18
Am nächsten Tag passierten zwei Dinge. Für den meisten Gesprächsstoff sorgte das erste Ereignis. Zu jeder anderen Zeit wäre es eine Quelle aufgeregten Tratsches und endloser Erzählungen und Nacherzählungen gewesen, ehe es in die Folklore Manhams eingegangen wäre, ein Kapitel der Dorfgeschichte, über das man in den kommenden Jahrzehnten gelacht und den Kopf geschüttelt hätte. Doch in dieser Situation hatte die Sache wesentlich ernstere Auswirkungen als die äußeren Verletzungen, die sie verursacht hatte.
Ben Anders und Carl Brenner waren bei einer Konfrontation, die überfällig gewesen war, aufeinander losgegangen.
Zum Teil lag es am Alkohol, zum Teil an ihrer Feindseligkeit und zum Teil an der Belastung der vergangenen Tage. Die beiden Männer hatten nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich nicht leiden konnten, und unter den unnatürlichen Spannungen im Dorf waren schon Leute aneinander geraten, deren gegenseitige Abneigung wesentlich harmloser war. Es geschah im Lamb, kurz vor der Sperrstunde. Ben hatte gerade einen Whisky als Absacker bestellt, nachdem er, zugegebenermaßen, ein oder zwei Pints mehr als sonst getrunken hatte. Er hatte einen höllischen Tag im Naturschutzgebiet hinter sich gehabt, wo er einem Vogelkundler erste Hilfe leisten musste, der einen Herzinfarkt erlitten hatte. Außerdem hatten ihm wie immer in der Urlaubszeit die Touristen zu schaffen gemacht. Als Carl Brenner in den Pub kam, (großspurig und total von sich eingenommen), wie sich Ben später ausdrückte, hatte er sich abgewandt, entschlossen, sich nicht reizen zu lassen, um einen schlechten Tag nicht noch mit einem bösen Ende zu krönen.
Aber das hatte nicht ganz funktioniert.
Brenner war nicht nur auf einen Drink gekommen. Aufgestachelt durch Scarsdales Ruf zu den Waffen am vergangenen Abend war sein Besuch im Lamb sowohl ein Rekrutierungsversuch als auch eine Absichtserklärung. An seiner Seite war Dale Brenner, ein finsterer Cousin, der ihm zwar nicht ähnlich sah, jedoch ein Bruder im Geiste und Temperament war. Sie gehörten zu einer größeren Gruppe, die es sich, auf Scarsdales Drängen hin, zur Aufgabe gemacht hatte, Tag und Nacht durchs Dorf zu patrouillieren. »Wenn die Polizei nur Scheiße baut, dann werden wir uns das Arschloch eigenhändig vorknöpfen«, hatte Brenner gesagt und damit die Absichten des Pfarrers wiedergegeben, wenn auch nicht im Wortlaut.
Als die Brenners versuchten, weitere Freiwillige zusammenzutrommeln, war Ben noch ruhig geblieben. Doch dann beging Carl, durch den Alkohol und seine neu gefundene Mission ermutigt, den Fehler, ihn direkt anzusprechen.
»Und was ist mit dir, Anders?«
»Was soll sein?«
»Bist du dabei oder nicht?«
Ben trank langsam seinen Whisky aus, ehe er antwortete. »Ihr wollt euch das Arschloch also vorknöpfen, ja?«
»Genau. Hast du Probleme damit?«
»Nur eines. Woher wisst ihr, dass es keiner von euch ist?«
Nicht gerade mit besonderem Scharfsinn gesegnet, war Brenner die Frage offensichtlich noch nicht in den Sinn gekommen. »Woher wissen wir eigentlich, dass es nicht du bist?«, meinte Ben. »Löcher buddeln, Fallen aufstellen, das sieht dir doch ähnlich.«
Später gab er zu, dass er den anderen nur reizen wollte und nicht darüber nachgedacht hatte, was für gefährliche Anschuldigungen er geäußert hatte. Und damit trieb er Brenner weiter, als der sonst vielleicht gegangen wäre.
