8
Es schien, als beteilige sich fast das ganze Dorf an der Suche. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätten die Leute vielleicht gedacht, dass Lyn Metcalf aus eigenem Antrieb verschwunden war. Man sagte zwar, dass sie und Marcus eine recht glückliche Ehe führten. Aber man konnte nie wissen. Da sie jedoch direkt nach dem Mord an einer anderen Frau verschwunden war, nahm der Vorfall sofort eine wesentlich düsterere Dimension an. Und während die Polizei ihre Anstrengungen auf den Wald und das Gebiet konzentrierte, in dem sie laufen gegangen war, wollte praktisch jeder, der gesund und munter war, helfen, sie zu finden.
Es war ein herrlicher Sommerabend. Während die Sonne sich am Himmel senkte und Schwalben durch die Luft segelten und die Gemeinde eine seltene Einheit und Entschlossenheit zeigte, hätte man die Atmosphäre fast festlich nennen können. Aber lange konnte niemand vergessen, warum man hier draußen war. Und hinzu kam eine weitere, schwer zu verdauende Gewissheit.
Der Mörder war einer von ihnen.
Unmöglich konnte man weiterhin einen Außenstehenden beschuldigen. Jetzt nicht mehr. Es konnte kaum ein Unglück und mit Sicherheit kein Zufall sein, dass die beiden Frauen aus dem gleichen Dorf stammten. Niemand konnte glauben, dass ein Fremder nach dem Mord an Sally Palmer entweder geblieben oder zurückgekehrt war, um ein zweites Opfer zu fordern. Und das bedeutete, dass derjenige, der eine Frau niedergemetzelt und einen Draht über einen Waldweg gespannt hatte, um eine weitere in seine Gewalt zu bringen, aus der Gegend sein musste. Es bestand die Möglichkeit, dass es jemand aus einem Nachbardorf gewesen war, aber da fragte man sich doch, warum beide Taten in Manham ausgeführt worden waren. Die Alternative war gleichzeitig wahrscheinlicher und beängstigender. Dass wir nämlich nicht nur die beiden Frauen kannten, sondern auch die Bestie, die für diese Verbrechen verantwortlich war.
Die Saat dieser Erkenntnis war bereits gelegt, als die Leute ausströmten, um nach Lyn Metcalf zu suchen. Und obwohl sie erst zu gedeihen begann, schlug sie schon Triebe. Man spürte es in der leichten Distanz, mit der sich die Menschen begegneten. Jeder wusste von Mordfällen, bei denen sich der Täter an der Suche beteiligt hatte. Fälle, bei denen der Täter öffentlich Abscheu und Mitleid geäußert und sogar Krokodilstränen vergossen hatte, während das Blut des Opfers an seinen Händen kaum getrocknet war und die letzten Schreie und das letzte Flehen noch in seinen Ohren nachklangen. Und so wurde die Solidarität, die Manham als Gemeinde zeigte, bereits von innen ausgehöhlt, als die Bürger des Ortes durch das lange Gras stocherten und unter jeden Busch schauten.
Ich hatte mich der Suche angeschlossen, sobald die Abendsprechstunde beendet war. Das Epizentrum war ein Wohnwagen der Polizei, der so nah am Wald, in dem Marcus Metcalf die Stoppuhr seiner Frau gefunden hatte, abgestellt worden war, wie es die Straße erlaubte. Sie lag am Rande des Dorfes, die Hecken auf beiden Seiten waren über eine Strecke von einer Viertelmeile mit Autos zugeparkt worden.
Manche Leute waren einfach auf eigene Faust aufgebrochen, die Mehrheit war jedoch, angezogen von der hektischen Betriebsamkeit, hierher gekommen. Ein paar Journalisten waren auch da, aber nur die der Regionalpresse. Zu diesem Zeitpunkt hatten die überregionalen Zeitungen die Geschichte noch nicht aufgenommen, vielleicht hatten sie auch das Gefühl, dass eine ermordete Frau und eine weitere, die entführt worden war, keine besondere Nachricht wert waren. Das sollte sich bald ändern, doch für den Moment konnte Manham der Suche noch in relativer Anonymität nachgehen.
