ZWEITES KAPITEL

Was Kinder gebraucht hätten ...

Ein behutsamer alter Mann

Was brauchen Kinder, um sich von schweren seelischen Verletzungen zu erholen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden. Sie brauchen vor allem einfühlsame und geduldige Erwachsene. Aber wo gab es sie in Kriegszeiten und in den Elendsjahren danach? Wer hatte noch die Aufmerksamkeit, die Nerven und vor allem die Zeit, um ein verstörtes Kind in den Schlaf zu streicheln? Wer nahm ihm die Angst vor bösen Träumen? Wer verstand die Wut von kleinen Mädchen und Jungen, weil ihre Welt entzweigegangen war, und reagierte mit Liebe statt mit Schlägen? Wer vermochte es, mit einem verstummten Kind zu schweigen und ihm dabei ganz nah zu sein? Wer verzichtete auf jede Eile, damit eine kleine Hand sich in einer großen Hand geborgen fühlen konnte? Wer redete mit ruhiger Stimme, und wer war ein guter Zuhörer . . . ?

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste. Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand gekommen war, und nun vor ihm stand, dunkel leise. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann.

Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann.

So beginnt die bekannte Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert »Nachts schlafen die Ratten doch«. Sie gehört zu den Raritäten in der deutschen Kriegsliteratur, weil sie nicht einen Soldaten in den Mittelpunkt stellt, sondern einen neunjährigen Jungen, der tagelang allein auf einem Trümmergrundstück Wache hält, und einen fremden Mann, der das Kind ganz behutsam ins Leben zurückführt.

Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen der Ratten.

Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen der Ratten?

Ja, die essen doch von den Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.

Wer sagt das?

Unser Lehrer.

Und du paßt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.

Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise: Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe ab. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muß ja hier noch sein. Er ist noch viel kleiner als ich.

Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen?

Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.

Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird schon.

Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten.

Ein seltsamer, ein anrührender Dialog. Knapp und überzeugend werden darin die ersten Schritte beschrieben, die nötig sind, damit ein traumatisiertes Kind wieder Vertrauen gewinnt.

Da sagte der Mann, und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei: Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines, oder, was meinst du?

Jürgen machte lauter kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. Ich weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.

Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.

Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?

Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du mußt hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du. Ich muß deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müßt ihr ja wissen.

Was hat der ältere Mann dem Jungen angeboten, um ihn ins Leben zurückzulocken? Nicht viel. Nur eine kindgerechte Notlüge, ein kleines Kaninchen und die Aussicht, ihn nach Hause zu begleiten. Er hat das Kind nicht zurechtgewiesen und ihm nicht gedroht, und er hat erst recht nicht versucht, es fortzuzerren.

Kinder ohne Väter

Nachgeborene wie ich, nun fast sechzig Jahre durch Frieden verwöhnt, können sich kaum vorstellen, dass es einmal Kinder gab, die tagelang sich selbst überlassen blieben, ohne dass jemand nach ihnen suchte. Vielleicht hatte Jürgens Mutter nach einem verheerenden Luftangriff den zerstörten Stadtteil in Panik verlassen, hatte ihre zwei oder drei überlebenden Kinder hastig mit sich gezogen, hatte wie Tausende andere Obdachlose in einem der Notquartiere für Ausgebombte übernachtet, dann morgens am Bahnhof auf die Evakuierung gewartet und Jürgens Abwesenheit erst bemerkt, als der überfüllte Zug endlich losgefahren war.

Natürlich ging sie davon aus, dass er im Gedränge von seiner Familie getrennt worden war, und nicht, dass er sich heimlich fortgeschlichen hatte, um seinen kleinen toten Bruder vor den Ratten zu schützen. Was sollte die Mutter da tun? Sie saß im Waggon gefangen; konnte nur beten, dass sie irgendwann am Abend noch eine Verwandte oder Nachbarin ans Telefon bekam, in der Hoffnung, dass der verlorene Sohn bei ihr aufgetaucht war . . .

