7. Kapitel
- Thor -
Ich schlug in den Körper ein, als gäbe es kein Morgen. Die Schmerzen waren unvorstellbar, doch am meisten machte mir die Begrenzung zu schaffen und das so klare Unterscheiden von Innen und Außen.
Scheiße! Hätte ich mich rechtzeitig erinnert, wie eng solch ein Körper aus Fleisch und Blut war, hätte ich mir das mit dem Ausflug vielleicht noch einmal überlegt. Jeder Knochen im Leib tat mir weh, jeder Muskel und jeder Nerv. Meine Augen konnte ich kaum öffnen, weil alles zu hell und stechend war. Dieser Körper war so schmerzlich überempfindlich, dass ich gar nicht anders konnte, als laut loszubrüllen. Ich schimpfte auf Odin, das Universum und auf meine Gott verdammte Neugierde. Odins Lachen dröhnte in meinem Hinterkopf.
Du hast es so gewollt, mein Sohn! Jetzt bist du sterblich und in einem menschlichen Körper. Wegen der Schmerzen kannst du mir kaum einen Vorwurf machen, immerhin habe ich dir einen prächtigen, sehr männlichen Körper besorgt. Das alleine war schon eine magische Meisterleistung, meinst du nicht?
Ich knirschte mit den Zähnen, weil ich solche Schmerzen hatte, dass ich nicht einmal in Gedanken antworten konnte. Er schien es zu begreifen oder sowieso keine Antwort zu erwarten.
Die Zeit, die dir zur Verfügung steht, kann ich nicht benennen. Dafür hatte ich schon viel zu lange nichts mehr mit Zeit an sich zu tun. Aber das kann im Prinzip nicht wirklich wichtig sein. Notfalls bleibst du eben die ganze Lebensspanne dieses Körpers auf Erden, wirst alt und grau. Wie dein Daddy eben, ist doch kein Ding! Er lachte wie ein Vater, der seinem Sohn gerade einen Streich spielt und ich knirschte erneut mit den Zähnen. Also dann suche das auf Erden, was du mir nicht wirklich verraten wolltest und dann ... werde glücklich mit ihr. He he, schätze ich habe gerade durchblicken lassen, dass ich weiß, worum es geht. Söhnchen, Söhnchen. Dein Vater ist nun einmal allwissend. Schon vergessen?
Ich fluchte und krümmte mich unter Schmerzen. Am meisten ärgerte mich der Hohn meines Vaters. Hoffentlich hatte er mir nicht auch noch mit meinem neuen Körper einen Streich gespielt. Zuzutrauen wäre ihm freilich alles, von Kleinwuchs über Haarlosigkeit bis hin zu Schweißfüßen. Doch ein bisschen etwas konnte ich mittlerweile von mir und meinem neuen Menschsein schon erkennen. Ich war groß und massig, das spürte ich mehr, als ich sehen konnte, denn der Anblick der Welt war noch zu grell für meine neuen Augen.
„Bei allen Göttern, Odin! Hättest du mich nicht vorwarnen können, wie schmerzhaft das ist? Heilige Scheiße von Asgard!“ Doch Odin lachte nur lauthals in meinen Hinterkopf hinein und rieb sich vermutlich genüsslich über seine astralen Schenkel. So viel Spaß hatte er mit Sicherheit schon lange nicht mehr gehabt. Keine Ahnung was ihn dazu trieb seinen eigenen Sohn derart zu veräppeln. Und ich hatte hier immerhin kaum Zugriff auf meine Göttlichkeit. Der menschliche Körper machte nämlich ganz seltsame Sachen mit mir, schnürte mich nicht nur ein und schmerzte, sondern hielt mich doch tatsächlich vom Kollektiv fern. Wie eigenartig! Vielleicht konnten die Menschen ja gar nichts dafür, dass sie die Straße der Gemeinsamkeit nicht mehr beachteten. Selbst mein Körper verhinderte ja offenbar das selbstverständliche Andocken ans universelle Netz. Aber warum?