Die Polizei hatte eine Tafel aufgestellt, um die öffentliche Suche zu koordinieren. Das Ganze war auch eine PR-Maßnahme, die der Gemeinde das Gefühl geben sollte, nicht untätig zu sein. Außerdem wollte man dafür Sorge tragen, dass die Freiwilligen den Beamten nicht im Wege waren. Die Gegend um Manham war jedoch eine derartige Wildnis, dass sie unmöglich vollständig abgesucht werden konnte. Sie konnte die Suchteams wie einen Schwamm aufsaugen, ohne jemals ihre Geheimnisse preiszugeben.
Ich sah Marcus Metcalf in einer Gruppe Männer stehen und dennoch etwas abseits von ihnen. Er hatte die typischen Muskeln eines Handwerkers und ein Gesicht, das unter normalen Umständen angenehm und freundlich unter einem dichten, blonden Haarschopf hervorschaute. Jetzt sah er abgespannt aus, seine gebräunten Züge waren blass. Neben ihm stand Scarsdale, der Pfarrer, der endlich eine Situation gefunden hatte, die zu seiner strengen Miene passte. Ich überlegte, ob ich hinübergehen sollte, um … was? Mein Mitgefühl auszusprechen? Mein Beileid? Doch alles, was ich hätte sagen können, kam mir hohl und leer vor, und die Erinnerung daran, wie wenig Wert ich auf die verlegenen Beileidsbekundungen nahezu fremder Menschen gelegt hatte, hielt mich davon ab. Stattdessen ließ ich ihn in der Obhut des Pfarrers und ging geradewegs zu der Tafel, um mir sagen zu lassen, wo ich suchen sollte.
Es war eine Entscheidung, die ich später bereuen sollte.
Ein paar unproduktive Stunden lang trottete ich als Teil einer Gruppe, zu der auch Rupert Sutton gehörte, über einen sumpfigen Acker. Er schien froh zu sein, eine Ausrede zu haben, seine dominante Mutter los zu sein. Seine massige Gestalt machte es ihm nicht leicht, mit uns anderen Schritt zu halten, doch er gab nicht auf und atmete schwer durch den Mund, während wir uns langsam durch die unwirtliche Landschaft arbeiteten und versuchten, die sumpfigeren Abschnitte zu umgehen. Einmal rutschte er aus, stolperte und fiel auf die Knie. Sein schwitzender Körper strömte einen tierischen Geruch aus, als ich ihm aufhalf.
»Scheiße«, keuchte er mit einem vor Verlegenheit rot angelaufenen Gesicht, als er auf den Schlamm starrte, der seine Hände wie schwarze Handschuhe bedeckte. Seine Stimme war überraschend hoch, beinahe mädchenhaft. »Scheiße«, wiederholte er immer wieder und blinzelte wütend.
Ansonsten wurde wenig gesprochen. Als die einsetzende Abenddämmerung die weitere Suche unsinnig machte, gaben wir unsere Bemühungen auf und gingen zurück. Die allgemeine Stimmung war so düster wie die dunkler werdende Landschaft. Ich wusste, dass viele Helfer im Black Lamb Halt machen würden, eher aus dem Bedürfnis nach Gesellschaft als nach Alkohol. Ich wäre beinahe geradewegs nach Hause gefahren. Aber ich hatte an diesem Abend genauso wenig Lust, allein zu sein, wie alle anderen. Ich parkte vor dem Pub und ging hinein.
Abgesehen von der Kirche war das Black Lamb das älteste Gebäude im Dorf, dazu eines der wenigen, das ein traditionelles Strohdach hatte. In jedem anderen Ort in den Broads wäre es niedlich herausgeputzt worden, da in Manham jedoch nur die Einheimischen zufrieden gestellt werden mussten, wurde kein ernsthafter Versuch unternommen, seinen langsamen Verfall aufzuhalten. Das Strohdach begann allmählich zu schimmeln und der ungestrichene Putz der Mauern war rissig und fleckig.
An diesem Abend war in dem Pub eine Menge los, auch wenn ganz und gar keine Partyatmosphäre herrschte. Mir wurde ernst zugenickt, die Gespräche waren leise und gedrückt. Der Wirt sah stumm auf, als ich an die Theke kam. Er war auf einem Auge blind, der milchige Schleier verstärkte seine Ähnlichkeit mit einem alten Labrador.
