EINFÜHRUNG ZUR ERWEITERTEN UND AKTUALISIERTEN AUSGABE
Die Erinnerungsarbeit einer vergessenen Generation
Erst vor wenigen Jahren ging in Deutschland eine Zeit zu Ende, in der den Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge der Gedanke noch völlig fremd war, sie hätten als Generation ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel äußerst selten, und noch seltener sprach ihn jemand unbefangen aus.
Als dieses Buch 2004 erschien, waren die Spätfolgen des Krieges in der deutschen Bevölkerung noch nicht erforscht. Der Begriff »Trauma« wurde im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Opfern des Nationalsozialismus genannt. Ein öffentliches Interesse am Thema »deutsche Kriegskinder« existierte nicht. Es erwachte erst im April 2005, ausgelöst durch den ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt am Main. Hatten sich die öffentlichen Medien bis dahin überwiegend auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus konzentriert, wurden nun dem Themenkomplex »deutsche Vergangenheit« die Schrecken von Bombenkrieg und Vertreibung aus Kindersicht hinzugefügt.
An Zeitzeugen herrschte kein Mangel. Jahrzehntelang hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt oder auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was dabei sichtbar wurde: Natürlich hat die Begegnung mit Kriegsgewalt und Heimatverlust im späteren Leben Folgen, auch wenn die Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert werden.
Erst jetzt, im Alter, werden sich viele dessen bewusst und fangen an, sich Fragen zu stellen. Häufig setzen sie sich damit auseinander, indem sie ihre Kindheitserinnerungen aufschreiben. Unzählige ältere Menschen sind derzeit damit beschäftigt. Viele ihrer Generation haben das Gefühl, sie müssen es tun, denn im Alter fällt das Verdrängen immer schwerer. Es ist daher nicht übertrieben, von einem Erinnerungsboom zu reden.
Als »Die vergessene Generation« vor sieben Jahren erschien, gab es, wie gesagt noch kein öffentliches Bewusstsein für die Thematik »Kriegskinder« und keine nennenswerte Forschung. Das ist jetzt anders. Studien kommen zum Ergebniss: 8 bis 10 Prozent der Menschen, die als Kinder Krieg und Vertreibung erlebten, sind heute – im Alter – psychisch krank. Sie leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Gegensatz dazu Vergleichszahlen der Schweiz: Hier sind in den Jahrgängen der Rentner und Ruheständler nur 0,7 Prozent betroffen.
Nun sind die Kriegskindheitserfahrungen sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren und sind die Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. So gibt es noch weitere 25 Prozent ältere Deutsche, bei denen sich die Spätfolgen zwar weniger gravierend, aber immer noch deutlich zeigen. Sie sind, wie es der Arzt und Traumaforscher Michael Ermann von der Universität München formulierte, »in ihrer psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt«. Man kann es auch anders ausdrücken: Viele ältere Menschen sind tief verunsichert, und daher lassen sie sich nicht gern durch neue Erfahrungen, auch nicht durch neue Gedanken irritieren. Der Kontakt zur Welt der Jüngeren ist daher eingeschränkt und ihre Beziehungen sind wenig emotional. Veränderte Lebensumstände setzen sie enorm unter Stress. Weitere Auffälligkeiten sind Schwarz-Weiß-Denken und ein extrem hohes Bedürfnis nach materieller Sicherheit.
Die Forschung hat herausgefunden, dass bei Menschen, die sich nicht von ihren Traumata erholt haben, der Cortisolspiegel zu niedrig ist. Daher ihre Anfälligkeit für Stress. Luftangriffe, Tiefflieger, der Verlust von Angehörigen, Vertreibung und Hunger – dies alles hat körperliche und seelische Auswirkungen.
