem Gespräch ist sie mit ihrem Mann aus der Stadt ins Grüne gezogen. Gelegentlich kommen ihre Kinder und die Enkel zu Besuch. Alles in Ordnung also? Ja und nein, sagt Elisa und führt mich zu einer Gartenbank. Es sei schön, dass sie keinen Berufsstress mehr habe. Aber leider sei richtig, was in ihrem Rentenbescheid aufgeführt sei: ihr Rückenleiden, die Depressionen, die posttraumatische Belastungsstörung. Zum Glück komme selten alles auf einmal, und es gebe auch beschwerdefreie Phasen. Aber nie wird Elisa vergessen, wem sie das verdankt: ihrem Vater.
Bußrituale für Heimkehrer
Pastor Reichel glaubte zu wissen, was Gott ihm auftrug. Gerade in diesen schweren Zeiten fühlte er sich zum Prediger und Seelsorger berufen, weshalb er seine Frau und die fünf Kinder 1946 aus einer fast unzerstörten hessischen Kleinstadt in das ausgebombte Kassel schleppte. Sie kamen im Gemeindehaus unter, allerdings im Keller, weil es sich um eine Ruine handelte. Jeden Tag ging der Pfarrer unverdrossen bis zu vierzig Kilometer zu Fuß, um in der Umgebung die Gemeindemitglieder zu sammeln und um die Kirche wieder aufzubauen. Damit traf er durchaus auf ein großes Bedürfnis. Viele Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren hatten, suchten wieder Halt im Glauben. Für die einen war ein Pfarrer dann eine Vertrauensperson, wenn er die Ärmel hochkrempelte und Schutt wegräumte, nebenbei Kinder taufte oder beerdigte und dafür sorgte, dass ein Zusammenhalt in der Gemeinde entstand.
Doch die Männer, die Walter Reichel aufsuchten, wollten etwas anderes: Erlösung. Sie hatten ihren Besitz, ihre Gesundheit, die besten Jahre ihres Lebens und womöglich auch ihre Identität verloren: Heimkehrer, oft nur noch ein Schatten ihrer selbst. Durch Krieg und Gefangenschaft waren sie es gewohnt, geführt zu werden. Und nun suchten sie eine neue Autorität, die ihnen sagte, wie es weitergehen sollte – vor allem aber, wie das Grauen, das sie in sich trugen und das ihre Träume beherrschte, ein für alle Mal auszulöschen sei.
Elisa, Reichels Tochter, weiß es deshalb so genau, weil sie sich als Kind häufig in Vaters Arbeitszimmer aufhielt: »Ich hatte Frostbeulen, und sein Zimmer war als Einziges geheizt.« Täglich fanden dort Andachten im kleinen Kreis und Beichtrituale statt. Der Pastor machte den Heimkehrern klar, ihr früheres sündhaftes Leben trage die Schuld daran, dass der Krieg verloren worden sei. »Die ausgemergelten Männer haben dann geweint und gejammert, damit die Gnade wieder über sie kommt«, erinnert sich die Tochter. »Heute würde man von Exorzismus sprechen.«
Und weil die Heimkehrer so sehr des Trostes bedurften, den ihnen der Geistliche nicht gab, holten sie sich sein Töchterchen und setzten es sich auf den Schoß. Elisa schüttelt sich heute noch vor Ekel. »Denen tat es gut, so ein kleines liebes Mädchen zu betatschen«, sagt sie, »und das kleine liebe Mädchen wehrte sich nicht. Unser Vater hatte in uns hineingeprügelt, dass Erwachsene immer im Recht waren.«
Für sie besteht heute kein Zweifel, dass Walter Reichel seinen Glauben wie eine Droge einsetzte, die jede Realität von ihm fernhielt. Dass er selbst Gott missbrauchte, indem er sich wie dessen persönlicher Stellvertreter aufspielte: ein Guru in den Trümmern. Seine Familie aß derweil Kartoffelschalen. Stellte der Vater fest, dass die Kinder Lebensmittel gestohlen hatten, schlug er sie mit einem Lederriemen oder einem Rohrstock. In den Keller mussten sie für das Strafgericht gar nicht mehr gehen, dort wohnten sie bereits.