»Ein Pint, bitte, Jack.«
»Haben Sie an der Suche teilgenommen?«, fragte er, während er das Glas vor mir abstellte. Als ich nickte, schob er mein Geld zurück. »Aufs Haus.«
Kaum hatte ich einen Schluck getrunken, fiel eine Hand auf meine Schulter. »Dachte mir doch, dass du heute Abend hier bist.«
Ich schaute hoch zu dem Riesen, der neben mir aufgetaucht war. »Hallo, Ben.«
Ben Anders war fast zwei Meter groß und schien beinahe halb so breit zu sein. Er war Aufseher im HicklingBroad-Naturschutzgebiet und hatte sein ganzes Leben im Dorf verbracht. Wir sahen uns nicht häufig, aber ich mochte ihn gern. In seiner Gesellschaft fühlte ich mich wohl, mit ihm konnte man genauso gut reden wie schweigen. Er hatte ein freundliches, beinahe verträumtes Lächeln in einem kantigen Gesicht, das aussah, als wäre es zusammengeknüllt und nur teilweise wieder geglättet worden. Und von der gebräunten und wettergegerbten Haut hoben sich leuchtend seine strahlend grünen Augen ab.
Normalerweise funkelten sie vergnügt, aber jetzt war keine Freude in ihnen. Er stützte einen Ellbogen auf die Theke. »Schlimme Sache.«
»Fürchterlich.«
»Ich habe Lyn vor ein paar Tagen gesehen. Sie war völlig unbekümmert. Und dann auch noch Sally Palmer. Als wäre zweimal der Blitz eingeschlagen.«
»Ich weiß.«
»Ich hoffe inständig, dass sie nur abgehauen ist. Aber es sieht nicht gut aus, oder?«
»Nicht besonders, nein.«
»Gott, der arme Marcus. Ich mag gar nicht dran denken, was der arme Kerl jetzt durchmacht.« Er senkte seine Stimme, um nicht von den anderen gehört zu werden. »Man munkelt, dass Sally Palmer ziemlich übel zugerichtet worden ist. Wenn derselbe Scheißkerl sich jetzt Lyn geschnappt hat … Mein Gott, man möchte dem Wichser den Hals umdrehen, oder?«
Ich schaute hinab in mein Glas. Offensichtlich war noch nicht bekannt geworden, dass ich der Polizei geholfen hatte. Einerseits war ich froh, andererseits gab es mir nun ein schlechtes Gefühl, so als würde ich zum Lügner werden, wenn ich nichts von meiner Beteiligung sagte.
Ben schüttelte langsam seinen massigen Schädel. »Glaubst du, es gibt noch eine Chance für sie?«
»Keine Ahnung.« Das war die ehrlichste Antwort, die ich geben konnte. Ich erinnerte mich, was Mackenzie gesagt hatte. Wenn ich Recht hatte, dann war Sally Palmer erst drei Tage nach ihrem Verschwinden getötet worden. Ich bin kein psychologischer Profiler, aber ich wusste, dass Serienmörder einem Muster folgten. Und sollte es sich um denselben Täter handeln, dann bestand die Möglichkeit, dass Lyn noch am Leben war.
Noch am Leben. Gott, konnte das sein? Und wenn, wie lange würde sie noch leben? Ich sagte mir, dass ich getan hatte, was ich tun konnte, dass ich der Polizei geliefert hatte, was unter den Umständen von mir erwartet werden konnte. Doch es kam mir wie billiger Pragmatismus vor.
Ich merkte, dass Ben mich anschaute. »Was ist?«
»Ich fragte, ob bei dir alles in Ordnung ist. Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Es war einfach ein langer Tag.«
»Das kannst du laut sagen.« Sein Blick verfinsterte sich, als er Richtung Tür schaute. »Gerade wenn man denkt, es könnte nicht mehr schlimmer werden.«
Ich drehte mich um und sah die dunkle Silhouette von Pfarrer Scarsdale hereinkommen. Die Gespräche verstummten, als er sich mit strenger Miene der Theke näherte.
»Der bringt sie auch nicht wieder zurück«, brummte Ben.
Scarsdale räusperte sich. »Gentlemen!« Er registrierte missbilligend die paar Frauen im Pub, bemühte sich aber nicht, sie ebenfalls anzusprechen. »Ich dachte, Sie sollten wissen, dass ich morgen Abend eine Andacht für Lyn Metcalf und Sally Palmer halten werde.«
Sein trockener Bariton war es gewohnt, vor Publikum zu reden.