Man kann also sagen: Ein Drittel jener Menschen, die ihre Kindheit oder Jugend im Krieg verbrachten – in etwa die Jahrgänge von 1930 bis 1945 –, ist noch heute von den Spätfolgen belastet. Je kleiner die Kinder waren, als die Katastrophe über sie hereinbrach, umso gravierender die Spätfolgen. In der Altersgruppe derer, die in den Vierzigerjahren geboren wurden und sich daher kaum oder gar nicht an das Kriegsgeschehen erinnern können, werden heute die größten Beeinträchtigungen sichtbar. Viele Menschen klagen über psychosomatische Beschwerden, vor allem über immer wiederkehrende Depressionen, unerklärliche Schmerzen oder Panikattacken. Da ihre Ängste nicht von Bildern der Kriegsschrecken begleitet werden und es auch in ihren Träumen keinerlei Hinweise dazu gibt, kamen sie bis vor Kurzem nicht auf die Idee, sie könnten durch Kriegserlebnisse belastet sein, und ihre Symptome blieben für die Ärzte rätselhaft. Heute hat sich in der Medizin herumgesprochen, dass ein nicht unerheblicher Teil der älteren Patienten unter Kriegstraumata leidet. Noch sind die Hilfsangebote für diese Kranken nicht ausreichend, aber es wächst die Aufmerksamkeit für die Hintergründe ihrer Beschwerden, vor allem auch in der Altenpflege.
Seit Mitte der Neunzigerjahre beschäftigt mich die Problematik der Kriegskinder. Dass ich als Journalistin über so viele Jahre von einem Thema gefesselt war, hatte ich vorher noch nicht erlebt. Ausschlaggebend für das, was später mein Lebensthema werden sollte, war ein Krieg, der Deutschland geografisch sehr nahe rückte. Anfangs sprach man noch gar nicht von einem Krieg, sondern von einem Konflikt – dem Bosnienkonflikt. Weil im Fernsehen dem Leid der Kinder viel Sendezeit gewidmet wurde, wuchsen in mir Fragen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Wie haben sie ihre frühen Erfahrungen mit Gewalt, Bomben, Flucht, Hunger und Tod in der Familie verkraftet? In welchem Ausmaß blieb das spätere Leben davon geprägt?
Das Verblüffende war, dass sich außer mir kaum jemand dafür zu interessieren schien. Weder die Kriegskinder selbst noch Ärzte, Psychotherapeuten, Seelsorger, Redakteure. In Deutschland, so kam es mir vor, hatte man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die Kinder des Krieges gut davongekommen waren.
Im Archiv des WDR fand ich dazu keine Fakten, keine Zahlen, keine nennenswerten Untersuchungen. Also fragte ich die Betroffenen selbst. Tatsächlich nutzte ich dazu jede Gelegenheit, auch zufällige Begegnungen, in der Bahn zum Beispiel. Gelegentlich kam es zu heftigen Reaktionen wie: »Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!« Ich verstand, dass ich meinem Gegenüber manchmal zu nahe getreten war.
Die meisten Angesprochenen wollten nur über die NS-Vergangenheit und den Holocaust reden – darüber, wie sehr sie das heute noch belaste und wie sie als Pfarrer, als Lehrerin, als Eltern die Erinnerung daran wachgehalten und an die Jüngeren weitergegeben hätten. Wenn ich sie dann erneut auf mein Thema ansprach, wurden einige ärgerlich und unterstellten mir, ich wollte »die Deutschen« als Opfer stilisieren.
Fazit meiner Gespräche im ersten Jahr: An Kriegserinnerungen war noch heranzukommen, aber die Frage nach den Kriegsfolgen wurde so gut wie nie beantwortet. Am häufigsten hörte ich Sätze wie: »Andere haben es schlimmer gehabt« oder »Es hat uns nicht geschadet« oder »Das war für uns normal.« Finale Sätze. Ende des Gesprächs. Es ging mir nicht besonders gut in diesem Jahr. Mich haben die Begegnungen häufig verwirrt, ich geriet in einen inneren Zwiespalt. Einerseits sagte ich mir, dass die Deutschen ja wohl kaum so viel für Kinder in Kriegsgebieten spenden würden, wenn sie nicht um deren Traumatisierungen wüssten. Andererseits: Sie waren sich so einig, diese Kriegskinder, und ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas vorgemacht wurde.