Dass der neunjährige Jürgen daheim einen Vater hatte, der ihm einen Kaninchenstall hätte bauen können, wird wohl eher unwahrscheinlich gewesen sein. Die meisten Kinder sahen ihre Soldatenväter nur auf Heimaturlaub. Über die Jahre sammelten sich in fast jeder Familie viele, viele Feldpostbriefe. Irgendwann kamen dann vielleicht nur noch seltene Lebenszeichen, aus Kriegsgefangenenlagern, oder der Kontakt riss völlig ab.

In den ersten Nachkriegsjahren erschienen endlich Zahlen zur Vaterlosigkeit, die für die Kriegskindergeneration so folgenreich war.

Eine Statistik von 1950 verzeichnet

  • 3 Millionen Gefallene
  • 2 Millionen Vermisste
  • 2 Millionen Kriegsversehrte, davon über 500 000 Schweramputierte und
  • 2 Millionen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft.

Den Männern, die etliche Jahre in russischen Lagern hinter sich hatten, war es dort ähnlich ergangen wie den Osteuropäern, die zuvor von den Deutschen als Arbeitssklaven gehalten worden waren. Viele Heimkehrer waren Familienväter, gezeichnet von Hunger, Krankheiten und häufig von sonderbaren Verhaltensweisen, die sie offenbar nicht steuern konnten.

Die Not und die Wut der Heimkehrer

In meiner Kindheit in den Fünfzigerjahren wären meinen Freundinnen und mir mühelos ein halbes Dutzend Männer, darunter auch Lehrer, eingefallen, die ihre Umgebung durch cholerische Ausbrüche tyrannisierten. Von den Erwachsenen wurden die Randalierer in Schutz genommen, ein Wohlwollen, das mir, einem Kind, das ständig erzogen wurde, merkwürdig vorkam, bis ich begriff, dass man Mitleid mit ihnen haben musste. Krieg, Gefangenschaft, Hirnverletzung, das waren die Stichworte. Ihre Toberei hatte man hinzunehmen wie ein Unwetter im Sommer – man musste eben gucken, dass man sich rechtzeitig in Sicherheit brachte. Und man musste dem Himmel dankbar sein, wenn so ein unberechenbares Exemplar nicht der eigene Vater war, der, wenn er »seine Anfälle« bekam, die eigenen Kinder wie ein Wahnsinniger anbrüllte oder gar zusammenschlug.

Es waren nicht nur junge Veteranen, die das Grauen mit sich herumschleppten, sondern auch ältere, die bereits zwei Weltkriege hinter sich hatten. Später, als wir in der Schule Wolfgang Borchert und Heinrich Böll lasen, wuchs unsere Bereitschaft, sie zu verstehen.

Nicht wenige Heimkehrer haben Spuren in den Akten der psychiatrischen Kliniken hinterlassen. Hierbei muss man allerdings wissen: Bis in die Sechzigerjahre hinein war es für die Mediziner kaum denkbar, dass der Auslöser für eine psychische Erkrankung etwas anderes sein konnte als eine schwere organische – und damit messbare – Schädigung. Im Klartext hieß das: Ein gesunder Körper verursacht keine seelischen Störungen, da mussten dann andere Faktoren ausschlaggebend sein, vererbte Belastungen oder eine grundsätzlich labile Befindlichkeit.

Ein Patient mit tief greifenden psychischen Veränderungen, dessen Körper jedoch keine Spuren von Gewalt oder doch wenigstens von lang anhaltenden Strapazen aufwies, war also nicht etwa kriegstraumatisiert, wie es uns heute so selbstverständlich von den Lippen geht, sondern es wurde eine »anlagebedingte« Ursache für seine Störungen verantwortlich gemacht. Dies galt als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis.

Vor allem für die Holocaustüberlebenden hatten derartige medizinische Glaubenssätze schlimme Folgen, denn damit argumentierten deutsche Gutachter vor Gericht, wenn es darum ging, Rentenansprüche und Wiedergutmachungsleistungen abzuwehren; eine gängige, erbarmungslose Praxis gegenüber Naziopfern, die 1963 den amerikanischen Psychoanalytiker deutscher Herkunft Kurt Eissler zu der seither viel zitierten Frage veranlasste: »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?«

Nun stand das Schicksal der Heimkehrer den deutschen Medizinern, von denen viele gleichfalls Kriegsteilnehmer gewesen waren, vermutlich näher als das der KZ-Überlebenden. Auch war die Zahl der Patienten, die unter den Folgen von Krieg und Gefangenschaft litten, so groß, dass sie die Proportionen dessen sprengte, was man guten Gewissens als »anlagebedingt« in den Krankenakten festhalten konnte. Auch darf man davon ausgehen, dass sich bei den Ärzten eine gewisse Hemmung zeigte, allzu viele ehemalige Leidensgenossen als »labile Charaktere« abzustempeln.