»Ich bin mir sicher, dass Sie alle …« Er ließ seinen Blick durch den Pub schweifen. »… Sie alle morgen Abend kommen werden, um den Toten Ihren Respekt zu erweisen und den Lebenden beizustehen.« Er hielt inne, bevor er steif seinen Kopf neigte. »Ich danke Ihnen.«
Auf dem Weg zur Tür blieb er vor mir stehen. Selbst im Sommer schien er einen muffigen Geruch zu verströmen. Ich konnte die weißen Schuppen auf der schwarzen Wolle seines Jacketts sehen und den Hauch von Mottenkugeln in seinem Atem riechen.
»Ich vertraue darauf, auch Sie zu sehen, Dr. Hunter.«
»Wenn meine Patienten es zulassen.«
»Ich bin mir sicher, dass niemand so egoistisch sein wird, Sie von Ihrer Pflicht abzuhalten.« Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit meinte. Er beehrte mich mit einem humorlosen Lächeln. »Außerdem glaube ich, dass Sie die meisten Menschen in der Kirche finden werden. Bei Tragödien rücken Gemeinden wie diese zusammen. Da Sie aus der Stadt kommen, finden Sie das wahrscheinlich seltsam. Aber hier wissen wir, wo unsere Prioritäten liegen.«
Mit einem letzten knappen Nicken verschwand er. »Da geht ein aufrechter Christ«, sagte Ben. Er hob sein leeres Pintglas, das in seiner riesigen Hand nur halb so groß aussah. »Nimmst du auch noch eins?«
Ich lehnte ab. Scarsdales Auftritt hatte meine Stimmung nicht verbessert. Ich wollte gerade mein Bier austrinken und nach Hause gehen, als mich jemand von hinten ansprach.
»Dr. Hunter?«
Es war die junge Lehrerin, die ich am vergangenen Tag in der Schule kennen gelernt hatte. Ihr Lächeln verblasste angesichts meines Gesichtsausdrucks. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören …«
»Nein, schon in Ordnung. Ich meine, nein, Sie stören nicht.«
»Ich bin Sams Lehrerin, wir haben uns gestern kennen gelernt, wissen Sie noch?«, fragte sie unsicher.
Normalerweise kann ich mir Namen schlecht merken, an ihren erinnerte ich mich jedoch sofort. Jenny. Jenny Hammond.
»Natürlich. Wie geht es ihm?«
»Ganz gut, glaube ich. Heute war er allerdings nicht in der Schule. Aber es schien ihm schon besser zu gehen, als seine Mutter ihn gestern Nachmittag abgeholt hat.«
Ich hatte eigentlich bei ihm vorbeischauen wollen, aber dann waren andere Dinge dazwischengekommen. »Ich bin sicher, er wird sich erholen. Es ist doch nicht weiter schlimm, wenn er einen Tag fehlt, oder?«
»Oh, nein, überhaupt nicht. Ich dachte nur, ich … ich sage mal hallo, das ist alles.«
Sie sah verlegen aus. Ich hatte vorausgesetzt, dass sie zu mir gekommen war, um mich etwas wegen Sam zu fragen. Verspätet kam mir in den Sinn, dass sie vielleicht einfach nur nett sein wollte.
»Sind Sie mit ein paar Kollegen hier?«, fragte ich.
»Nein, ich bin allein. Ich hatte mich an der Suche beteiligt und dann … tja, meine Mitbewohnerin ist unterwegs, und ich hatte einfach keine Lust, heute Abend allein zu Hause zu sitzen, verstehen Sie?«
Ich verstand. Wir schwiegen uns eine Weile an.
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte ich schließlich, genau im gleichen Moment, als sie gerade sagte: »Na gut, bis dann.« Wir lachten beide befangen. »Was möchten Sie?«
»Nein, schon in Ordnung, wirklich.«
»Ich wollte sowieso gerade etwas bestellen.« Während ich das sagte, fiel mir auf, dass mein Glas noch halb voll war. Ich hoffte, dass sie es nicht merkte.
»Dann nehme ich eine Flasche Becks. Danke.«
Ben war gerade bedient worden, als ich mich über die Theke beugte. »Meinung geändert? Komm, ich zahle.« Er steckte eine Hand in die Tasche.
»Nein, danke. Ist nicht für mich.«
Er warf einen kurzen Blick über meine Schulter. Sein Mund formte sich zu einem Lächeln, »Alles klar. Bis später.«
Ich nickte und wusste, dass ich rot geworden war. Als ich bedient wurde, hatte ich mein Bier ausgetrunken. Ich bestellte ein weiteres und nahm die Getränke mit zu Jenny.