»Besonders demütigend war«, sagt Elisa, »dass wir die Schuld dafür übernehmen mussten. Wir mussten uns bücken und stillhalten. Der Vater hat uns immer gesagt: Lieber holt euch Gott in den Himmel, als dass ihr hier auf Erden irgendetwas macht, das sündhaft ist.« Elisa wird nie vergessen, wie ihre älteste Schwester, die »vernünftigste« von allen Geschwistern, zum Vater hinging und sagte: »Vater, hau mich, damit ich ein liebes Kind werde.« Manchmal brach Reichel nach einer Züchtigung voller Selbstmitleid in Tränen aus und rief: »Der liebe Gott verlangt von mir, dass ich euch bestrafe.« Für seine Söhne und Töchter bestand kein Zweifel, dass ein solcher Vater, wie Stammvater Abraham im Alten Testament, berechtigt war, seine Kinder zu töten . . .
Rückblickend sieht Elisa in ihm einen fanatischen, pietistischen Eiferer. Noch heute, sagt sie, würden die Untaten solcher Gottesmänner beschönigt, vertuscht und ihre Opfer »verteufelt«.
Sterben wollen und in den Himmel kommen
Als Vierjährige wollte Elisa sich gemeinsam mit einer Freundin umbringen: »Damit wir sterben und in den Himmel kommen.« Die größeren Kinder hatten ihr erklärt, dass Wolfsmilch, eine typische Trümmerpflanze, tödlich wirke. Gut so – die beiden Mädchen tranken den weißen Saft. Elisa bekam danach Durchfall und Fieber. »Mir war ein paar Tage elend von der Vergiftung«, erinnert sie sich. Aber ihre Freundin habe sie danach nie wiedergesehen. »Wer in den Ruinen lebt, sagt meistens nicht Bescheid, wenn er wegzieht. Aber ich habe damals gedacht, sie sei tot und ich hätte sie umgebracht. Natürlich habe ich nie mit jemandem darüber geredet.«
Da gab es noch die Mutter, aber sie war ständig unterwegs, irgendwo im Hessenland oder weiter weg, um für ihre Kinder etwas Essbares aufzutreiben. Ein halbes Dutzend Verwandte kümmerte sich derweil um Elisa und ihre Geschwister: »Aber auch von denen wurden wir verhauen.« Großeltern, Tanten und Onkel waren inzwischen in das zerstörte Haus gezogen, hatten notdürftig Mauern hochgezogen und das Dach geflickt. Dennoch blieb es undicht. Es regnete herein – es schneite sogar in die Zimmer.
Und immer wieder der Hunger! »Nachdem meine größere Schwester eingeschult war, saß ich, vier Jahre alt, monatelang mit ihr im Unterricht; ich saß völlig unbeschäftigt dabei, nur weil es danach Brei ins Henkeltöpfchen gab.«
Pfarrer Reichel spielte derweil den Gerechten. Als sein ältester Sohn Käse verteilte, den er in den Trümmern in einem Schwarzhändlerlager entdeckt hatte, rief der Vater die Polizei und zeigte die Männer an. Ein anderes Mal entriss er dem Sohn eine Stange Zigaretten – so ziemlich das Kostbarste, was man in diesen Zeiten besitzen konnte – und warf sie ins Plumpsklo. »Alles Sünde«, schrie er dabei, »alles Sünde!«
Auch mussten Reichels Kinder von dem wenigen, was sie besaßen, etwas abgeben an andere, die noch ärmer waren. Elisa erklärt: »Man musste auf alles verzichten, was darauf hindeutete, dass man gierig wird. Aber daraufhin wurden wir Kinder ja erst recht gierig! Und später, als Erwachsene, bin ich dann geizig geworden. Aber das habe ich inzwischen abgelegt.«
Im eiskalten Winter 1947 erhielt ihre Mutter aus den Care-Paketen einen Pelzmantel, aber auch den musste sie auf Befehl des Vaters weggeben. Sie widersprach nicht, war sie doch schon in ihrem eigenen Elternhaus auf absoluten Gehorsam programmiert worden. Sie verhütete auch nicht, weil ihr Mann dies für Sünde hielt, und so kam es, dass in den Nachkriegsjahren noch zwei weitere Kinder geboren wurden.
