1. Kapitel

Ich bin ein Nichts. Ein Niemand.

Meine Seele schwindet mit jedem Tag. Ich bin allein und werde es für den Rest meines Lebens bleiben. Das ist der traurige Stand nach vielen Jahren, die Bilanz meines Lebens und das Ergebnis unzähliger Versuche das Leben zu leben. Zwei gescheiterte Ehen und eine Fehlgeburt haben mich ausgelaugt. Mein Job gibt mir nichts und ich könnte jeden Tag nur heulen und einen Spiegel nach dem anderen zertreten, höre in meiner Fantasie das Glas bersten und den Splitt unter meinen Schuhsohlen knirschen. Denn, ja! Mit Vorstellungskraft bin ich gesegnet. Doch die hilft mir nicht in meiner Depression. Wie ein räudiges Monster hat mich die Krankheit im Griff, schleudert mich mal dort hin, dann wieder in eine andere Richtung. Doch egal, wo ich aufschlage und versuche mich aufzurappeln ... der Grundtenor ist immer der Selbe und lautet: gähnende Leere, grässliche Dunkelheit und ein Leben, das sich zum Kotzen anfühlt.

Allmählich werde ich verrückt. Es ist eine Feststellung, eine logische Konsequenz und der Höhepunkt einer Krankheit, während sich alles um den Tiefpunkt einer Dreißigjährigen dreht. An manchen Tagen frage ich mich, warum mein Körper weiter funktioniert, mein Herz noch schlägt und in gemächlichem Rhythmus Blut durch meinen maroden, übergewichtigen Körper pumpt. Ich bin hässlich, ich bin tot und lebe dennoch. Warum? Warum nur kann mein Körper nicht akzeptieren, dass auf dieser Welt kein Platz für ihn ist?

Betroffen legte meine Therapeutin den Zettel beiseite, nachdem sie ihn mir laut vorgelesen hatte. Den Brief hatte ich ihr vor über zwei Jahren in einem Anflug von ziemlich grässlichem Selbsthass geschrieben.

„So schlimm?“, fragte ich sie und versuchte ein schelmisches Zwinkern, das irgendwie misslang und zu einem Blinzeln wurde, als wäre mir etwas ins Auge gefallen.

„Sehr“, gab sie zur Antwort und hatte tatsächlich Tränen in den Augen. „Zum Glück hast du tolle Fortschritte gemacht, Siena. In 27 Monaten bist du weiter gekommen, als manche in Jahrzehnten. Du bist vielleicht noch nicht ganz heil, aber du stehst so unendlich knapp davor!“

„Danke. Ich habe mich auch sehr bemüht und du hast mir gezeigt, dass ich leben möchte. Und zwar gesund leben möchte.“

„Ja, das ist mir schon aufgefallen“, lachte sie. „Und du siehst auch fabelhaft aus. Kannst du dich noch erinnern? Damals am Beginn deiner Therapie hattest du mehr als fünfzehn Kilogramm Übergewicht, einen fahlen Teint, hängende Schultern und die totale Angst, deine Wohnung zu verlassen.“

„Iiihh. Erinnere mich nicht! Die Angst war höllisch und mein Bauch damals eine echte Katastrophe. Alle Frauen sammeln Fett an den Hüften an, nur bei mir hat sich alles um den Bauch gestaut.“

„Du weißt warum“, meinte Kathrin sanft und sah mich auf eine Weise an, die mir zeigte, wie viel ich mittlerweile dazugelernt hatte. Denn ja! Ich wusste warum ich so viel in mich hineingestopft hatte.

„Ich weiß! Im Bauch sitzen die Emotionen und ich habe mir einen Panzer drumherum aufgebaut. Logisch und nachvollziehbar ... aber deswegen nicht weniger ekelhaft.“

„Ekelhaft ist ein hässliches Wort. Du sprichst zwar von Vergangenem, aber du solltest doch immer möglichst respektvoll von dir sprechen. Du weißt wie schlecht sich negative Beurteilungen für dich auswirken. Aber zu etwas anderem ... was machen denn deine Drachen?“ Kathrins Augen glitzerten vor Interesse und ich spürte wie mein Herz eine Nuance schneller schlug. Dieses Thema war für mich die pure Aufregung.

„Ich bin in Kontakt. Es funktioniert immer noch.“

„Es ist so unglaublich, dass du gelernt hast auf diese Weise mit anderen Wesen zu kommunizieren.“

Unglaublich finde ich eher, dass du mir glaubst“, scherzte ich, denn ein paar meiner Freundinnen hatten mich für völlig irre abgeschrieben.