Sie prostete mir zu und trank dann aus der Flasche. »Der Wirt sieht das nicht gerne, aber aus einem Glas schmeckt es einfach nicht so gut.«
»Und man muss weniger abspülen, Sie tun ihm also eigentlich einen Gefallen.«
»Das merke ich mir für das nächste Mal, wenn er mich deswegen ausschimpft.« Sie wurde etwas ernster. »Ich kann einfach nicht glauben, was passiert ist. Es ist so schrecklich, nicht wahr? Ich meine, zwei Frauen aus dem Dorf. Ich dachte immer, Orte wie dieser sind sicher.«
»Sind Sie deshalb hierher gezogen?«
Es sollte nicht so neugierig klingen, wie es tat. Sie schaute hinab auf die Flasche in ihrer Hand. »Sagen wir einfach, ich hatte es satt, in der Stadt zu leben.«
»Wo war das?«
»Norwich.«
Sie hatte begonnen, das Etikett von der Flasche zu pulen. Als würde ihr bewusst werden, was sie tat, hörte sie plötzlich damit auf. Ihre Miene heiterte sich auf, und sie lächelte mich an.
»Egal, was ist mit Ihnen? Wir haben bereits festgestellt, dass Sie auch kein Einheimischer sind.«
»Stimmt. Ich komme eigentlich aus London.«
»Und was hat Sie dazu veranlasst, nach Manham zu kommen? Die Neonlichter und das glitzernde Nachtleben?«
»So ähnlich.« Ich sah, dass sie mehr erwartete. »Das Gleiche wie Sie, nehme ich an. Ich wollte eine Veränderung.«
»Ja, das ist es wirklich.« Sie lächelte. »Aber mir gefällt es ganz gut. Ich gewöhne mich langsam daran, weitab vom Schuss zu leben. Sie wissen schon, die Ruhe und so. Keine Menschenmassen und wenig Autos«
»Keine Kinos.«
»Oder Bars.«
»Oder Läden.«
Wir mussten grinsen. »Wie lange sind Sie denn schon hier?«, fragte sie.
»Drei Jahre.«
»Und wie lange haben Sie gebraucht, um akzeptiert zu werden?«
»Ich arbeite noch daran. Noch zehn Jahre und ich könnte für einen Dauergast gehalten werden. Von den etwas fortschrittlicheren Leuten jedenfalls.«
»Sagen Sie das nicht. Ich bin erst ein halbes Jahr hier.«
»Dann sind Sie noch eine Touristin.«
Lachend wollte sie gerade etwas sagen, als es einen Aufruhr an der Tür gab.
»Wo ist der Doktor?«, rief eine Stimme. »Ist er hier?«
Ich drängelte mich nach vorn, als ein Mann halb hereingeführt, halb hereingetragen wurde. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Ich erkannte ihn als Scott Brenner, der zu einer großen Familie gehörte, die in einem baufälligen Haus außerhalb von Manham lebte. Ein Stiefel und der Saum eines Hosenbeines waren blutgetränkt.
»Setzen Sie ihn hin. Vorsichtig«, sagte ich, während er zu einem Stuhl geführt wurde. »Was ist passiert?«
»Er ist in eine Falle getreten. Wir wollten gerade zur Praxis, da haben wir vor der Tür Ihren Land Rover gesehen.«
Sein Bruder Carl hatte gesprochen. Die Brenners waren ein verschworener Haufen, angeblich Landarbeiter, aber auch dem Wildern nicht abgeneigt. Carl war der Älteste, ein drahtiges, querköpfiges Individuum, und während ich vorsichtig die blutgetränkte Jeans von Scotts Bein entfernte, hegte ich den unfreundlichen Gedanken, dass dies dem falschen Bruder passiert war. Dann sah ich den Schaden, der angerichtet worden war.
»Haben Sie einen Wagen?«, fragte ich seinen Bruder.
»Glauben Sie, wir sind zu Fuß hierher gelaufen, oder was?«
»Gut, denn er muss ins Krankenhaus.«
Carl fluchte. »Können Sie ihn nicht einfach wieder zusammenflicken?«
»Ich kann ihn notdürftig verbinden, aber mehr nicht. Diese Verletzung ist zu schwer für meine Mittel.«
»Werde ich meinen Fuß verlieren?«, fragte Scott keuchend.
