9. Kapitel

- Thor -

Nach stundenlanger Suche fand ich endlich, was mein Vater für mich vorbereitet hatte. Mit einem Fahrzeug, das die Menschen hier Bus nannten, war ich bis vor meine Haustür gefahren. Geld hatte ich keines, aber der Fahrer hatte sich sowieso nicht getraut mich anzusehen, geschweige denn eine Bezahlung zu verlangen. Vermutlich hatte er meine unterschwellige Wut gespürt. Und das nicht ohne Grund! Odin hatte mich der Lächerlichkeit preisgegeben, mich in einem öffentlichen Park zum Menschen gemacht und mit dieser absolut schäbigen Kleidung ausgestattet. Kein Wunder, dass die Menschen gafften und heimlich tuschelten. Thor mit lächerlicher Hose! Thor ohne Hammer! Thor in einem Bus! Und der war noch dazu so verdammt niedrig und eng und ... schnell! Schon jetzt hasste ich dieses neue Zeitalter, den Dreck und den Gestank. Wieso nur war ich auf die Idee gekommen mich auf diese Welt zaubern zu lassen? Und dann dieser Lärm und die Schnelligkeit! Hatten die Menschen in den letzten Jahrhunderten denn nur Unsinn produziert?

Kopfschüttelnd stand ich nun in meinem heruntergekommenen Domizil, das Odin für mich auserkoren hatte. Die Wohnung hatte gerade mal hundert Quadratmeter, dafür aber viele Fenster und eine Terrasse, die einen guten Blick auf diese Stadt bot. Immerhin! Ich knirschte mit den Zähnen, denn die schienen wenigstens von gutem Material zu sein. Auch der Körper fühlte sich immer besser an, war groß und kräftig und für einen Krieger wie geschaffen. Selbst die Einengung, die mit ihm einher ging, ließ allmählich nach. Nur mein Quartier war ein Witz und eines Gottes wahrlich nicht würdig. 100 Quadratmeter waren nichts für solch einen großen Mann wie mich.

Du hörst dich an wie ein flennendes Mädchen, lachte Odin und ich biss erneut die Zähne zusammen, um nicht laut zu fluchen. Stell dich nicht so an, Sohn! Du hast alle Privilegien, die ein Mann nur haben kann. Du hast einen gesunden, attraktiven Körper, eine Wohnung am richtigen Fleck und einen gefüllten Kleiderschrank. Du besitzt Geld, einen vollen Eiskasten und brauchst dich im Prinzip um nichts zu kümmern. Also fang an die Dinge bei den Eiern zu packen und verschwende nicht meine Zeit!

„Ich verschwende deine Zeit, Odin? Hättest du ein wenig mehr Interesse am Kollektiv gezeigt, wäre dieses Opfer von mir nicht notwendig gewesen.“ Ich war ziemlich stolz mich gerade mal wieder erinnern zu können und brüllte so laut ich konnte. Es machte richtig Spaß zu wissen, dass meine Nachbarn jedes einzelne Wort verstehen konnten. Die Wände in dieser Miniwohnung waren nämlich ein Witz und so dünn wie Pappe. Mit meinem Hammer hätt ich sie binnen Sekunden ...

Blablabla. Bist du jetzt endlich fertig? Du bist hier kein Gott mehr! Zumindest nicht mehr in dem Ausmaß. Und du musst dich sputen. Ich gebe dir fürs Erste einmal einen Monat. Die Zeitspanne ist mir letztendlich dann doch wieder eingefallen, was sagst du? Ach, egal was du sagst! Ich werde erst wieder mit dir Reden, wenn du mich rufst. Ich wollte gerade antworten, als ein stechender Schmerz geradewegs durch meinen Schädel fuhr.

„Bei allen heiligen ...“

Fluch nicht ständig! Ich erwarte mir schon ein wenig mehr Respekt gegenüber der Heiligkeit. Du wolltest unbedingt auf die Erde, weil DU neugierig geworden bist. Also verschone mich mit deinem Hochmut und deinen verwöhnten Vorstellungen. Hier bist du nicht länger Thor, sondern ein Mann und soweit ich das beurteilen kann, ein gut bestückter noch dazu.