MATERIE mein Sohn! Ganz einfach Materie. Du hast dich gewundert, warum die Menschen unser Netz nicht mehr speisen. Nun finde es selbst heraus und geh! Und wundere dich nicht, wenn dich diese Materie ein wenig ablenkt. Das ist vermutlich ganz normal, aber es ist eine Ewigkeit her, dass ich auf Erden wandelte. Also Sohn! Mach mir keine Schande und stiehl nicht jeden Hammer, der dir unter die Finger kommt. Mjölnir ist nämlich jetzt bei mir und du bekommst ihn erst wieder, wenn du zurückkommst. Zuviel Göttlichkeit in einem einfachen Menschenkörper ist vor allem am Anfang nicht sinnvoll. Dann lachte er so lauthals drauf los, dass ich mir meinen Schädel halten musste. Die Schmerzen waren unerträglich, doch noch viel unerträglicher war der Spott meines Vaters.
Erst nach einer geraumen Weile hatte ich mich akklimatisiert und meinen Körper voll und ganz akzeptiert. Die Enge war immer noch bedrückend, aber ich war auch ganz begeistert von der Vielfalt der Sinneseindrücke. Ich hatte ja ganz vergessen, wie schön es ist zu hören, zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Meine Fingerkuppen waren überempfindlich, aber auf gute Weise. Meine Augen sahen klar und scharf und die Helligkeit setzte mir nicht mehr so zu. Meine Haut war weich und ein wunderbarer Schutz für mein Innerstes. Ich lag in einer Wiese, war umringt von ein paar Bäumen und konnte doch viel blauen Himmel sehen. Dazu roch es gut nach Natur und das erste Gänseblümchen neben mir schmeckte einfach köstlich. Ist das Wien? Ich dachte Wien wäre eine Stadt? Langsam hob ich meinen Kopf und blickte rundum. Allem Anschein nach befand ich mich in einem Park.
Stadtpark, dritter Bezirk von Wien ... antwortete Odin ungefragt in meinem Hinterkopf.
„Na toll! Bist du jetzt immer in meinem Schädel?“, fragte ich säuerlich und versuchte die Präsenz meines Vaters aus meinem Bewusstsein zu drängen.
Ho, ho, ho. Junge, nicht so aggressiv! Am Anfang wirst du väterlichen Beistand benötigen. Du bist schon lange kein Mensch mehr gewesen, kennst Wien nicht und weißt noch weniger über diese Zeit. Am besten du setzt dich einmal auf die Bank dort und dann reden wir.
„Wir reden?“, zischte ich und bemerkte den seltsamen Blick eines Mannes, der gerade an mir vorbeiging. Offenbar hielt er mich für einen Obdachlosen, der mit sich selbst redete. Die Wut, die bei seinem Blick in mir aufstieg, war die eines Kriegers und ich dankte Odin in dem Moment, dass er mich meine Göttlichkeit kaum spüren ließ. Sonst hätte ich Mjölnir, meinen Hammer, zu mir befohlen und dem arroganten Schnösel kurz einmal den Schädel eingeschlagen. Wer sagte schon, dass wir Götter immer ausgeglichen sein mussten? Schließlich war die Situation ziemlich neu für mich und mein Körper zudem etwas ungewohnt. Odin lachte schon wieder in meinem Kopf und schien mir auf überirdische Weise zuzuzwinkern.
Schon gut mein Sohn. Zuerst einmal musst du dich an dieses Leben hier gewöhnen und an die vielen Menschen, die alle nicht mehr leichtfertig in den Krieg ziehen. Du musst dich in Geduld üben, darfst nicht gleich kriegerisch denken und ... brauchst erst einmal eine Wohnung, Kleidung, einen Pass und einen Job.
„Wie bitte?“, fragte ich, weil ich kein Wort verstand. Offenbar hatte sich mein Vater doch mehr mit den Menschen auseinandergesetzt, als ich gedacht hatte, denn mir waren alle diese Begriffe fremd. Nein, eigentlich waren sie mir zuwider. Selbst wenn ich nicht wusste warum. Odin lachte schon wieder und ich wurde allmählich wirklich ärgerlich.
„WAS???“, brüllte ich gen Himmel und erreichte damit nur, dass sich sämtliche Parkbesucher in sichtbarer Nähe zu mir umdrehten. Allmählich verstand ich auch warum. Ich war gegen diese Winzlinge ein Riese. Dazu trug ich zwar Kleidung, aber die wirkte verschlissen, dünn und viel zu wenig. Hatte sich mein Vater doch einen bösen Streich ausgedacht? Wut bahnte sich ihren Weg von meinem Zentrum durch meinen ganzen, menschlichen Körper. Ich fühlte mich zwar erstaunlich fit und stark, aber die Beschränkung, die dieser Körper mit sich brachte, ging mir furchtbar auf den Sack. Allmählich richtete ich mich zu meiner ganzen Größe auf, schüttelte mein Haar und befreite es von Blättern oder anderem Tand. Die Menschen um mich herum senkten ihren Blick und das war gut so. Sollten sie mich ruhig fürchten und vielleicht verehren oder auch beneiden. Ich war ordentlich geladen, brummig und nicht gewillt Respektlosigkeit einfach so hinzunehmen.