Elisa war die fünfte in der Geschwisterkette und die bravste. Denn: »Man sieht ja, was den älteren Geschwistern passiert.«
Ihre Eltern schienen immer froh gewesen zu sein, glaubt sie, wenn Erwachsene sich anboten, die Kinder vorübergehend zu sich nach Hause zu nehmen. »Es waren Leute, die meinten: ›Die Kinder sind ja so niedlich‹ – und wir waren einverstanden, weil wir dort eventuell etwas zu essen kriegten.«
Die Eltern ließen ihre Kinder ziehen, ohne an Kontrolle überhaupt nur zu denken. Der liebe Gott würde schon für sie sorgen . . . Derweil nutzte eine Frau aus der Gemeinde die günstigen Umstände, indem sie zwei Mädchen, drei und fünf Jahre alt, an die Hand nahm und sie immer wieder demselben Mann zuführte. Über ein Jahr, so rekonstruierte Elisa während einer Therapie, wiederholte sich der sexuelle Missbrauch. Erst seien es Doktorspiele gewesen, dann hätten sie den Mann befriedigen müssen. »Dafür stand dann Brot da.«
In der Welt, die Elisa und Mechthild von ihren Eltern übernommen hatten, kamen »böse Onkel« nicht vor. Es galt nur, dass man als Kind den Erwachsenen zu gehorchen hatte, ohne Wenn und Aber. So begannen Jahre versteckten Leidens.
»Man versuchte, es zu erzählen, aber es glaubte einem keiner«, sagt Elisa. »Und wenn man erst einmal als Missbrauchsopfer programmiert ist, dann passiert es immer wieder.« Wieder zieht Ekel über ihr Gesicht. »Da versteckte man sich in den Trümmern, weil man mal musste, und schon stand da ein Jugendlicher und zwang einen, ihn zu befriedigen.« Sie starrt vor sich auf ein Rosenbeet, dann spricht sie leise weiter: »Es gab eben immer Gewalt. Ob nun vom Vater geschlagen oder von anderen Männern mit Gewalt gezwungen, das war für mich eins. Ich musste etwas über mich ergehen lassen. Man fühlte sich so elend, man fühlte sich so schmutzig. Und ich hatte immer im Bewusstsein, dass alles, was mir geschah, von Gott so gewollt war.«
»Ich habe keine Eltern mehr«
Die Folge war, dass Elisa als Kind verstummte. Sie hörte auf zu reden. Nur noch gelegentlich wechselte sie ein paar Worte mit Gleichaltrigen. »Das war bei mir natürlich schon eine psychische Erkrankung«, weiß sie heute. »Mit neun Jahren habe ich dann entschieden: Erstens, ich lasse mich nie mehr anfassen, und zweitens, ich habe keine Eltern mehr. Es hilft mir ja sowieso keiner.«
Kurz darauf erklärte ihr Vater völlig unvermittelt, er werde seine Kinder ab sofort nicht mehr schlagen. Sie müssten jetzt selbst die Verantwortung für ihr Tun übernehmen. Was war geschehen? Hatten ihn andere Erwachsene endlich zur Vernunft gebracht? Elisa schüttelt den Kopf. »Nein. Es war ihm klar, dass wir, als wir größer wurden, auch mehr hätten erzählen können. Und davor hatte er Angst. Da ist er vorsichtig geworden.«
Sie hält ihren Vater für jemanden, der sein Verhalten noch steuern konnte: »Schon früher hatte er sich zusammengenommen, sobald er damit rechnen musste, dass seine Misshandlungen auffielen.« Wie mühelos, weiß seine Tochter heute, hätte er von Menschen seiner Umgebung ausgebremst werden können, wenn die ihm nur ein einziges Mal mit der Polizei gedroht hätten!
