4. Kapitel

Zu Hause angekommen, schüttelte ich noch immer leicht den Kopf. Offenbar hatte ich in dem Versuch, wieder normal zu werden, ein paar essentielle Hinweisschilder auf meinem Weg verpasst. Hinweisschilder wie: Deine Freundinnen sind selber nicht ganz dicht, oder so.

„Die sollten vielleicht selbst einmal zur Therapie“, seufzte ich leise und schlüpfte aus meinen übertrieben hohen Schuhen. Oft genug hatten mir die beiden in meinem Genesungsprozess ein gutes Gefühl von Bodenhaftung gegeben, doch heute hatte ich zum ersten Mal erkannt, dass ich aus der Zeit der High Heels längst herausgewachsen war. Verärgert rieb ich meine brennenden Zehenballen und nahm mir vor, diesen Polterabend tunlichst an mir vorüberziehen zu lassen. Irgendeine Ausrede würde mir schon einfallen. Ich hasste Männerstriptease und wilde Orgien ohne Gefühl ebenso. Natürlich wünschte ich Martina alles Gute für ihre Hochzeit und vor allem fürs Leben danach, aber musste ich deswegen gleich den größten Schwachsinn mitmachen? Wir haben nur einen Abend ein wenig Spaß, hatte Rosi gemeint und dabei so geguckt, als hätte sie gleich einen Freibrief von ihrem Freund dazu bekommen. Vermutlich war bei den beiden schon längere Zeit tote Hose, doch darüber wollte ihre Freundin ja nie sprechen. Vielleicht war Rosi längst nicht mehr mit diesem Ferdinand zusammen. In der heutigen Zeit war die Schnelllebigkeit kein Ding und ein halbes Jahr Partnerschaft beinahe schon eine kleine Ewigkeit. Zumindest kam es mir manchmal so vor und Idioten, die an etwas Längeres mit Bestand glaubten, die landeten in der Regel – wie ich – vorm Scheidungsrichter.

Zum Glück mussten wir morgen alle arbeiten und waren daher nicht allzu lange in der kleinen Bar geblieben. Schließlich hatte ich Francesko noch versprochen zu meditieren, um diesen Roman zu suchen und das konnte sich schon auch mal über Stunden ziehen. So oder so würde ich am nächsten Tag wie eine wandelnde Mumie aussehen. Zuerst Alkohol, High Heels, dann noch fettes Essen und blödes Gequatsche ... das kostete insgesamt offenbar mehr, als es brachte.

Hm. Offenbar bin ich in komischer Stimmung, dachte ich und versuchte meine negative Einstellung abzumildern. Was ist schon dabei auch mal Spaß zu haben? Man muss nicht immer nach einem höheren Ziel streben. Man kann auch mal einfach nur wild rumvögeln, ein paar Höhepunkte einsacken und dann wieder abrauschen. Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte mich verblüfft in meinem Vorzimmerspiegel an. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Mein Spiegelbild grinste mir verwegen entgegen und ich schluckte hart. Wenigstens schluckte das blonde Luder auf der anderen Seite ebenfalls.

Schnell wandte ich mich vom Spiegel ab und versuchte mich zu konzentrieren. ICH HABE KEIN INTERESSE AN DIESEM POLTERABEND. Diesen Satz sagte ich mir gut und gerne zehn Mal vor, bemerkte aber durchaus, dass ich hier offenbar ein ganz anders Problem hatte, als bisher angenommen. Es ging nicht ausschließlich um Moral oder um die Frage, was Liebe wirklich wert war. Nein, nicht ausschließlich. Vielmehr ging es darum, erstmals wieder in Erwägung zu ziehen, einen Mann einzulassen.

Der Gedanke verwirrte mich. Ich war gerade mal 35 Jahre alt, durchaus attraktiv und hatte doch mit meinem Liebesleben abgeschlossen? Das konnte es ja dann doch nicht sein! In der Therapie hatte ich mich vornehmlich auf meine Heilung konzentriert, dann kam der spirituelle Draht hinzu und eben das Fitnesscenter, um wieder körperlich fit zu werden. Alle drei Komponenten, neben einem Zeit aufwendigen Bürojob, waren intensiv und erforderten meine ganze Konzentration. Trotzdem war mir irgendwie entgangen, dass ich immer noch blockte, was das andere Geschlecht anging. Mein bester Freund war schwul und die einzigen männlichen Anreize reduzierten sich auf das visuelle Tanken im Fitnesscenter. So war ich offenbar immer genug auf meine Kosten gekommen, ohne wirklich Gefahr zu laufen, noch einmal derart falsch in eine Einbahn abzubiegen. Mein Exmann war eine menschliche Totalkatastrophe gewesen und das brauchte mit Sicherheit keine Wiederholung.

Was hatte meine Therapeutin gesagt? Wenn du wieder heil bist, bekommst du auch den richtigen Mann. Aber dafür musst du dir schon Zeit nehmen und vor allem deine Ungeduld herunterschrauben. Seltsam, dass ich das wie einen Freibrief für weiteres Blocken hingenommen hatte.