„Der ist doch irre. Jemand sollte die Polizei rufen“, hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir und drehte mich langsam – ganz langsam – zu ihr um. Ein Blick genügte und dieses Frauenzimmer hielt sofort den Mund. Dann sah ich noch weiter rundum und forderte jeden mit meinem Blick heraus. Ich war immer nur ein Krieger gewesen und solch ein Verhaltensmuster ließ sich nicht so einfach ablegen. Schon gar nicht, wenn man nach so vielen Jahrhunderten wieder als Mensch den Boden dieser Erde berührte.
ERDE.
Nach den Frauen, war die Natur das Schönste, was ich in Erinnerung hatte. Die Pflanzen, die Tiere, die Erde an sich. Mutter Natur. Mutter. Okay, vermutlich hatte ich immer schon einen ziemlichen Frauentick gehabt. Ich grinste und schenkte der Dame, die ich zum Schweigen gebracht hatte ein nett gemeintes Augenzwinkern. Allen Regeln zum Trotz griff sie sich jedoch an ihre linke Brust und schien die Versöhnungsgeste kaum zu überstehen. Entweder war ich in diesem Leben hässlich wie die Nacht oder einfach selbst charmant noch zu furchteinflößend. Gut, das würde sich in den nächsten Stunden sicher herausfinden lassen. Ich musste nur mein Aggressionspotential in den Griff bekommen, meinen Charme spielen lassen und dann ... hm? ... weswegen war ich noch schnell hier? Verdammt! Dieser Körper lenkte wirklich enorm von allen Wichtigkeiten ab. Aber wie auch nicht? Meine Finger fuhren unentwegt über die Haut meiner Unterarme und dabei konnte ich nicht einmal sagen welches Gefühl ich spannender fand ... das auf den Fingerkuppen oder das auf meinen Unterarmen. Der helle Haarflaum auf meiner Haut war auch nicht zu verachten.
Konzentration, Sohn .. mahnte mich mein Vater und ich fühlte mich ertappt, zwang meine Hände energisch zur Ruhe. Dabei spürte ich richtig wie Odin in die Weite des Universums grinste.
„Gut, Vater! Du hattest deinen Spaß. Nun beruhige all diese Leute und zeige mir wo ich zu leben habe, wie ich zu anständiger Kleidung komme und ...“
Du trägst anständige Kleidung. Dieses Gewand ist jetzt modern. Man nennt es Jeans und ein T-Shirt. Selbst diese Tennisschuhe sind cool, habe ich mir sagen lassen. Wieder dieses tiefe Lachen mit einem deutlichen Hauch von Spott. Doch dieses Mal ließ ich mich nicht provozieren.
„Okay, Vater. Ich gebe es hiermit offiziell zu: Ich habe dich unterschätzt! Ich dachte du wüsstest nichts mehr von den Menschen und von der Welt an sich. Dafür entschuldige ich mich.“
Hochmut kommt eben vor dem Fall ... in dem Fall eben in den Stadtpark, lachte er. Aber ich danke dir für deine Worte, Sohn. Sie machen mich stolz, obgleich mir immer noch nach Schabernack ist.
„Schon gut! Ich habe verstanden, Vater, und ich werde mich wirklich bemühen, die neue Zeit studieren und mich anpassen, damit ich so rasch als möglich mit meiner Suche beginnen kann.“
Vorausgesetzt dir fällt noch ein wonach du eigentlich suchst ... ätzte er und ich musste meine Augen schließen und bis zehn zählen. Natürlich war ich verwirrt, vielleicht auch ein wenig überfordert und vollkommen überreizt von der Herrlichkeit dieses Körpers, aber mein Vater und dieser Körper würden mich nicht besiegen. Nicht in dieser Angelegenheit.
Schließlich war ich Thor, ein Krieger und gewohnt zu kämpfen. Außerdem hatte ich noch nie eine essentielle Schlacht verloren.