„Herrgott, Vater“, rief ich empört.

Ja? Ich hätte dir schließlich auch ein klitzekleines Schwert mit auf den Weg geben können, aber ich weiß, dass du eine Frau suchst und da kann es nicht schaden ...

„Vater, bitte!“ Irgendwie war ich nicht in Stimmung mir sein Geschwafel noch länger anzuhören und das mit dem Schwert würde ich schon noch selber überprüfen. Gute Manneskraft war immer ein Geschenk, aber dafür brauchte ich keinen Odin im Hinterkopf.

Also gut, Sohn! Ich lasse dich jetzt alleine und erwarte, dass du dich meldest, sobald du etwas brauchst. Allerdings sollte das nur im Notfall sein! Ich dulde keine halben Sachen und schließlich hast du dich für diese Mission entschlossen. Fürs Erste gebe ich dir also ein halbes Jahr, danach melde ich mich von mir aus. Ich grinste frech, weil er zuerst von einem Monat und dann von einem halben Jahr sprach. Offenbar wusste er doch noch nicht so recht mit den Zeiteinheiten der Menschen umzugehen. Aber ich wollte auch nicht darauf herumreiten.

„Ist gut, Vater. Ich werde das hier schon schaffen. Wobei ...“ Kurz zögerte ich noch, weil ich die nächsten Worte als Schwäche sah. „... ein wenig Unterstützung von einem Menschen deines Vertrauens könnte ich schon gebrauchen, Vater.“

Keine Sorge der Nachbar neben dir ist sehr feinfühlig und hat so gewisse Antennen. Nur Vorsicht ... er ist auch ein bisschen schwul. Daraufhin lachte er so schäbig, dass ich ihn mit einem wutentbrannten „Geh endlich!!!“ endgültig aus meinem Kopf verbannte.

Lieber ein halbes Jahr hilflos in einem völlig unbekannten Jahrhundert und einer fremden Stadt, als noch länger Odins Spott zu ertragen! Was hatte ich dem alten Herrn eigentlich getan, dass er mir derart eins auswischen wollte?

Nach einer Weile der angenehmen Stille, dämmerte mir, dass er wirklich fort und ich auf mich alleine gestellt war. Ich besaß weder Mjölnir, meinen geliebten Hammer, noch hatte ich echten Zugriff auf meine göttlichen Kräfte. Aber das sollte mich nicht stoppen! Entschlossen sah ich mich in der Wohnung um, riss alle Kasten- und Küchentüren auf und sah mich ein wenig ratlos im großen Spiegel meines Schlafraums an.

„Zum Teufel mit dir Odin!“, fluchte ich und fuhr mir durch die halblangen blonden Haare. Vielleicht hatte ich verlernt, wie ein Krieger auszusehen hatte, doch dieser Körper war viel zu feminin. Gut, da waren genug Muskeln und die stattliche Gesamtgröße, aber wer hatte bitte schon so feminine Augen und derart schwungvolle Lippen? War dies das gängige Schönheitsideal für Frauen oder hatte mir mein Vater auch hier etwas vorgemacht? Mit einer schnellen Bewegung öffnete ich die seltsame Hose, zog sie aus und schleuderte sie quer durchs Schlafzimmer. Noch seltsameres Untergewäsch mit dem Namen Boss kam zum Vorschein, aber auch das war schnell entfernt. Entschlossen wanderte meine Hand in den Schritt und begutachtete, was Odin so groß angekündigt hatte. Und ja ... was sollte ich sagen? Ein breites Lächeln erhellte mein Gesicht. Diesbezüglich hatte Odin tatsächlich nicht übertrieben.