Diagnose »Dystrophie«

Zur Lösung des Problems ließen sich die sichtlich überforderten deutschen Nachkriegspsychiater ein spezielles Krankheitsbild einfallen, die Dystrophie. Der Begriff umschrieb ein ganzes Feld an physischen Schädigungen und psychischen Beeinträchtigungen, die man auf eine vorangegangene schwere Mangelernährung zurückführte. Heute ist leicht zu erkennen, dass es sich dabei um eine aus der Not geborene Erfindung handelte. Dystrophie-Patienten litten unter anderem an Depressionen, Konzentrationsschwäche, an unkontrollierbaren Wutausbrüchen, oder sie fühlten sich permanent verfolgt, von Feinden umzingelt. Man könnte auch sagen: Für viele Männer ging nach der Heimkehr der Krieg immer weiter . . .

Die Diagnose »Dystrophie« gab es, soweit ich weiß, für Kinder nicht. Aber grundsätzlich waren Behandlungsangebote für traumatisierte Menschen so selten, dass sie kaum irgendwo dokumentiert sind. Das galt für die Erwachsenen wie für die Kinder. In vielen Familien gab es nicht einmal Trost. Und doch entstanden zwischen Gewalt und Zerstörung vereinzelt kleine Rettungsinseln. Eine davon entdeckte der Schriftsteller Peter Weiss im Jahr 1947 und schrieb darüber in einer schwedischen Zeitung:

Bei der Kinderpsychologin im Norden Berlins. Sie ist eine von den wenigen, die im zähen Kampf aushalten. Sie hat eine einzigartige menschliche Kraft, sie strahlt Ruhe und Lebensfreude aus. Sie erkennt den menschlichen Wert in ihren blassen kleinen Freunden. Die kommen aus dem Kinderheim, wo sie für ihr Bettnässen, das seelische Gründe hat, und wegen der nervösen Gesichtszuckungen Schläge bekommen. Sie sind ohne Eltern, oder sie kommen aus Elternhäusern ohne Vater, der ist tot oder in Gefangenschaft, ganz allein kommen sie mit dem Flüchtlingszug und wissen nicht, wohin sie gehen sollen.

Da ist ein achtjähriges Mädchen. Nach einem Bombenangriff sah sie die verstümmelte Leiche ihrer jüngeren Schwester – eine Todeserfahrung, die sie nicht vergessen konnte. Später wurde ihr gesagt, die kleine Schwester sei nun ein Engel. Da sah sie dann immer diesen Engel, doch der hatte die aufgeplatzten, in Fäulnis übergehenden Hände ihrer Schwester. Für diese Vorstellungen wurde sie im Kinderheim bestraft, mit Hunger wollte man sie kurieren, eingesperrt wurde sie, bis die Ärztin sie schließlich fand, schon halb tot. Noch ist das Mädchen stumm, doch ihre Hände arbeiten schon mit Ton, sie formt eine kleine Puppe, ein Mädchen mit Flügeln, um die Arme wickelt sie einen Verband. Später spielt sie Beerdigung, und damit war schon ein Anfang gemacht für ihre Heilung.

Früher Ratgeber »Flüchtlingskinder«

Während ich in alten Zeitungsberichten nach Spuren suchte, um die Situation der Kinder besser erfassen zu können, stieß ich auf einen interessanten Hinweis. Der Ernst Klett Verlag in Stuttgart hatte 1952 eine Reihe von Erziehungsratgebern herausgebracht, vier Bändchen, das Stück für 1,90 DM, mit Titeln wie »Flüchtlingskinder in neuer Heimat«, »Laßt Kinder spielen«, »Fremdes Kind wird eigenes Kind«. Ein einfühlsamer Autor hatte darüber in der Zeitung »Neuer Vorwärts« geschrieben: »Es erscheint einem nach der Lektüre dieser Bändchen wie selbstverständlich, daß ein Flüchtlingskind, das vielleicht auf der Flucht ganz allein die Verantwortung für die kleineren Geschwister tragen mußte, sich in einer neuen Umgebung und in einem wieder geregelten Leben nicht mehr ›bevormunden‹ lassen will; daß heimat- und elternlose adoptierte Kinder durchaus nicht immer negativ erblich belastet sein müssen, daß sie in vorurteilsfreier, sorgsamer, liebevoller Umgebung genauso gedeihen.«