»Nein, aber Sie werden eine Weile nicht gerade herumspringen können.« Ich war nicht so zuversichtlich, wie ich klang. Ich überlegte, ihn in die Praxis zu bringen, aber so, wie er aussah, war er schon genug herumgeschleppt worden. »Unter einer Decke auf dem Rücksitz meines Landrovers ist ein Erste-Hilfe-Koffer. Kann mir den jemand holen?«
»Ich«, sagte Ben. Ich gab ihm meine Autoschlüssel. Während er hinausging, bat ich um Wasser und saubere Handtücher und begann, das Blut um die Wunde abzuwischen.
»Was für eine Falle war das?«
»Eine Drahtschlinge«, sagte Carl Brenner. »Wenn man mit dem Fuß reinkommt, zieht sie sich zusammen. Das schneidet bis auf die Knochen ein.«
Das hatte es auch getan. »Wo ist das passiert?«
Scott antwortete mit abgewandtem Gesicht, um nicht zusehen zu müssen, was ich tat. »Drüben am anderen Ende vom Sumpf, in der Nähe der alten Windmühle …«
»Wir haben nach Lyn gesucht«, mischte sich Carl ein und sah seinen Bruder ermahnend an.
Das bezweifelte ich. Ich wusste, welche Stelle sie meinten. Wie die meisten Windmühlen in den Broads war auch die bei Manham eigentlich eine Pumpe mit Windantrieb, die gebaut worden war, um den Sumpf trockenzulegen. Sie war schon seit Jahrzehnten außer Betrieb und nun ein leeres Gemäuer ohne Flügel oder Leben. Die Gegend war selbst für Manhams Verhältnisse trostlos, aber ideal für jeden, der abseits von neugierigen Blicken jagen gehen oder Fallen aufstellen wollte. Angesichts des Rufs der Brenners hielt ich das für einen wahrscheinlicheren Grund, warum sie sich um diese Zeit dort draußen aufgehalten hatten, als irgendein öffentliches Pflichtgefühl. Während ich das Blut aus der Wunde wischte, fragte ich mich, ob sie es fertig gebracht hatten, in eine ihrer eigenen Fallen zu tappen.
»Das war keine von unseren«, sagte Scott, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Scott!«, schnauzte sein Bruder ihn an.
»Aber es war keine von unseren! Sie war auf dem Weg unter Gras versteckt. Und sie war zu groß für Hasen oder Rehe.«
Auf diese Aussage setzte Schweigen ein. Obwohl die Polizei es noch nicht bestätigt hatte, hatte jeder von den Resten des Stolperdrahtes gehört, die an der Stelle im Wald gefunden worden waren, wo Lyn verschwunden war.
Ben kehrte mit dem Erste-Hilfe-Koffer zurück. Ich reinigte und verband die Wunde, so gut ich konnte. »Er soll den Fuß hochlagern, und bringen Sie ihn so schnell wie möglich in die Unfallstation«, sagte ich Carl.
Grob hievte er seinen Bruder hoch und brachte ihn halb stützend, halb schleppend nach draußen. Ich wusch mir die Hände und ging dann zurück zu Jenny, die mit meinem Bier auf mich wartete.
»Wird er wieder in Ordnung kommen?«, fragte sie.
»Kommt darauf an, wie schwer die Sehnen beschädigt sind. Wenn er Glück hat, wird er am Ende nur hinken.«
Sie schüttelte den Kopf. »Gott, was für ein Tag!«
Ben kam herüber und reichte mir meine Wagenschlüssel. »Die brauchst du wohl noch.«
»Danke.«
»Und was denkst du? Glaubst du, es hat was damit zu tun, was Lyn passiert ist?«
»Keine Ahnung.« Aber wie jeder andere hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Sache.
»Warum sollte es?«, fragte Jenny.
Er schien unsicher zu sein, wie er antworten sollte. Mir wurde klar, dass die beiden sich nicht kannten.
»Ben, das ist Jenny. Sie ist Lehrerin an der Schule«, erzählte ich ihm.
