6. Kapitel

„Ich möchte davon nichts hören“, zeterte meine Mutter. „Seit dem Tod deines Vaters – Gott hab‘ ihn selig – kann ich mit Humbug nichts anfangen. Und Drachen sind nichts anderes als Humbug, meine Liebe.“

„Wer hat etwas von Drachen gesagt, Mama? Ich habe dir von einem Verstorbenen erzählt. Aber wie es scheint hörst du nicht zu oder bist von früheren Geschichten mit meinen Drachen nachhaltig beeindruckt. Aber das verstehe ich, denn dass man mit Drachen tanzen kann, hat dich wohl verblüfft.“ Ich kicherte, weil ich wusste, wie schockiert sie gewesen war, als ich ihr vor Monaten das erste Mal davon erzählt hatte. Damals hatte ich noch von einem Traum gesprochen, doch irgendwann war ich damit herausgerückt, dass diese Erlebnisse für mich real waren. Wenn ich mir nämlich vorstellte wie ein Drache zu atmen, seinen Körper dabei visualisierte und so schlängelte und flog wie er, dann passierten mit der Zeit ganz ungewöhnliche Dinge. Es war so ein schleichendes Hinübergleiten in eine andere Ebene, auf der ich mich letztendlich wirklich wie einer von ihnen fühlte. Ich atmete also nicht nur so wie einer, ich WAR einer von ihnen und kommunizierte mit ihnen. Ganz leicht und ganz selbstverständlich. Das war keine Spinnerei oder nur Fantasie, denn diese Kommunikation fand tatsächlich statt, wenn auch nicht immer mit Worten, sondern vor allem mit Bildern und Gefühlen. Und Drachen waren einfach nur faszinierend, so unglaublich machtvoll, alt oder jung, schön und weise. Sie hin und wieder zu spüren war eine Bereicherung, durchflutete mich mit Kraft und Leidenschaft. Diese Geschöpfe stammten aus meiner Urzeit und waren irgendwie auch der beste Anker für mich zur Mutter Erde. Sie vertrauten mir und ich ihnen. Nur meine eigene Mutter traute mir diesbezüglich nicht. Sie hatte Angst vor allzu fantastischen Möglichkeiten, brauchte Begrenzung und eine gewisse Ordnung.

„Von Geistern will ich noch weniger hören! Ich will endlich wissen, ob du einen richtigen Mann an deiner Seite hast. Von mir aus auch nur zwischen deinen Schenkeln. Hauptsache den Mann gibt es wirklich.“

„Mama“, rief ich schockiert und war versucht das Telefon einfach wegzuhalten. Wenn sie so plump auf Männer zu sprechen kam, hatte sie selbst vermutlich gerade so etwas wie Entzugserscheinungen oder auch nur die pure Angst, dass ich verrückt werden könnte.

„Was ist? Ich kann dir nur sagen, du brauchst eine Beziehung, guten Sex, nette Gespräche. Eine Basis eben.“ Ich kicherte frech in den Apparat.

„Mama! Könnte es sein, dass du das gerade brauchst? Ich weiß schon, du liebst Papa immer noch und er ist noch keine fünf Jahre von uns gegangen, aber die Sehnsucht, die du so klar aussprichst, ist zurzeit nicht meine. Ich habe eine Basis und die besteht derzeit halt auch ohne Sex. Eigentlich glaube ich sogar, dass mich nichts so erfüllen kann, wie mein neuer Weg. Spiritueller Heilung und so, du verstehst? Mama, vielleicht mache ich ja sogar eine schamanische Ausbildung, was meinst du?“ Was wusste ich, warum ich bei ihr manchmal das Bedürfnis hatte, noch ein Schäufelchen nachzulegen. Aber ich hatte das Bedürfnis sie aus der Reserve zu locken und zugleich auf meine Seite zu ziehen. Ich wünschte mir so sehr ihr Interesse, ihr Verständnis und ihr Vertrauen.

„Was? Hast du etwa einen Indianer zum Freund? Oder wirst du jetzt gar eine Hexe? Ich kann dir nur sagen, was sie mit dir im Mittelalter gemacht hätten ...“ Ich lachte schon wieder. Wie oft hatte sie mir das wohl schon gesagt?

„Lach nicht so! Auch heute gibt es noch genug Menschen, die dafür kein Verständnis haben und Pfarrer Bernd hat gesagt ...“

„Mama bitte! Mir ist so egal was der Mann sagt. Er vertritt einen Glauben, der die Ehe in seinem Berufsstand verbietet und trotzdem meint etwas über Partnerschaften erklären zu können. Außerdem hat er Kondome als Sünde bezeichnet. Verstehst du nicht? Pfarrer Bernd ist auf seine Weise schon nett, aber auch weltfremd. Er gibt dir nur das Gefühl, dass du eine brave Kirchengeherin bist, weil du jeden Sonntag bei ihm auftauchst und das ist ja auch okay, aber er hat keine Ahnung über wahre Spiritualität.“ Das Seufzen am anderen Ende zeigte mir, dass ich es wieder einmal übertrieben hatte. Meine Mutter liebte diesen kleinen, dicken Pfarrer.