Das sind heute alles vertraute Vorstellungen. Aber damals spielte die schwarze Pädagogik eine große Rolle, wenn es darum ging, in Familien unbedingten Gehorsam durchzusetzen, worauf auch der Zeitungsbeitrag anspielt, wenn es heißt: »Als Grundtendenz aller vier Hefte: unverständliche kindliche Regungen, Hemmungen, unerwartete Reaktionen nicht mit Gewalt austreiben und brechen, sondern mit liebevollem Verständnis von Grund auf zu beseitigen versuchen.«

Es gab sie also auch damals, die aufmerksamen Pädagogen, und es gab die gütigen Eltern, die sich um ihre Kinder sorgten. Aber offenbar gab es davon nicht genug, weil die Erwachsenen mit ganz anderen Problemen belastet waren. Der Obertitel der Heftchen, »Bedrohte Jugend – Drohende Jugend«, macht deutlich, dass die Lage ernst zu nehmen war und dass man im Verlag die Zeit gekommen sah, die Eltern damit zu konfrontieren. Auch in Aufbau und Tonfall haben sich die neuen Ratgeber weit entfernt von den Erziehungsbüchern der Nazizeit mit ihren kinderfeindlichen Ratschlägen. Man verzichtete auf das in der Pädagogik typische Auflisten von Konfliktsituationen. Stattdessen werden die Eltern – denen viel Verständnis für ihr Überfordertsein entgegengebracht wird – zum genauen Hinschauen und Hinhören angeregt. Kein erhobener Zeigefinger, weder den Kindern noch den Erwachsenen gegenüber, sondern ein wohlwollender, ruhiger Ton. Die den Problemen zugrundeliegenden Geschehnisse werden weder dramatisiert noch verniedlicht.

Das schmale Heft über Flüchtlingskinder erzählt von den häufig ganz unscheinbaren Spuren der Gewalt. Und als Erstes wird den Älteren nahegelegt, sich auf die Perspektive der Kleinen einzulassen:

Auf dem Treck ist es zuerst ganz lustig, jedenfalls ungeheuer interessant. Die Kinder sehen sich mit großen Augen um. Als aber die Dämmerung kommt, wird es ihnen unheimlich! »Wir wollen ins Zimmer, Mutter, warum gehen wir nicht ins Zimmer?« Es wird kalt, es wird dunkel – die Kleinen zwischen zwei und sechs Jahren verstehen nicht, was dieses soll; sie sind verzweifelt wie aus dem Nest gefallene Vögel, überwältigt von dem Unbekannten.

Die Verfasserin Elisabeth Pfeil konzentriert sich nicht auf die extrem traumatisierenden Ereignisse, sondern macht die Eltern auf die Summe der kleineren Verluste und das ständige Verzichtenmüssen aufmerksam, etwas, das die Kinder auch hinterher, nach der Flucht, immer wieder verunsichert.

Das Kind beginnt zu vergleichen: »Alle Kinder haben Spielzeug. Bloß ich habe keine Spielsachen.« »Warum haben wir keine Äpfel? Die anderen Leute haben doch alle Äpfel.« Es wird Ostern und obwohl es ja »nichts gibt«, haben doch die Kinder der Hauswirte schöne bunte Eier gebracht bekommen. Ganz genau hat Hubert (viereinhalb Jahre) es gewußt: auch ihm wird der Osterhase etwas bringen; aber er brachte nichts. Als er weinte, schenkte ihm eine Frau ein großes Pappei. Er öffnete es voll Erwartung, es war leer. – Eine Welt hatte er zusammenstürzen sehen, aber auf den Osterhasen hatte er sich doch verlassen. Und nun war auch das nichts gewesen, auch dies hatte getrogen.