In friedlichen oder auch nur halbwegs geordneten Zeiten hätte ein Vater wie Walter Reichel seinen Sadismus kaum über so viele Jahre und womöglich auch nicht so exzessiv ausleben können. Vielleicht wäre er irgendwann vor Gericht gestellt und danach in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. In Zeiten des Terrors allerdings, wenn es den Herrschenden darum geht, ein Klima von Bedrohung und Willkür zu erzeugen, sind perverse Gewalttäter geradezu gefragt: wie jener Typus, der zunächst in der SA eine Heimat fand, in deren Uniform er ungestraft jüdische Mitbürger zusammenschlagen konnte – und später dann im Konzentrationslager, das ihm völlig freie Hand ließ, wenn er Lust darauf hatte, Häftlinge zu schinden, zu quälen oder zu töten.
Die Folgen der Grausamkeiten spürt Elisa bis heute, trotz jahrelanger Psychotherapie. Aber von außen merkt man ihr nichts an. Stets war es ihr wichtig gewesen, nicht aufzufallen. Ganz anders ihre Schwester Mechthild. Als Jugendliche begann sie zu stehlen, wohl auch aus Rache, glaubt Elisa. Dem Vater sei es jedesmal furchtbar peinlich gewesen, wenn die Polizei erschien. »Das zeigte ja: bei Pastors ist auch nicht alles in Ordnung.« Aber später verselbstständigte sich bei Mechthild das Stehlen und wurde zu einer psychischen Störung. Noch als Erwachsene hatte sie lange Zeit Probleme damit. Außerdem trank sie zu viel und konnte schließlich aus dem Teufelskreis der Sucht nicht mehr aussteigen. Alkoholkrank war sie und tablettenabhängig – und sie wurde, wie ihre Schwester es heute sieht, immer abhängiger von ihren Eltern, deren Lebenslügen sie sich unterwarf. Mehrfach versuchte Mechthild, sich umzubringen. Nach jedem Suizidversuch saß der Vater mit Vorwürfen an ihrem Bett: »Warum tust du uns das an?«
Während es für Mechthild kein Entkommen gab aus dem alten Familienmilieu, weil sie ihr Versagen als eigene Schuld sah, wurde Elisa immer unabhängiger von ihren Eltern. Was sie stützte, war ihre Entscheidung mit neun Jahren: Ich habe keine Eltern! Ich brauche niemanden! – Das rettete sie, führte sie jedoch zwangsläufig in eine große Einsamkeit. Sie besaß keine richtige Familie mehr, aber sie konnte auch keine neuen Bindungen eingehen, weil ihr die Fähigkeit zu vertrauen fehlte. Dennoch, es war eine Trennung in kleinen Schritten. Äußerlich änderte sich wenig. Noch besuchte sie die Eltern, noch sah sie ihre Geschwister. Noch blieb sie der Kirchengemeinde treu und fand dort den Mann, den sie jung heiratete. Im Interview schildert sie ihn als freundlich, intellektuell und unemotional. Sie selbst habe die Ehe gar nicht gewollt, aber die Eltern und Mitglieder der Gemeinde hätten sie unter Druck gesetzt.
Mit 22 Jahren bekam sie ihr erstes Kind. Alles hätte endlich gut werden können. Stattdessen erlebte Elisa ihren ersten Zusammenbruch. Sie konnte das Neugeborene nicht schreien hören . . .
»Und meine Tochter hat dauernd geschrien! Sie hörte überhaupt nicht mehr auf«, sagt sie. »Und da hab ich gedacht, hoffentlich wird sie krank und stirbt.«
Aus Angst, sie könnte dem Kind Gewalt antun, flüchtete sie aus der Wohnung – das schreiende Bündel allein zurücklassend –, rannte um den Häuserblock herum, bis sie sich beruhigt hatte. »Das ging so über Wochen«, erinnert sie sich. Keiner hat ihr geholfen. »Ich habe tagelang geheult und nicht gewusst, was los ist und was ich machen soll.« Heute weiß sie, dass sie in der Hilflosigkeit des Säuglings ihren eigenen Gefühlen als Kind wiederbegegnet und davon überwältigt worden war. Das Unlösbare ihrer Aufgabe hatte darin bestanden, dass sie das Neugeborene schützen sollte – während sie sich selbst völlig ausgeliefert fühlte.