Er nahm das als Aufforderung fortzufahren. »Weil es ein zu großer Zufall wäre. Ich habe zwar keine Sympathien für einen Brenner, diesen Haufen wildernder Arsch…« Er verstummte mit einem Blick zu Jenny. »Egal, ich hoffe bei Gott, dass nicht mehr dahinter steckt. Dass es nur ein Zufall ist.«
»Ich kann nicht folgen.«
Ben sah mich an, aber ich wollte es nicht sagen. »Weil es nämlich, wenn es kein Zufall ist, bedeuten würde, dass es einer von hier ist. Aus dem Dorf.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen«, entgegnete Jenny.
Sein Gesicht sagte, dass er anderer Meinung war, aber er war zu höflich, um sich zu streiten. »Na ja, wir werden sehen. Und damit wird es wohl Zeit für mich, gute Nacht zu sagen.«
Er leerte sein Glas und ging zur Tür. Als wäre ihm etwas eingefallen, wandte er sich noch einmal zu Jenny um. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber sind Sie mit dem Wagen gekommen?«
»Nein, warum?«
»Vielleicht ist es keine gute Idee, allein nach Hause zu gehen.«
Mit einem letzten Blick zu mir, um sicherzustellen, dass ich verstanden hatte, ging er hinaus. Jenny lächelte verunsichert. »Glauben Sie, dass es so schlimm ist?«
»Ich hoffe nicht. Aber er hat wohl Recht.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich glaube das nicht. Vor zwei Tagen war dies der friedlichste Ort auf Erden.«
Vor zwei Tagen war Sally Palmer bereits tot gewesen, und die Bestie, die dafür verantwortlich war, hatte wahrscheinlich Lyn Metcalf schon ins Visier genommen. Aber das sagte ich nicht.
»Kennen Sie hier jemand, der Sie begleiten kann?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht. Aber ich komme schon klar. Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Das bezweifelte ich nicht. Aber ich konnte sehen, dass trotz der zur Schau gestellten Dickköpfigkeit der Mut sie verlassen hatte.
»Ich werde Sie fahren«, sagte ich.
Als ich nach Hause kam, setzte ich mich im Garten an den Tisch. Die Nacht war warm, kein Windhauch wehte. Ich legte den Kopf zurück und schaute hinauf zu den Sternen. Der Mond war fast voll, eine asymmetrische, von einem hellen Hof umgebene Scheibe. Ich versuchte, seine gesprenkelten Konturen zu erkennen, aber mein Blick wanderte nach unten, bis ich auf den dunklen Wald jenseits des Feldes schaute. Normalerweise gefiel mir dieser Blick sogar nachts. Doch jetzt wurde mir unbehaglich zumute, als ich auf das undurchdringliche Dickicht der Bäume schaute.
Ich ging ins Haus, schenkte mir einen kleinen Whisky ein und nahm ihn mit nach draußen. Es war nach Mitternacht, und ich musste früh aufstehen. Doch mir war jede Ausrede recht, um nicht schlafen zu gehen. Außerdem hatte ich ausnahmsweise einmal zu viel zum Nachdenken, um müde zu sein. Ich hatte Jenny zu dem kleinen Cottage begleitet, das sie mit einer anderen jungen Frau bewohnte. Den Wagen hatte ich stehen lassen. Es war eine warme, klare Nacht, und sie wohnte nur ein paar hundert Meter entfernt. Während wir gingen, erzählte sie mir ein wenig von ihrer Arbeit und von den Kindern, die sie unterrichtete. Nur einmal kam sie dabei auf ihre Vergangenheit zu sprechen und erwähnte, dass sie in einer Schule in Norwich gearbeitet hatte. Doch schnell hatte sie das Thema wieder beendet und die Gesprächspause mit einem Schwall Worte gefüllt. Ich hatte so getan, als wäre es mir nicht aufgefallen. Ich wusste nicht, was ihr zu schaffen machte, und es ging mich auch nichts an.
Als wir durch die schmale Gasse zu ihrem Haus gingen, heulte plötzlich in der Nähe ein Fuchs auf. Jenny packte meinen Arm.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie und ließ ihn so schnell wieder los, als brenne er. Sie lachte verlegen auf. »Man sollte eigentlich annehmen, ich hätte mich mittlerweile daran gewöhnt, hier draußen zu leben.«
Danach herrschte betretene Stille zwischen uns. Als wir ihr Haus erreichten, blieb sie vor der Gartenpforte stehen.