Andererseits werden die Eltern auch beruhigt. Ihnen wird gesagt: Kinder erholen sich schnell, wenn ihre Umgebung sich normalisiert hat, wenn die größten Mängel beseitigt sind. Die Anpassungsfähigkeit gerade der Flüchtlingskinder wird hier wie in allen frühen Publikationen immer wieder lobend hervorgehoben:

Barbara ist inzwischen acht Jahre alt geworden; längst bewegt sie sich mit der Sicherheit eines Eingeborenen in ihrer neuen Welt. Sie spricht die breite westfälische Sprache ihrer zweiten Heimat; hinter ihr liegen die Zeiten, wo sie jeden neuen Menschen mit Mißtrauen ansah. Und doch passiert folgendes: Beim Abendbrot ist die Rede davon, daß eine Nachbarsfamilie aus der Wohnung herausmüsse. Das Kind wird totenbleich, legt den Löffel hin. »Mutter, müssen wir wieder weg?«

Den Kindern gelang es in der Regel viel eher als ihren Eltern, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Und dennoch: Was von der Flucht übrig blieb, bleibt aufmerksamen Erwachsenen nicht verborgen. Sie spüren den Schrecken, auch wenn er mit altklugen Redewendungen daherkommt.

»Nicht wahr, Mutter, wenn wir das nächste Mal fliehen, dann darf ich mein Rucksäckchen doch behalten?« Wolfi hatte als kleiner Bursche von vier Jahren seine liebsten Spielsachen in einem eigenen kleinen Rucksack mit sich tragen können. Aber die Familie war von einem LKW der Wehrmacht aufgenommen worden unter der Bedingung, daß sie alles Gepäck zurückließ – es sollten ja möglichst viele Menschen auf diesen letzten deutschen Wagen gehen. Da hatte auch der Kleine sein Rucksäckchen fortwerfen müssen. Zweierlei ist bezeichnend an seiner Äußerung, einmal daß der Schmerz von damals noch nicht überwunden ist, dann aber die Wendung: »wenn wir das nächste Mal fliehen . . .« Die Welt dieses kleinen Kerls sieht so aus: Man geht eben ab und zu auf Flucht.

Wenn etwas ältere Kinder von dramatischen Ereignissen sprechen, klingt es häufig so, als hätten sie das Glück gehabt, bei einem großen Abenteuer dabei sein zu dürfen. Als Beispiel das Gedicht eines Zehnjährigen.

Am 10. Februar im 45. Jahr ging es raus

vom schönen elterlichen Haus.

Solang wir hatten Pferd und Wagen,

war die Reis’ noch zu ertragen.

Im nächsten Dorfe schlief sich’s gut,

am Nagel hingen Stock und Hut.

So ging es weiter,

trüb und heiter,

durch die Weiten immer weiter,

bis mit einem Male, na nun,

hatten wir’s mit den Russen zu tun.

Das Gedicht erinnert mich an die Art, wie ich viele Erwachsene von ihrer Kindheit im Krieg habe reden hören: ohne Schrecken in der Stimme, sondern eher unterhaltsam nach dem Motto »Zumindest war es nie langweilig«. Elisabeth Pfeil schaut auch bei diesem Gedicht sehr genau hin und verrät, was sich dahinter verbirgt. Hier ist alles vorhanden: der Aufbruch, das Interessante, das Abenteuerliche der Reise, die Beobachtung des Ungewöhnlichen (daß man den Hut an einen Nagel an der Wand hängte), die wechselvollen Erlebnisse der weiteren Flucht, endlose Weite, der Verlust der Pferde, des Wagens und endlich: vom Feind eingeholt zu werden. Dieser Junge, der erlebt hat, wie sie durch das Feuer liefen, wie dabei sein kleinster Bruder zurückblieb, wie sie den Fluchtweg wieder rückwärts zogen, wie die Mutter als Magd arbeitete, wie die Soldaten sie mißbrauchten, faßt alle Schrecknis zusammen in einen einzigen kleinen Ausruf, die beiden Worte »Na nun«. Dann bricht das Gedicht ab.