„Warum nicht? Du bist ein spiritueller Mensch. Die Luft um dich herum knistert förmlich.“

„Echt? Ist mir noch nicht aufgefallen.“

„So viel zum Thema: FAST ganz heil. Du wirst schon noch merken, welche Power du hast. Bist du zum Beispiel wütend, kannst du deine Umgebung durchaus mit einem Blick förmlich niederbrennen. Bist du aber glücklich, kannst du selbst dem Hartgesottensten ein Lächeln hervorlocken. Bei dir ist einfach nichts einfach. Volle Power oder gar nichts, sozusagen.“

„Aber an manchen Tagen ...“, begann ich geknickt und spürte den Rest der Dunkelheit wie ein kriechendes Tier im Hintergrund meines Bewusstseins. Depressionen waren nicht einfach so wegzuschnippen und da ich seit Wochen keine Medikamente mehr nahm, war ich mir nie ganz sicher, ob nicht doch wieder etwas von dem alten Unheil ausbrechen würde. Dabei arbeitete ich jeden Tag an dieser Unsicherheit.

„Papperlapapp! Jeder ist an manchen Tagen nicht gut drauf. Du musst nur aufpassen, dass du nicht noch mal so derart abdriftest, dann wird alles gut. Du willst schließlich die strahlende Magie einer Königin und nicht das Dunkel einer frustrierten, alten Hexe. Schon vergessen?“

„Ja, aber diese Metapher geht mir allmählich auf den Keks.“

„Metapher? Ich weiß nicht wovon du sprichst.“

„Meinst du das etwa ernst? Ich dachte du willst nur bildhaft ausschmücken. Damit ich besser verstehe.“

„Also bitte, Mädchen! Du sprichst auf unbekannten Ebenen mit waschechten Drachen und wunderst dich über meine Formulierung? Du hast die Möglichkeit auf ganz ungewöhnliche Weise zu kommunizieren und glaubst noch immer nicht eine Hexe zu sein?“

„Hm.“

„Magierin, vielleicht?“, lockte sie. „Fee? Göttin?“

„Ach, Quatsch. Ich weiß nicht was ich bin. Ich kapiere nur, dass ich durch diese Therapie immer mehr ich selbst werde und gelernt habe auf meine Gefühle zu achten und mein Feingespür zu schulen.“

„Genau. Du hattest ja auch einen sehr hohen Anspruch.“

„Stimmt. Ich wollte Heilung auf allen Ebenen.“

„Wie bist du nur auf diese Formulierung gekommen?“ Kathrin sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Was ich schon ziemlich witzig fand, weil sie mich so in der Blüte meiner Depression nie angesehen hatte. Lächelnd zuckte ich mit den Schultern.

„Weiß nicht. Eingebung, vielleicht.“

„Eingebung. Ts.“ Sie schnaubte und beugte sich mehr zu mir. „Du warst schon immer eine Hexe. Du hast dich dem nur nie gestellt und bist durch Stillstand und ungelebte Potentiale einfach in eine Krankheit geschlittert. Hättest Du nichts dagegen unternommen, wärst du irgendwann zur schwarzmagischen, alten Furie geworden.“ Kathrin meinte es vollkommen ernst, doch mir war auch nach ein wenig Spaß.

„Aber das war ich doch schon! So kurz nach meiner Scheidung, als sich Georg wie der größte Vollidiot benommen hat, war ich wohl für einen Moment genau dort, wo du mich mit unbehandelter Depression in ein paar Jahren sehen würdest.“

„Stimmt“, gab sie zu. „Da warst du eine Furie. Vielleicht nicht schwarzmagisch, weil dein Potential ja auch erst reifen muss. Aber eine alte Hexe warst du allemal. Gott, hab ich mich vor dir gefürchtet!“

„Was? Wann?“

„Als du das erste Mal zu mir gekommen bist. Du hast ja keine Ahnung, was für eine brachiale Ausstrahlung du hast, wenn du sauer bist. Selbst mein Wolfshund würde seine süßen Ohren anlegen.“ Dazu machte sie ein so betretenes Gesicht, dass ich spontan lachen musste.

„Du hast einen irischen Wolfshund?“, fragte ich spöttisch.

„Ja. Und?“

„Aber du bist die kleinste Person, die ich kenne! Wie kannst du dir so einen Riesentier ins Haus holen? Ich meine ...“ Ich war wirklich kurz sprachlos. „... was frisst der denn so den ganzen Tag lang? Und wenn er so viel frisst, was sch... der dann eigentlich?“

„Also bitte!“ Kurz wirkte sie ein wenig indigniert. „Am liebsten frisst er alte schwarzmagische Weiber und dementsprechend viel scheißt er dann auch.“ Sie hatte offenbar kein Problem damit das Sch-Wort klar auszusprechen. Kathrin lachte vegnügt.

„Ich bin keine Schwarzmagierin und werde auch nie eine sein“, fühlte ich mich bemüßigt klarzustellen.