„Ach, Siena! Diese Diskussionen sind müßig. Ich weiß du magst ihn nicht und er ist schon auch irgendwie schrullig. Aber er hat mir geholfen über den Tod deines Vaters hinwegzukommen.“

„Das weiß ich doch Mama und das rechne ich ihm hoch an. Ehrlich. Aber mit mir und meinem Leben hat das nicht viel zu tun. Sorry.“ Ich seufzte. „Aber egal! Wann sehen wir uns wieder? Können wir mal auf einen Kaffee gehen? Aber bitte ohne Kupplungsversuch.“ Die letzten Male hatte sie entweder ständig Hinweise auf Internetplattformen zur Partnervermittlung gegeben oder sogar potentielle Kandidaten direkt im Schlepptau gehabt ... mit fadenscheinigen Ausreden auf ihren Lippen. „Schau mal Kleines, mein Nachbar hatte gerade Zeit!“ oder „Stell dir vor, wen ich gerade zufällig getroffen habe.“ So etwas in der Art eben. Doch alle Kandidaten waren meist zu alt gewesen, eher konservativ und irgendwie verschroben. Gereizt hatte mich davon noch nie einer, maximal an meine Depression erinnert.

Es klingelte an meiner Tür.

„Du, Mama ich muss auflegen. Morgen um 16.00 Uhr? Übliches Café? Okay, bis dann. Tschüss!“ Das Klingeln wurde aufdringlicher und ich legte das Handy zur Seite. „Ja, ja! Ich komme ja schon.“ Als ich öffnete staunte ich nicht schlecht, weil es keine Verabredung gegeben hatte oder eine Vereinbarung, dass ich mich heute melden sollte.

„Francesko? Ja, wie ... ach, komm doch herein!“

„Tut mir leid, dass ich einfach so unangemeldet auftauche, aber du warst heute nicht trainieren und angerufen hast du auch nicht und da wollte ich fragen ...“

„Ja, klar. Schon in Ordnung. Ich wollte heute trainieren, musste dann aber so elend lange arbeiten, dass ich zu erledigt war. Sorry.“ Insgeheim ärgerte ich mich, dass ich vor lauter Arbeit etwas so Wichtiges wie Franceskos Seelenheil vergessen hatte. Immerhin hätte ich ihm sagen können, dass ich mit Roman in der Nacht ein gutes Gefühl gehabt hatte. „Und stimmt ... ich hätte mich telefonisch melden können. Hm. Ist denn etwas passiert? Hattest du wieder einen schlimmen Traum?“ Automatisch zog ich ihn weiter in meine Wohnung, verschloss die Haustüre und ging mit ihm zum Essbereich. Francesko blieb stumm, schlüpfte aber aus seiner Jacke und aus seinen Schuhen.

„Ein Glas Wein?“, fragte ich, weil ich nicht wusste, was mit ihm los war und davon ausging, dass er mit seiner Trauer noch nicht fertig wurde. Einen Freund zu verlieren, ging sicher an die Nieren. Francesko gab jedoch keine Antwort, sah mich aus dunklen Augen lange an und nahm mich dann spontan in den Arm. Ich wusste gar nicht wie mir geschah, denn – auch wenn wir gute Freunde waren – hatte es bei uns nie dieses blöde Bussi-Bussi-Gehabe oder innige Umarmungen gegeben.

„Hey! Gehst dir so schlecht?“, seufzte ich und drückte den breiten Kerl fest an mich. Francesko war nicht so groß wie andere, aber doch ein paar Zentimeter größer als ich und – wie gesagt – wirklich super trainiert. Die Umarmung fühlte sich überraschend gut an. Bis ich bemerkte, dass er wieder weinte.

Ach, mein Gott ... seufzte ich im Stillen, weil ich gar nicht wusste wie ich diesen Berg von Mann beruhigen und trösten konnte, ohne gleich selbst wieder das heulende Elend zu werden.

„Nein ... es ist anders“, schluchzte er und er schluchzte wirklich! Mein Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen.

„Anders?“, fragte ich und streichelte seinen Rücken, wollte noch etwas über Roman sagen und über Trauerarbeit, doch Francesko fing sich wieder und löste die Umarmung. Er schob mich sogar ein Stück von sich, um mir besser in die Augen sehen zu können. Er starrte so intensiv, dass ich Gänsehaut davon bekam.

„Du bist ein Engel“, sagte er und das mit einer Überzeugung in der Stimme, die mich total überrollte. Ich schluckte hart und konnte mir gar nicht erklären, warum mich das so betroffen machte. Francesko war ein Freund, er würde niemals mehr sein und er wollte es auch sicher nicht. Oder? ... der kleine Quergedanke entsprang meiner Angst, beziehungsgestört zu sein und ihn als Freund zu verlieren.

„Wieso?“, krächzte ich, weil ich es nicht leiden konnte Angst zu fühlen.

„Du hast ihn gerettet“, antwortete er und das was ich nun ganz klar in seinen Augen sehen konnte, war Liebe. Reine, freundschaftliche Liebe. Ich fing ebenfalls an zu heulen.