Gähnend schlüpfte ich aus meinem Gewand und warf es über den nächstbesten Stuhl. Dann stapfte ich ins Bad, erledigte die Abendtoilette im Notprogrammmodus und fiel wie ein Stein ins Bett. Eigentlich war ich viel zu müde, um noch irgendetwas für Francesko oder seinen Freund zu tun, aber sobald ich ausgestreckt da lag, kamen die Bilder ganz automatisch hoch. Franceskos Tränen, seine Verzweiflung. Roman.

Ein wenig unwirsch erhob ich mich wieder, schleppte mich ins Vorzimmer und holte pflichtbewusst das Bild von diesem Mann aus der Tasche. Es war eine Autogrammkarte und er hatte sie sogar unterschrieben.

So ein schöner Mann, dachte ich noch und ließ meinen Blick über das Bild schweifen. Ewig schade um dich. Das Lächeln des Mannes war maskulin und herzlich zugleich. Sein Gesicht, das eines römischen Gottes. Kein Wunder, wenn ihn eine Menge Frauen und vermutlich auch Männer anhimmelten. Solch eine Augenweide war auffällig und ging nicht spurlos an einem vorbei. Vermutlich war der Gedanke unpassend, doch ich war sogar versucht, mir einen Film von ihm zu kaufen, nur um ihn in Aktion zu sehen.

Mit einem müden Seufzer auf den Lippen ging ich wieder zu Bett, machte die Nachttischlampe an und konzentrierte mich auf das Bild. Ich sah dem Mann tief in die Augen und wiederholte die Fakten, die ich von ihm wusste: Roman Baldin, 25 Jahre alt, ledig und Pornostar. Gestern durch einen Autounfall verstorben. Plötzlich und unvorhersehbar aus dem Leben gerissen.

Das Bild verschwamm ein wenig vor meinen Augen und das Gefühl, das ich dabei empfand, war ehrliches Interesse und Mitgefühl. Roman Baldin war so schnell und deutlich zu spüren, dass ich gar keine Zeit hatte es gruselig zu finden. Und das war es ja auch überhaupt nicht. Der Mann war spürbar und auf so eigenartige Weise zu sehen, dass ich es für andere nicht wirklich als sehen hätte beschreiben können. Viel wichtiger war auch, dass er verzweifelt war und ich das ganz klar spüren konnte. Womöglich entsprach das einer unbewussten Erwartung, weil Francesko mir von seinem Traum erzählt hatte, doch ich spürte diesen Verstorbenen und seinen emotionalen Zustand so deutlich, dass es keine Einbildung sein konnte. Angst war überhaupt kein Thema mehr. Vermutlich war der Mann, selbst tot und verzweifelt, noch zu schön und nett, um wahr zu sein.

Wie kann ich dir helfen? ... fragte ich in Gedanken und fühlte mit ihm eine Verbundenheit, die mich glücklich machte. Wie war ich nur je auf die Idee gekommen, Geister könnten gruselig sein? Im Laufe der letzten Woche hatte ich doch längst gelernt, dass alles, was aus reinem Herzen passierte, irgendwie beglückend war. Auf dieser Ebene sprach man auch nicht wirklich mit Worten, sondern mit Bildern und Emotionen. Roman vermittelte mir also das gleiche Gefühl, das er Francesko in seinem Traum geschickt hatte und so konnte ich die vielen Hände der Menschen tatsächlich sehen. Menschen, die ihn anhimmelten und für sich haben wollten. Viele wussten ja nicht einmal, dass er verstorben war und selbst die, die es wussten, klammerten sich fest. Die Gier dahinter konnte ich spüren und die war nun einmal sehr oft Antrieb für unbedachte Handlungen.

Auch ich fand den Mann ja wunderbar und schön, aber ich stand dem Ganzen doch neutral gegenüber. Keine Bewertung und keine Verurteilung, nur das Bedürfnis, den Mann zu erlösen und ihm zu helfen. Und das ging dann überraschend leicht und schnell, denn ich löste einfach all die Hände von seinem Körper, wischte sanft alle klammernden Finger von seinem Körper und befreite so seine Seele von einem Zwischenreich, das ich als solches ja nicht einmal erkannt hätte. Aber darum ging es auch nicht. Es gab offenbar den Bedarf an eben dieser Handlung und für mich war es ein Leichtes das zu tun. Auch wenn ich nicht sagen konnte warum. Es war schlicht nicht wichtig, denn es spürte sich durch und durch richtig an.

Als auch der letzte Arm abgestreift war, lächelte ich dem schönen Mann zu, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und wünschte ihm ALLES GUTE. Das Gefühl dabei war ein solch beglückendes, dass ich vor Freude anfing zu weinen. Und dann kam doch noch ein Anflug von Eigennutz dazu und ich gab ihm zu verstehen, dass er mich durchaus wieder einmal besuchen könnte. Zu meiner Schande dachte ich dabei ganz klar an Sex und entlockte ihm ein göttliches Lächeln und Augenzwinkern, ehe er verschwand und mich mit einem absolut beglückenden Gefühl zurückließ.