Ausbruch und Neubeginn
Es waren die Sechzigerjahre. Elisa hatte noch nie von Psychotherapie gehört. Sie schämte sich ihrer »Zustände« und bekämpfte sie mit Disziplin, was lange Zeit auch funktionierte. Es kam ihr nicht in den Sinn, die Ursache dafür in falscher Erziehung zu sehen. Erst mit 34 Jahren, als ihre Lebensenergie so gut wie erschöpft war, wurde ihr bewusst, was für einen grausamen Vater sie gehabt hatte.
Rein äußerlich verlief der Alltag der jungen Frau ohne Zwischenfälle. Sie arbeitete als Kinderkrankenschwester und bekam mit 25 Jahren wieder eine Tochter. Ende der Siebzigerjahre dann kam ihr der Gedanke, es könne so nicht weitergehen mit ihren »Zusammenbrüchen«. Sie nahm sich eine Deutschlandkarte vor und suchte die Stadt, die am weitesten von Kassel entfernt lag. So entstand der Plan für einen Umzug nach München. Es war der große Wendepunkt in ihrem Leben. Sie trat aus der Kirche aus, packte zwei Koffer und ließ ihre Töchter, damals acht und elf Jahre alt, bei ihrem Mann zurück. »Die hatten es da viel besser«, sagt sie. »Ich hätte ihnen nichts bieten können – und außerdem«, sie hält kurz inne, bis sie zugibt: »Ich hätte es nie gepackt mit den Kindern.«
In München arbeitete sie wieder in einer Klinik, wie üblich hart und ausdauernd. Auf der Station war sie vor allem deshalb beliebt, weil sie nie wegen Krankheit fehlte. Sie gönnte sich kein Auskurieren, keine Erholung. Jedes Unwohlsein, jede körperliche Schwäche wurde schon im Ansatz bekämpft. »In der Klinik fand ich immer jemanden, der großzügig Spritzen setzte«, berichtet sie. »Das war vor zwanzig, dreißig Jahren kein Problem. Hauptsache, die arbeitet weiter . . .« Es war ihr nicht bewusst, was sie tat – dass sie, indem sie Erkrankungen ignorierte, den Kontakt mit einem Gesetz aus ihrer Kindheit vermied: Wer krank ist, der hat es selbst verdient. Das ist eine Strafe Gottes dafür, dass er Schlimmes getan hat.
Nun, da sie sich aus der Enge ihrer Familie und des Gemeindelebens befreit hatte, war sie plötzlich nicht mehr allein. Sie fand einen anregenden Freundeskreis. Er bestand überwiegend aus Menschen, die noch studierten oder an der Universität arbeiteten. Auf diese Weise erschloss sie sich eine völlig neue Welt. Mit der Zeit entdeckte sie verblüffende Fähigkeiten: Sie war klug, sie lernte schnell, sie sog die neuen Erkenntnisse förmlich auf. Der intellektuelle Diskurs lag ihr, das Überdenken und Ordnen schwieriger Zusammenhänge. Psychologie interessierte sie am meisten. Sie erhielt Zugang zu einem Seminar an der Münchner Universität. Ihre Beiträge wurden beachtet, sogar gelobt, und damit verringerten sich ihre Hemmungen, hier, in einem akademischen Rahmen, der ihr eigentlich gar nicht zustand.
Elisa traute sich etwas zu. Es tat ihr gut, dass sie bei Männern begehrt war. Ihr Leben befand sich auf einem guten Weg.
Doch ihre Vergangenheit holte sie auch diesmal ein. Es kam zu einem weiteren Zusammenbruch, einem »psychischen Ausnahmezustand«, wie sie es rückblickend nennt. Der Auslöser war, dass ihre älteste Tochter mit 13 Jahren in Mutters Wohnung einzog. »Ich dachte, dass ich ihr diesen dringenden Wunsch nicht abschlagen dürfe«, erklärt Elisa ihre damalige Zustimmung, obwohl sie ahnte, dass das Zusammenleben mit der Pubertierenden sie überfordern würde.