Nur gelegentlich kam es zu längeren Gesprächen, und rückblickend kann ich meine Erfahrungen der ersten Jahre mit dem Satz zusammenfassen: Je mehr Menschen ich fragte, desto unklarer wurde das Bild. Nach meinen Interviews war ich oft ratlos, ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und war körperlich sehr erschöpft. Wenn ich mit Freunden darüber sprach, hörte ich: »Was beschäftigst du dich auch mit so einem dunklen Thema?«
Aber daran allein konnte es nicht liegen. Ich habe Erfahrung mit unbequemen Fragestellungen – Nazizeit, Holocaust, psychische Erkrankungen, Kindstod –, aber eine vergleichbar niederdrückende Stimmung und Konfusion hatte ich noch nie erlebt. Die Verwirrung ging schon damit los, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich begriff, dass es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind, ob vor oder nach der Pubertät.
Natürlich hätte ich auch eine andere Zeitspanne wählen können, zum Beispiel von 1928 bis 1950, aber ich entschied mich, vor allem um die Arbeit überschaubar zu halten, für jene 15 Jahrgänge, von der Flakhelfergeneration bis zu jenen Kindern, die auf der Flucht geboren wurden. Gerade diese beiden Pole machen deutlich, dass es nicht um eine, sondern um mehrere Generationen geht.
Und dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten in den Aussagen über die Kriegszeit und die schweren Jahre danach. Zum Beispiel der Satz: »Es war nie langweilig«. Und: »Was wir damals erlebt haben, war für uns normal.« Soll heißen: »Wir haben das, was der Krieg mit sich brachte, als normal empfunden, zumal es ja allen Familien ringsum genauso ging, und wir haben uns in unserem Alltag so wenig wie möglich vom Krieg stören lassen.«
Nun ist ja bekannt, dass kleine Kinder auch extreme Lebensumstände so hinnehmen, wie sie sind. Romanautoren haben sich immer wieder davon inspirieren lassen, dass solche Prägungen ihre eigene Dynamik entwickeln. Ein Kind, das in einem Bordell aufwächst, wird das als völlig normal empfinden, bis es mit den Normen der Außenwelt in Kontakt kommt. Wenn dann aus dem Kind ein reflektierender Erwachsener geworden ist, wird er ein Bewusstsein davon entwickeln, welche Spuren eine solche Kindheit bei ihm hinterlassen hat.
Bei meinen Gesprächspartnern war das in der Regel anders. Sie wollten nur von ihren Kindheitserinnerungen erzählen, die sie gern mit dem Satz einleiteten: »Wir haben in dieser Zeit auch viel Schönes erlebt.« Selbst im Nachhinein fehlte der Mehrzahl der Betroffenen das angemessene Gefühl für das, was sie an Schrecken erfahren hatten. Dass das Haus der Lieblingstante, in dem man so viel Schönes erlebt hatte, von Bomben komplett zerstört worden war, das erwähnte ein Mann nur beiläufig; bei mir kam es so an wie: nichts Besonderes, so was hat man eben weggesteckt. Sprach ich meine Interviewpartner darauf an, dann stellte sich heraus, dass sie auch das Festhalten an eigentlich nicht adäquaten Gefühlen – bis hin zur Gefühllosigkeit – heute noch »ganz normal« finden.
Ein zähes Thema, nicht nur für die Befragten. Wenn ich es Zeitungs- oder Fernsehredakteuren anbot, die selbst der Kriegskindergeneration angehörten, stieß ich auf fast einhellige Ablehnung. Genauer gesagt, in den meisten Fällen kam überhaupt keine Reaktion. Meine Exposés wurden offenbar zur Seite gelegt und dann vergessen. Das kannte ich noch nicht, dass ein Themenvorschlag so viel Schweigen auszulösen vermochte.
Oberflächlich sah es so aus, als habe man die Frage »Wie hat sich die Kriegskindheit auf das weitere Leben ausgewirkt?« einfach für unwichtig gehalten. Doch schließlich wurde mir klar: Das zugrunde liegende Thema beunruhigt uns Deutsche weit mehr, als ich angenommen hatte. Die Antworten liegen unter der Last von Schuld und Scham begraben, als Folgen der Naziverbrechen, des Holocaust.