»Also dann. Danke.«
»Kein Problem.«
Mit einem letzten Lächeln eilte sie nach drinnen. Ich wartete, bis ich das Schloss einrasten hörte, ehe ich mich umdrehte. Während ich zurück durch das dunkle Dorf ging, konnte ich den Druck ihrer Hand auf meinem nackten Arm spüren.
Ich konnte ihn noch immer spüren. Ich nippte an meinem Drink und zuckte innerlich zusammen, als ich mir klar machte, wie nervös ich geworden war, nur weil eine junge Frau mich zufällig berührt hatte. Kein Wunder, dass sie danach ganz still geworden war.
Ich trank den Whisky aus und ging hinein. Noch etwas anderes lag mir auf der Seele, ein nagendes Gefühl, dass ich etwas tun müsste. Ich überlegte einen Moment, ehe es mir einfiel. Scott Brenner. Bestimmt hatte sein Bruder nicht zugelassen, dass er der Polizei von der Drahtschlinge berichtete. Vielleicht war die Sache unbedeutend, aber Mackenzie musste davon wissen. Ich fand seine Karte und wählte die Handynummer. Es war fast ein Uhr, doch ich könnte ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, damit er es gleich am Morgen erfuhr.
Er meldete sich sofort. »Ja?«
»Hier ist David Hunter«, sagte ich überrumpelt. »Tut mir Leid, ich weiß, dass es spät ist. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Scott Brenner sich gemeldet hat.«
Ich konnte seinen Ärger und seine Mattigkeit in der Pause förmlich hören. »Scott wer?«
Ich erzählte ihm, was geschehen war. Als er antwortete, war seine Müdigkeit verschwunden. »Wo war das?«
»In der Nähe einer alten Windmühle, ungefähr eine Meile südlich des Dorfes. Glauben Sie, da könnte es eine Verbindung geben?«
Es entstand ein Geräusch, das ich erst nach einem Moment identifizierte — das Kratzen seiner Barthaare, während er sein Gesicht rieb.
»Ach, was soll’s. Wir werden morgen sowieso damit an die Öffentlichkeit gehen«, sagte er. »Zwei meiner Beamten sind heute Abend verletzt worden. Einer ist in eine Drahtfalle getreten und der andere in ein Loch, in dem ein angespitzter Pfahl steckte.«
Die Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass derjenige, der sich Lyn Metcalf geschnappt hat, darauf vorbereitet war, dass wir nach ihm suchen.«
___________
In dieser Nacht gab es zum Ende des Traumes kein Erschrecken. Ich war nur plötzlich wach und starrte mit offenen Augen auf das Mondlicht, das durchs Fenster fiel. Ausnahmsweise befand ich mich noch im Bett, meine nächtliche Wanderung hatte sich dieses Mal auf den Traum beschränkt. Doch die Erinnerung an ihn blieb so lebendig, als wäre ich gerade von einem Zimmer in das andere gegangen.
Der Traum spielte sich immer in der gleichen Umgebung ab. In einem Haus, das ich in wachem Zustand nie gesehen hatte, von dem ich wusste, dass es nicht existierte, in dem ich mich aber trotzdem zu Hause fühlte. Kara und Alice waren dort, lebendig und real. Wir sprachen über meinen Tag, über nichts Besonderes, einfach so, wie wir es immer getan hatten, als sie noch lebten.
Und dann wachte ich jedes Mal auf und wurde wieder mit der nackten Tatsache konfrontiert, dass sie tot waren.
Ich musste wieder daran denken, was Linda Yates gesagt hatte. Man träumt nie ohne Grund. Ich fragte mich, was sie aus meinem Traum lesen würde. Ich konnte mir vorstellen, was ein Psychiater sagen würde oder selbst ein Amateurpsychologe wie Henry. Doch diese Träume entzogen sich jedem gescheiten Erklärungsmuster. Sie hatten eine Logik und Wirklichkeit, die weit vom Traumhaften entfernt war. Und obwohl ich mir das selbst nicht eingestehen wollte, konnte ein Teil von mir nicht glauben, dass nicht mehr hinter ihnen steckte.
Wenn ich aber diesen Gedanken zuließ, dann wäre es der erste Schritt in eine Richtung, vor der ich Angst hatte. Denn es gab nur einen Weg, jemals wieder mit meiner Familie vereint zu sein, und ich wusste, ihn zu gehen wäre ein Akt der Verzweiflung und nicht der Liebe.
Noch mehr Angst machte mir, dass mir das manchmal egal war.