In kürzester Zeit war sie wieder das alte Bündel Elend: Heulen. Sich verkriechen. Nicht wissen, was los ist. Sich keine Hilfe holen. Ihre Angst, in der Psychiatrie zu landen. Ihre Angst vor einer Diagnose. Was würde einem da alles angehängt werden . . .
Vorbei waren die Zeiten, als das Arbeiten ihr Halt gegeben hatte. Nun suchte sie darin nur noch Betäubung. Ein sonderbarer Rhythmus bestimmte ihren Alltag: Sie arbeitete wochenlang, monatelang bis zur restlosen Erschöpfung – bis nichts anderes mehr half, als sich restlos aus dem Verkehr zu ziehen, was bedeutete, sich zwei Tage in ihrem Zimmer einzuschließen.
Stress macht sie vergesslich
Andere Symptome kamen dazu. Vergesslichkeit war eines davon. Auf Reisen fiel ihr plötzlich der Name ihres Hotels nicht mehr ein. Beim Autofahren überlegte sie plötzlich, warum sie dort war, wo sie sich gerade befand, warum sie überhaupt dorthin gefahren war. »Aber ich konnte meine Aussetzer und das plötzliche Losheulen gut kaschieren«, sagt sie. »Darum weiß ich, wie sich Analphabeten fühlen, wenn sie anderen etwas vormachen.«
Ihr Blutdruck stieg auf einen Wert von 240. Die Rückenbeschwerden wurden unerträglich. Endlich nahm sie wahr, dass sie sich in einer Wiederholungsfalle befand. Freiwillig begab sie sich in eine Psychotherapie, die sie aus eigener Tasche finanzierte, weil sie nicht wollte, dass irgendjemand ihr eine Krankheitsdiagnose verpasste. In der Therapie setzte sie sich erstmals mit ihrer Familie auseinander. In kleinen, vorsichtigen Schritten erforschte sie, was mit ihr geschehen war.
Einmal fragte sie ihre Eltern: »Warum habt ihr mir das angetan?« Antwort: »Ach, es war eben eine schlimme Zeit.« Außerdem sagte sie zu ihrem Vater: »Ich werde nicht zu deiner Beerdigung kommen. Was soll ich trauern . . .« Er ignorierte es.
Und so schildert Elisa ein typisches Telefonat mit ihrer alten Mutter, die manchmal anruft und sich beschwert, dass sie nicht besucht wird.
»Mutter: Warum kommst du nicht? Ich bin doch auch für dich da!
Elisa: Ich spüre das aber nicht. Das muss dir doch auch so gehen. Du hast doch selbst gesagt: Als du mich bekommen hast, da ging alles drunter und drüber . . .
Mutter: Jaja, aber ihr seid doch alle Gottes Kinder. Warum besuchst du mich nicht?
Elisa: Weil wir uns nichts zu sagen haben. Es ist schade, du bist eine nette ältere Dame, aber wir haben uns nichts zu sagen.«
Elisas Abgrenzungen klingen hart. Aber sie sagt, sie muss es tun, um nicht wieder in das alte Familienklima hineinzugeraten. Nicht von einer älteren Dame fühlt sie sich bedroht, sondern von deren Haltung: so zu tun, als sei alles in Ordnung – anstatt zu dem zu stehen, was Elisas Leben vergiftete. Mit ihrem Verschweigen wiederholt die Pfarrerswitwe ihr Verhalten von früher, als sie es versäumte, ihre Kinder zu schützen. Elisa kann sich dem nicht mehr aussetzen, weil es sie in die zerstörerischen Gefühle ihres frühen Traumas zurückschleudern würde. – Ihre Mutter tröstet sich damit, dass sie noch genug andere Kinder habe.