Warum mich das Thema nicht losgelassen hat? Ich glaube, dies hat nun wiederum mit meiner eigenen Generation zu tun, mit den kurz nach dem Krieg Geborenen. Ich habe als Kleinkind das zerstörte Köln gesehen. So, wie die Erwachsenen darauf reagierten, war es klar, dass das Wort »Krieg« etwas Schlimmes bedeutete. Ich glaube also, dass ich in einem Alter eine Ahnung von Vergangenheit bekam, in dem man üblicherweise nur in der Gegenwart lebt und das Vergangene noch gar keine Kategorie ist. Das Vergangene war allgegenwärtig und trotzdem ein geheimnisvolles Tabu. Als Jugendliche entwickelte ich dann eine konkrete Neugier. In der Schule erfuhren wir von den Naziverbrechen, von Auschwitz; die Eltern reagierten auf meine Fragen mit Ärger oder Schweigen.
Als ich dann dreißig Jahre später beim Thema Kriegskinder ähnliche Erfahrungen machte, wieder in verhärtete Gesichter blickte, wusste ich, dass ich auf etwas gestoßen war. Wieder wurden meine Fragen abgewehrt. Wieder wurde mir bedeutet, dass ich keine Ahnung hätte. Wahrscheinlich gibt es für meine Neugier nichts Stimulierenderes als kollektive Geheimnisse.
Während ich an diesem Buch schrieb, geschah etwas Unerwartetes: Günter Grass veröffentlichte 2002 seine Novelle »Im Krebsgang« und löste damit in deutschen wie in ausländischen Zeitungen einen Diskurs über die heikle Thematik »Die Deutschen als Opfer« aus. Befürchtet wurde eine Relativierung der deutschen Schuld. Gewarnt wurde vor einer Aufrechnung von Opfern der NS-Verbrechen, des Holocaust, mit den deutschen Opfern von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung.
Günter Grass befand in seinem Buch, er habe zu lange geschwiegen, und lenkte die Aufmerksamkeit auf die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung. Ein Zitat macht die Hintergründe seiner Sinneswandlung deutlich: Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos . . .
Anfang 2002 widmete »Der Spiegel« dem »Krebsgang« vor dem Hintergrund des Themas Flucht und Vertreibung eine Titelgeschichte. Darin stand, was dem Tenor in fast allen großen Zeitungen entsprach: dass über die Folgen der Nazizeit und des Krieges noch einmal gründlich nachgedacht werden müsse. Als ich den »Spiegel«-Titel las, wusste ich: Das ist der Wendepunkt. Jetzt ändert sich etwas. Jetzt kommt auch das Thema »deutsche Kriegskinder« endlich an die Öffentlichkeit, schon deshalb, weil sie die letzten lebenden Zeitzeugen sind.
Mit der Veröffentlichung der Grass-Novelle sowie des ebenfalls 2002 erschienenen Buches »Der Brand« von Jörg Friedrich wurden eine heftige Diskussion und vor allem eine gigantische Erinnerungswelle ausgelöst, die bis heute anhält. Dabei von einem Tabubruch zu reden wäre wohl übertrieben. Aber ganz sicher handelt es sich um einen Dammbruch, weshalb die Flut der Erinnerungen nun auch bei den Kriegskindern nicht mehr zurückzudrängen ist. Für sie ist es häufig das erste Mal, dass sie darüber reden – vorher hatte ja keiner danach gefragt.
In meinem Buch steht die Sicht der Betroffenen im Vordergrund. Ich habe sehr viele Stimmen gesammelt, aber meine Auswahl beschränkt sich auf Lebensläufe, die stark vom Krieg geprägt wurden (wobei alle Namen mit Sternchen geändert worden sind). So haben mich vor allem jene Frauen und Männer interessiert, die zwar wussten, aber bis vor Kurzem überhaupt nicht empfanden, dass in ihrer Kindheit etwas Besonderes oder gar etwas besonders Schreckliches vorgegangen war.
Dass die Katastrophe des Luftkriegs in Deutschland weit weniger öffentliches Thema war als das der Vertreibung, mag erklären, warum in diesem Buch mehr von den Überlebenden des Bombenkriegs die Rede ist als von Flüchtlings- und Vertriebenenschicksalen.