Als es klingelte, wusste ich im ersten Moment nicht, was los war. Ich stutze leicht und sah mich forschend um, dann ging ich dem seltsamen Ton nach und landete so vor meiner Haustüre. Ohne zu zögern öffnete ich sie und starrte in die dunklen Augen eines Mannes. Er war einen halben Kopf kleiner als ich und bekam solch große Augen, dass ich allmählich kapierte, dass ich halb nackt war. Mit einer leichten Erektion. Der Mann vor meiner Haustür war fassungslos. Ich spürte förmlich wie er innerlich im Schock zusammenfiel. Auch äußerlich strauchelte er etwas, konnte seinen Mund nicht schließen und bekam tränende Augen.

„Ja bitte?“ Unter Männern konnte ein nackter Schwanz doch wohl kein Problem sein.

„Ich – äh – bin – äh – ihr Nachbar“, stotterte der Fremde, der offenbar leichte Atemprobleme hatte. Ich begann zu lächeln. Ah, der Helfer, schoss es mir durch den Kopf, doch dieses Mal waren es meine eigenen Gedanken und nicht die von Odin.

„Na, immer hereinspaziert“, rief ich fröhlich und öffnete noch weiter die Tür.

„Aber Sie ... Sie haben ... nichts an!“, rief der Mann, der immer noch seltsam atmete.

„Gut beobachtet“, konterte ich fix und dachte mir, dass der Mann offenbar noch nie andere Schwerter begutachtet hatte. Doch dann fielen mir Odins Worte ein und seine Behauptung, dass der Mann sexuell anders orientiert war als ich und ich hörte auf zu lächeln. Natürlich hatte der Gute schon viele Schwerter begutachtet. Viel genauer vermutlich, als ich es mir gerade vorstellen wollte.

„Das lässt sich beheben. Kommen Sie rein und ich ziehe mich inzwischen an.“ Damit ließ ich ihn einfach stehen und ging schnurstracks zurück in mein Schlafzimmer. Die seltsame Hose wollte ich zwar nicht mehr anziehen, aber auf die Schnelle würde sie schon genügen.

Als ich zurückkam stand mein Nachbar im Vorzimmer und wirkte ziemlich verlegen. Offenbar hatte er nicht vor wirklich lange zu bleiben.

„Verzeihung ich bin heute erst angekommen, habe gerade noch geschlafen und bin noch ein wenig durcheinander. Ich habe nicht nachgedacht, als ich die Tür geöffnet habe. Hoffentlich haben Sie jetzt keinen schlechten Eindruck von mir.“, lachte ich weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass der Mann total schockiert war. Doch dann hob er seinen Blick und sah mich auf ganz merkwürdige Weise an.

„Schlechten Eindruck? Bei allen Göttern. Ich habe noch nie etwas Großartigeres gesehen. Oh! Entschuldigung. Das wollte ich so nicht sagen.“ Der Mann wurde sogar rot und begann nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten. Irgendwie fand ich das witzig, aber um dem ganzen die Peinlichkeit zu nehmen, reichte ich ihm einfach die Hand.

„Hallo, ich heiße Thor.“

„Wie bitte?“ Er reichte mir zwar die Hand, schien aber den Namen nicht verstanden zu haben und da kapierte ich, dass mein Name vermutlich nicht mehr wirklich zeitgemäß war. Also improvisierte ich und hörte auf meinen Instinkt (wobei ich hier genau hinhörte, ob nicht Odin dabei seine Finger im Spiel hatte).

„Thomas! Ich heiße Thomas, wollte ich sagen. Manche nenne mich nur Thor, weil es kürzer ist. Dann selbstverständlich mit stummen H geschrieben.“ Zum Glück war mir eingefallen, dass die mittelalterliche Bezeichnung Tor einen Narren oder eine einfältige Person beschrieb. Und solch einen Irrtum wollte ich erst gar nicht aufkommen lassen. Mein Nachbar schien das aber sowieso gleich richtig zu verstehen, denn er strahlte mich freundlich an.

„Hallo! Ich heiße Francesko und wohne gleich neben dir.“