Aber so einfach, wie es jetzt vielleicht klingen mag, war es für die Tochter nicht, den für sie passenden Abstand zu finden. Natürlich sah sie auch die Hilflosigkeit ihrer Mutter, sah, was sie geprägt hatte, sah auch sie als ein Opfer der Schreckensherrschaft von Vater Reichel. Dazu kam: Elisa war Krankenschwester. Sie nahm die Verpflichtung, Schwächeren zu helfen, sehr ernst. Was sie viele Jahre bedrückte, war die Frage: Was mache ich, wenn die Eltern alt und schwach werden? Muss ich nicht für sie da sein, wenn ihnen etwas passiert?
Ihre Schwester Mechthild war diese verpflichtenden Gefühle gegenüber den Eltern nie losgeworden, obwohl sie es war, die Hilfe gebraucht hätte. Das Schicksal ihrer Schwester vor Augen, gewann Elisa schließlich die Einstellung: Wer immer gut zu den Eltern sein will, soll das tun – aber ich muss nicht diejenige sein.
In der Psychotherapie lernte sie zu begreifen, dass ihre plötzlichen Erinnerungslücken durch emotionalen Stress verursacht wurden, immer dann, wenn irgendwelche Auslöser – ein Geruch, ein Satz, eine Farbe – an das alte Trauma rührten, aber ohne dass dies erkennbar mit Erlebnissen ihrer Kindheit verknüpft war. Da sie merkte, dass sie der beruflichen Belastung nicht mehr gewachsen, beschloss sie, nur noch halbtags zu arbeiten.
»Sucht euch Ersatzeltern!«
Sechs Jahre lang wurde Elisa psychotherapeutisch begleitet. Es war eine Zeit der Aufarbeitung, des Nachreifens und der nachgeholten Bildung. Ihr Selbstwert stieg. Sie machte das Abitur nach und wurde Psychologiestudentin. Einiges von dem, was sie hörte, setzte sie um. Das war manchmal wie eine Ernte. Ein Professor hatte gesagt, es sei gut, sich Wahlverwandte zu suchen. »Er stand im Seminar und riet uns: Guckt euch an, was andere anders machen«, erinnert sich Elisa. »Wenn nötig, sucht euch Ersatzeltern. Da lernt ihr vielleicht die besseren Regeln, wonach ein Zusammenleben funktionieren kann.«
Es war ein Gedanke, den auch Elisas Tochter aufgriff. Mit 17 Jahren verließ sie die Wohnung ihrer Mutter und zog bei einer befreundeten Lehrerin ein. Viele Jahre gab es auf Wunsch der Tochter überhaupt keinen Kontakt mehr. Seit einiger Zeit kommen Mutter und Tochter, die inzwischen ein Baby hat, wieder zusammen. Sie treffen sich ein- bis zweimal im Jahr. Eine vorsichtige Begegnung. »Es ist, als wäre da zwischen uns nie etwas gewachsen«, gibt die Mutter offen zu. »Gefühlsmäßig ist das schwer zu fassen.« Mit ihrer Jüngsten könne sie sich viel leichter verständigen, vermutlich weil sie während der Pubertät beim Vater geblieben sei.
Ein weiterer Wendepunkt war für Elisa der Selbstmord ihrer Schwester Mechthild: Ihr Körper reagierte so heftig, wie sie es vorher noch nie erlebt hatte. Beide Schultern wurden steif, es kam zu einem Bandscheibenvorfall. Danach war sie eineinhalb Jahre krankgeschrieben. Ihr Körper schien das Gesundwerden zu verweigern.
Eine Besserung trat erst ein, nachdem Elisa ihre Form der seelischen Behinderung akzeptiert hatte und alles in die Wege leitete, um vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können. »Es gibt Zeiten«, erklärt sie, »wo meine Schwierigkeiten und mein altes Elend mich wieder einholen, und dann brauche ich eine Auszeit. Wenn ich das berücksichtige, dann haut es mir nicht immer gleich die Beine weg.« Es ist für sie hilfreich, sich vorzustellen: »Wenn ich zum Beispiel kriegsversehrt wäre und mir würde ein Bein fehlen, dann könnte ich auch nicht so schnell rennen wie die anderen.« Das habe sie sich gemerkt im Laufe der Jahre: Je weniger sie in ihren Tag hineinpacke, desto besser könne sie ihre Grenzen spüren.