»Halt’s Maul, Anders! Die Polizei weiß, dass ich nichts damit zu tun habe.«
»Ist das die gleiche Polizei, von der du gerade noch gesagt hast, dass sie nur Scheiße baut? Und du willst, dass ich mitmache? Mein Gott«, schnaubte Ben, ohne seine Verachtung zu verbergen. »Bleib beim Wildern. Nur dazu taugst du was.«
»Ich habe immerhin ein Alibi! Was ist mit dir?«
Ben richtete einen Finger auf ihn. »Vorsicht, Brenner.«
»Wieso? Hast du eins oder hast du keins?«
»Ich warne dich …«
Ermutigt durch die Anwesenheit seines Cousins, gab Brenner nicht wie sonst klein bei. »Was soll die Scheiße? Ich habe es satt, dass du hier immer das Maul aufreißt. Letzte Woche hast du dich auch schnell vor deinen Doktorkumpel gestellt, oder? Wo war der denn, als Lyn verschwunden ist?«
»Willst du jetzt behaupten, dass wir es beide waren?«
»Beweis mir das Gegenteil!«
»Dir muss ich gar nichts beweisen, Brenner«, sagte Ben, der allmählich seine mühsam gehütete Beherrschung verlor. »Du kannst mir mit deiner heldenhaften Bürgerwehr und euren jämmerlichen Streifengängen den Buckel runterrutschen.«
Sie starrten sich an. Brenner brach den Blickkontakt als Erster ab. »Komm«, sagte er zu seinem Cousin, und damit wäre die Sache fast zu Ende gewesen. Aber da er nicht ohne einen Versuch gehen wollte, sein Gesicht zu wahren, konnte er einer letzten Stichelei nicht widerstehen. »Feiges Arschloch«, fauchte er, als er sich zum Gehen umdrehte.
Das war der Punkt, an dem Bens gute Absichten den Bach hinuntergingen.
Die darauf folgende Prügelei dauerte nicht lange. Es waren ausreichend Männer im Pub, die einsprangen, bevor die Lage außer Kontrolle geriet, was wahrscheinlich ganz gut für Ben war. Brenner allein stellte keine Bedrohung dar, aber so stark Ben auch war, den Cousin hätte er vielleicht nicht auch noch geschafft. Als sie voneinander getrennt wurden, waren bereits ein Tisch und mehrere Stühle zu Bruch gegangen, und es würde Wochen dauern, bis Brenner wieder in einen Rasierspiegel schauen, geschweige denn sich rasieren konnte, ohne zusammenzuzucken. Auch Ben kam nicht ungeschoren davon, erlitt mehrere Schnitte und blaue Flecken und verrenkte sich einen Knöchel. Aber das wäre die Sache wert gewesen, behauptete er.
Doch der wirklich ernsthafte Schaden sollte sich erst mehrere Tage später herausstellen.
Ich erlebte die Prügelei nicht mit. Ich hatte für Jenny gekocht, die über Nacht geblieben war, und Manhams Probleme vergessen. Tatsächlich war ich wohl einer der Letzten, der davon erfuhr, da ich früh am nächsten Morgen weiter an der grauenhaften Aufgabe, die in der Leichenhalle auf mich wartete, arbeitete.
Seit Lyn Metcalfs Leiche gefunden worden war, hatte mich Henry wieder vertreten, wenn ich ins Labor musste. Ich bemühte mich zwar, zur Abendsprechstunde zurück zu sein, doch die zusätzliche Arbeit forderte ihren Tribut bei ihm. Er sah müde aus, obwohl er die Sprechstunden auf ein Minimum reduziert hatte und während meiner Abwesenheit nur das Nötigste erledigte.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber ich wusste, dass es nicht mehr sehr lange dauern würde. Noch einen halben Tag im Labor und ich hätte getan, was ich tun konnte. Die meisten Testergebnisse waren noch nicht eingetroffen, doch bisher erzählten Lyn Metcalfs Überreste eine ähnliche Geschichte wie jene von Sally Palmer. Es hatte keine großen Überraschungen gegeben, offen blieb nur die Frage, warum das Gesicht des ersten Opfers derart schlimm zugerichtet war, während das des zweiten unangetastet geblieben war. Da die Verwesung weniger fortgeschritten war, waren zudem noch einige von Lyn Metcalfs Fingernägeln vorhanden. Sie waren abgebrochen und eingerissen, und das forensische Labor hatte Hanffasern an manchen gefunden. Mit anderen Worten, Spuren eines Seils. Sie war also anscheinend gefesselt worden.