„Ich weiß. Sonst wärst du nicht meine Patientin. Du bist eine der Guten, aber wie du weißt, kommst du aus einer ganz anderen Ecke.“ Damit spielte sie auf unsere letzte Sitzung an, wo ich in einer Art Vision verstanden hatte, dass ich meinen dunklen Teil annehmen musste, um endlich Zugriff auf mein ganzes Potential zu bekommen. Die Seele musste nun einmal vollständig werden. WIE dunkel sich der Teil dann allerdings dargestellt hatte, war über meinen Horizont gegangen, hatte mich schlicht vom Hocker – oder eigentlich von der Therapiecouch – gefetzt. Voll und ganz. Ich war sowohl psychisch als auch physisch am Hosenboden gelandet und hatte nach Luft geschnappt, weil die dunkle Kraft so klar auf meine Brust gedrückt hatte. Mit ganzer Wucht war mir klar geworden, welche ungeheure Macht ich oder jemand aus meiner Ahnenreihe gehabt haben musste.

„Ach, das!“ Ich zitterte, denn ich war nicht ohne Grund am Boden gelandet. Diese Kraft hatte mich vor die Wahl gestellt sie anzunehmen oder nicht und mir ein JA abgerungen. Ein klares noch dazu. Doch die Gewalt hatte mir die Couch unterm Hintern weggerissen. Hässliche Bilder hatten mich überschwemmt und regelrecht aufgefressen. Klauen, Wurzeln, Fratzen. Alles in windenden, glänzenden Bewegungen. Schwarz, grässlich und irre horrormäßig. Kathrin bemerkte meinen hektischen Blick.

„Schon gut, Siena. Die Angst vor deiner Dunkelheit können wir bearbeiten. Es macht schließlich keinen Sinn, vor sich selber Angst zu haben.“

„Vor mir selber?“, keuchte ich und wischte in Gedanken die Krallen und Zähne beiseite, achtete darauf das dumpfe Gefühl der Schwärze zu übergehen.

„JA, vor dir selber. Es gibt DAS Böse nicht. Das was du spürst und siehst bist du. Es ist ein Teil von dir und es ist eigentlich neutral. Nimm es an! Finde es schön!“

„Schön?“, krächzte ich und zertrat in Gedanken gerade die matschige Zunge eines Zähne fletschenden Monsters. Fantasie konnte durchaus bescheuert ausarten. „Schön! Ja, klar“, spottete ich. „Und dabei habe ich gerade das Bedürfnis dem lieben netten Weihnachtsmann alle Haare vom Leib zu reißen. Auch am Sack.“

„Oh. Angst lässt dich derb werden. Schön.“

„Schön? Schon wieder?“ Ich keuchte immer noch und hatte nun zwei bescheuerte Bilder in meinem Kopf. Einen völlig enthaarten Weihnachtsmann mit Riesensäcken (nur nicht auf seinem Rücken) und ein halb zermatschtes Monster mit einer Flut von gerupften weißen Haaren vom heiligen Mann. Kathrin ergriff meine Hand.

„Siena! Du hast dich entschlossen es anzunehmen. Jetzt musst du aus der Angst heraus treten und sehen, was du mit dem Ding machen kannst. Wie heißt es so schön? Der Fürst der Finsternis, der immer das Böse will und doch stets das Gute erschafft?“

„Was, äh. Check ich grad nicht.“ Ich war verwirrt, aber auch abgelenkt, von dem dreisten Weihnachtsmann, der provokant lächelte und sich an seinen Riesendingern kratzte.

„Jetzt schalt einen Gang runter! Du bist immer gleich so aufgekratzt.“ Ich riss meine Augen auf, weil das Wort so treffend zu meiner Fantasie passte. Doch Kathrin wirkte ein wenig verärgert. „Vergiss diese Hirngespinste! Wir wollen, dass du mit deiner Kraft umgehen lernst und deine Möglichkeiten nicht wahllos verstreust. Also richte deine Visualisierungskraft gefälligst auf das Wesentliche! Schau nicht weg oder flüchte in abstruse Vorstellungen. Konzentriere dich auf das, was du mit der Dunkelheit machen kannst!“ Manchmal hatte ich wirklich den Eindruck, dass sie nicht nur sehr empathisch war, sondern Gedanken lesen konnte. Aber sie hatte ja Recht! Was nutzte es sich mich witzigen Bildern abzulenken, wenn es galt Monster zu beherrschen oder zu akzeptieren!

Ich seufzte laut und versuchte erst einmal Ordnung in mein inneres Chaos zu bringen. Dafür schickte ich den nackten (und kahlen) Weihnachtsmann gleich einmal zum Nordpol und widmete mich den dunklen Scheußlichkeiten, die Zähne bleckend nur darauf warteten mich zu verschlingen. Knarrende Wurzeln, windende Biester, heulende Monster. Was für ein Unsinn! Und wie beängstigend! Uralte Bilder kamen da hoch und noch ältere Zeichen und Symbole. All das spürte ich zwar mehr, als ich sah, aber es war mit Sicherheit real. So viel hatte ich schon gelernt.

Ich musste also in die Angst hinein und mit genug Vorstellungskraft war wirklich viel möglich. Nun denn ... schrie ich in Gedanken und straffte meine Schultern, reckte das Kinn. Meine Innenschau richtete sich auf das Unvermeidliche, fokussierte das Dunkle, stellte sich den Biestern und ... begann sie zu streicheln.