Eine Amtsärztin hatte, als es darum ging, die Berufsunfähigkeitsrente zu begründen, in einem Gutachten geschrieben: »Die erlittenen Traumatisierungen von Frau Freiberg sind mit den Erlebnissen von KZ-Häftlingen durchaus vergleichbar und bilden eine ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung einer posttraumatischen Persönlichkeitsveränderung.«
Jemand wie Elisa, deren Grenzen als Kind permanent verletzt wurden und die sich später ständig überforderte, musste vor allem lernen, die Warnsignale zu erkennen; merken, wann ihr etwas zu viel wird; nicht darauf schielen, was andere Menschen aushalten; sich abgrenzen, bevor sie zusammenbricht.
»Ich bin unglaublich anfällig für Störungen«, gibt sie zu. Ihre Töchter wüssten Bescheid, sie machten ihr deshalb keine Vorwürfe mehr. »Wenn jetzt die Kinder kommen, dann kann es passieren – wenn ich mich nicht ganz bewusst darauf einstelle –, dass ich plötzlich gefühlsmäßig auseinanderfalle . . .« Dann ist sie tagelang nur noch heulendes Elend, außer Gefecht gesetzt. Dann muss sie sich völlig zurückziehen.
»Und das Schlimme ist, ich kann mich nicht erinnern, an welchem Punkt das eingesetzt hat, dieser Stress. Ich habe keine Anhaltspunkte dafür, was mir dann quergekommen ist.« Und darum bleibe jemand wie sie auch einsam, weil man bestimmte Sachen nicht machen könne, weil ihr dafür die Spontaneität fehle. Es sei ihr eben nicht möglich, auf jedes Zusammentreffen positiv zu reagieren. Sie müsse es vorher planen, nach einem geeigneten »Setting« suchen.
Und dennoch fühlt sie sich keineswegs vom Leben ausgeschlossen. Ängstlich sei sie nicht. Auch die schlimmsten Erfahrungen haben – wenn sie erst einmal überwunden sind – etwas Gutes, das weiß sie. »Durch den frühen Elternverzicht habe ich notwendigerweise gelernt, mutig, flexibel und autark zu leben.« Vor allem auf ihren Reisen profitiert sie davon.
Nach unserem Gespräch war sie 400 Kilometer mit dem Fahrrad unterwegs, um Freunde zu besuchen und um das schöne Sommerwetter zu nutzen. »Mein Mann hatte keine Zeit, mich zu begleiten«, sagte sie mir am Telefon. »Da bin ich eben allein losgefahren.« Elisa besteigt ihr Fahrrad so selbstverständlich, wie andere ihr Auto starten.
Im Laufe der Jahre haben sie und ihr Mann ein Faible für Abenteuerurlaube entwickelt. Stets nehmen sie ihre Fahrräder mit. »Wir haben wunderbare Radreisen gemacht«, erzählt sie, »in Afrika, Südamerika, Indien, Thailand.« Zuletzt, auf Kuba, mussten sie 600 Kilometer auf der Autobahn fahren. Das war so nicht geplant; sie hatten gehofft, ein Fahrzeug würde sie mitnehmen, wenigstens einen Teil der Strecke, aber das geschah nicht. Denn auf Kuba mit seinem schlechten öffentlichen Transportsystem ist die Bevölkerung auf Mitfahrten in Lastwagen dringend angewiesen. Diese begehrten Plätze gegen Dollar den Touristen zu überlassen ist offiziell verboten.
In einem tropischen Land tagelang in den Abgasen von LKWs zu radeln verbucht die Sechzigjährige unter Frust. Wie sollte es auch anders sein? Gemessen an dem, was sie in ihrem Leben schon alles bewältigt hat, sind miserable Reisebedingungen etwas Lästiges, mehr nicht. Da strampelt man eben weiter, bis die Zeiten wieder besser werden.