„Aber woher weißt du das? Ich meine ... ICH spüre das immer, aber woher du?“ Schlagartig war mir klar geworden, dass er meine Arbeit mit Roman meinte. Doch ich konnte gar nicht begreifen, woher er das wusste. Gut, er war offenbar doch empathischer als herkömmliche Männer, aber meine spirituelle Reise zu Romans Seele war nur mein Ding gewesen und einen anderen Menschen hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht gespürt ... bis auf die tausenden Fans vielleicht, die ihn festgehalten hatten. Aber das konnte Francesko doch nicht wissen, oder?

„Ich war dabei.“

„Was?“ Meine Stimme krächzte immer noch, als wäre ich heiser.

„Ich war einfach dabei, Schätzchen, als du ihn befreit hast. Verstehst du nicht? Ich war eines der Arschlöcher, die ihn festgehalten haben, ich habe ihn ...“ Seine Stimme brach und er wischte sich ein paar Tränen vom Gesicht. „... ich habe ihn mit meiner Liebe gequält.“ Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Francesko musste einer aus der Masse gewesen sein, einer der vielen Anhänger von Roman, der ihm unabsichtlich den Aufstieg in höhere Ebenen verwehrt hatte. Und irgendwie hatte der gute Francesko das ganze Ritual voll mitbekommen. Sofort zog ich ihn wieder in meine Arme.

„Ach, du Dummkopf! Dich trifft doch keine Schuld! Komm her du lieber, lieber Mann.“ Francesko stürzte sich förmlich in meine Arme und begann erneut zu heulen.

„Aber ich habe ihm weh getan. Ich war Ursache seines Leids! Kannst du dir das vorstellen? Mann, ich habe den Kerl vergöttert und dann tue ich ihm DAS an.“

„Gott, sei nicht so blöd, Francesko!“ Das kam freilich schneller heraus als beabsichtigt, aber ich wollte ihm einen raschen Stopp verpassen. Ich hasste Selbstzerfleischung, denn davon hatte ich in den letzten Jahren selbst genug geliefert. „Du hast diesen wunderbaren Menschen angehimmelt und daran ist nichts verwerflich. Hörst du? NICHTS! Du konntest doch nicht ahnen, dass ihn das auf seinem Weg behindert. Und warum glaubst du hat er wohl gerade DIR diesen Traum geschickt? Er wusste einfach was für ein netter Kerl du bist!“ Francesko stöhnte und löste sich aus meiner Umarmung.

„Meinst du echt?“ Seine dunkelbraunen Augen sahen traurig zu mir herab, suchten nach der Wahrheit. „Meinst du er hat erkannt, dass ich ihm helfen könnte?“

„Natürlich! Entschuldige mal ... habe ich etwa von ihm geträumt oder du?“, fragte ich schnippisch und er schnaubte.

„Du kanntest ihn ja nicht mal.“

„Na und? Er hat trotzdem DICH erwählt und das ist eine Ehre, denn er hat dein Potential erkannt. Du hast ihn vielleicht kurz festgehalten, aber du hast ihn auch gerettet, Süßer!“ Francesko biss sich auf die Unterlippe und begann erneut zu weinen. Automatisch zog ich ihn wieder in meine Arme, auch wenn das ein komisches Hin und Her war.

„Du meinst das ernst, das kann ich sehen. Siena, du kannst dir nicht vorstellen, was mir das bedeutet! Du bist so unbeschreiblich gut ... ich kann dir nur für alle Zeiten danken.“

„Komm schon, Franz!“ Ich wollte ihn absichtlich mit seinem richtigen Namen aufziehen, damit er wieder mehr Bodenhaftung bekam. „Übertreibe es nicht! Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, nicht mehr und nicht weniger. Und ich habe Romans Anwesenheit echt genossen. Er war vielleicht einmal ein Pornostar, aber er war auch ein großartiger Mann mit einer schönen Seele und ... unglaublich sexy.“ Endlich konnte Francesko lachen.

„Ja, das war er, verdammte Scheiße. Warum glaubst du wohl, war ich so vernarrt in ihn, obwohl er hetero war? Und jetzt ... jetzt habe ich das Gefühl, dass es ihm gut geht. Danke Siena! Danke, Danke und nochmals Danke.“

„Ach, lass doch endlich gut sein. Ich habe das sehr genossen.“

„Aber wie hast du all die Hände weggebracht?“, fragte er ehrlich erstaunt.

„Keine Ahnung, ich habe sie einfach abgestreift. Keine Beurteilung, keine Bewertung ... nur Befreiung. Es war wirklich eine schöne Sache.“ Francesko schluckte laut und sein Blick war so eindringlich, dass ich schon wieder Gänsehaut bekam.

„Und wo ist er jetzt?“, fragte er schließlich. „Ich kann ihn nämlich nicht mehr spüren.“

„Das weiß ich leider auch nicht. Er ist irgendwie aufgestiegen, das habe ich gefühlt. Aber das sind eben derart hohe Gefilde, da kenne ich mich nicht aus. Schätze mal er ist im Himmel oder bei den Göttern. Vielleicht ist er auch ein Engel oder selbst ein Gott geworden.“