Beim Abfassen der veröffentlichten Lebensgeschichten aus der Kriegskindergeneration war mir klar, dass die Erinnerungen und die damalige Realität nicht immer deckungsgleich sind. Vieles konnte ich nicht überprüfen, weil mir andere Quellen fehlten. Unvermeidbar auch, dass es mir, der Nachgeborenen, hin und wieder an Zweifeln mangelte, dass ich also bestimmte Behauptungen hinnahm, weil ich nie etwas Abweichendes gehört hatte. Bei Unkorrektheiten bitte ich um die Nachsicht derer, die es als Zeitzeugen und Historiker besser wissen.
Bildung, beruflicher Erfolg und eine robuste Gesundheit erweisen sich als enorm hilfreich, wenn es darum geht, frühes Leid zu kompensieren. Daher begab ich mich auf die Suche nach den weniger begünstigten Zeitzeugen und erkundigte mich bei Ärzten und bei Krankenkassen. Ich hoffte, es gäbe vielleicht Statistiken über den Gesundheitszustand der Jahrgänge 1930 bis 1945. Fehlanzeige. Dann schaute ich noch einmal gezielt zwei Ordner mit Post durch: 600 Hörer hatten auf meine nicht gerade zahlreichen Sendungen zum Thema »Kriegskinder« geschrieben. Die meisten von ihnen beließen es bei einer Bitte um das Manuskript. Etwa 20 Prozent hatten hinzugefügt, warum diese Sendung sie persönlich so betroffen hatte. Das alles war aufschlussreich und unterstützend, führte mich aber auch nicht zu der Gruppe der Unsichtbaren, von deren Existenz ich nach wie vor überzeugt bin.
Sie kommen also wieder zu kurz, hier in diesem Buch – wie übrigens auch diejenigen, die in der DDR lebten. Der Hauptgrund ist, dass ich als Kölnerin am westlichen Rand der Republik wohne und meine Kontakte mit Ostdeutschland entsprechend dünn sind. Meine Beiträge über die Kriegskindergeneration wurden fast ausschließlich in Westdeutschland gesendet. In der Hörerpost waren folglich kaum Briefe aus Ostdeutschland, die mir bei meinen Recherchen hätten weiterhelfen können. Das bedauere ich, denn mir ist bewusst, dass es in der DDR vor allem die Vertriebenen besonders schwer hatten. Sie mussten sich »Umsiedler« nennen und über ihr Schicksal schweigen. In den meisten Vertriebenenfamilien ist das Tabu immer noch wirksam – auch zwanzig Jahre nach der Wende.
Doch auch dies wird sich noch ändern, dafür sorgen nicht zuletzt die neuen Medien.
Seit ich über das Thema »Kriegskinder« Beiträge im Internet veröffentliche, erreichen mich ständig E-Mails, auch aus Österreich, wo die Kinder des Krieges offenbar einem ähnlich großen Schweigen ausgesetzt waren wie hierzulande. Besonders überrascht haben mich aber die Briefe von Auslandsdeutschen. Ihr Tenor: Da lebe ich so viele Tausend Kilometer von Deutschland entfernt, aber der Krieg holt mich immer wieder in meinen Träumen ein.
Seit sechs Jahren treffe ich bei Lesungen auf Kriegskinder und werde regelmäßig Zeugin davon, wie emotionale Schranken plötzlich überwunden werden. Konflikte zwischen Kriegskindern und ihren Kindern, die oftmals bei den Lesungen dabei sind, brechen auf. Familien finden Worte für das, was bisher im Unterbewusstsein der Kriegskinder rumorte und ganze Generationen verstummen ließ. Solche Begegnungen waren ausschlaggebend dafür, die »Vergessene Generation« um ein Kapitel zu erweitern. Sie zeigen, wie aktuell das Thema nach wie vor ist.
Die Medien lassen das Thema nicht ruhen. Mit unzähligen Beiträgen halten sie das Interesse wach, Tendenz steigend. Das lässt hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch jene Regionen ausgeleuchtet sein werden, die heute noch im Dunkeln liegen. Noch nie waren Vertreibung und Luftkrieg im deutschen Bewusstsein so lebendig wie heute. Als »Die vergessene Generation« 2004 erschien, lautete der letzte Satz der Einführung: »Wir stehen erst am Anfang.«
Das hat sich gründlich geändert.