Abgesehen von der durchtrennten Kehle und der entsetzlichen Versehrung des Unterleibs handelte es sich bei Lyns Verletzungen vor allem um oberflächliche Schnitte. Nur der Schnitt durch die Kehle hatte eine Kerbe im Knochen hinterlassen. Wie jene, die ich bei Sally Palmer gefunden hatte, war sie durch eine lange, scharfe Klinge verursacht worden. Wahrscheinlich ein Jagdmesser und mit ziemlicher Sicherheit dasselbe wie im ersten Fall, obwohl man das unmöglich mit Gewissheit sagen konnte. Aber es war kein Sägemesser gewesen. Eine Erkenntnis, die mich weiterhin im Unklaren darüber ließ, warum die beiden Frauen mit einer Waffe getötet worden waren und der Hund mit einer anderen.
Ich grübelte noch darüber nach, als ich ins Wartezimmer ging, nachdem der letzte Patient gegangen war. Die Abendsprechstunde war ruhig gewesen, es war kaum die Hälfte der üblichen Patienten gekommen. Entweder wollten sich die Leute angesichts der größeren Tragödie nicht um ihre trivialeren Beschwerden kümmern, oder es gab einen anderen, weit unangenehmeren Grund, warum so viele beschlossen hatten, ihren Arzt zu meiden. Oder einen von den Ärzten. Es wurde häufiger gewünscht, sich von Henry untersuchen zu lassen, als seit Jahren; mehr und mehr Leute zogen es anscheinend vor, zu warten, anstatt zu mir zu kommen.
Aber ich war zu sehr mit Jenny und meiner Arbeit im Labor beschäftigt, um mir darüber Gedanken zu machen.
Janice räumte gerade das Wartezimmer auf, als ich hereinkam. Sie rückte das Sammelsurium der alten Stühle zurecht und legte die mit Eselsohren versehenen Zeitschriften zurück ins Regal.
»Ein ruhiger Abend«, sagte ich.
Sie hob ein Kinderpuzzle vom Boden auf und tat es zum anderen Spielzeug in die Holzkiste zurück. »Besser als ein Zimmer voll Hypochonder.«
»Stimmt.« Ich wusste ihr Taktgefühl zu schätzen. Ihr war genauso klar wie mir, dass meine Termine immer weniger wurden. »Wo ist Henry?«
»Der macht ein Nickerchen. Ich glaube, die Sprechstunde heute Morgen hat ihn ziemlich geschafft. Aber machen Sie nicht so ein Gesicht. Es ist doch nicht Ihre Schuld.«
Janice wusste, dass ich für die Polizei arbeitete, wenn auch nicht genau, in welcher Funktion. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, es vor ihr geheim zu halten, und eigentlich gab es auch keinen Grund dazu. Sie tratschte zwar gerne, aber sie wusste, wo die Grenze war.
»Geht es ihm gut?«, fragte ich besorgt.
»Er ist einfach müde. Aber es liegt nicht nur an der Arbeit.« Sie schaute mich bedeutungsvoll an. »In dieser Woche wäre sein Hochzeitstag gewesen.«
Das hatte ich vergessen. Ich hatte zu viel um die Ohren gehabt, um an solche Termine zu denken, doch Henry war jedes Jahr um diese Zeit bedrückt. Er sprach nie darüber, genauso wenig wie ich, wenn meine Zeit kam. Aber man merkte es trotzdem.
»Es wäre ihr dreißigster gewesen«, fuhr Janice mit gesenkter Stimme fort. »Das macht es wohl noch schlimmer. Auf eine Art ist es deshalb gut, dass er mehr zu tun hat. Das bringt ihn auf andere Gedanken.« Ihre Miene wurde härter. »Es ist nur so eine Schande, dass …«
»Janice«, warnte ich sie.
»Aber es ist doch wahr. Sie hatte ihn nicht verdient. Und er hätte etwas Besseres verdient.«
Die Worte waren hastig hervorgekommen. Sie schien den Tränen nahe.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie nickte und lächelte zaghaft. »Tut mir Leid. Aber ich kann einfach nicht mitansehen, wie er leidet wegen …« Sie unterbrach sich. »Und dann diese andere Sache. Das zermürbt doch jeden.«
Sie begann, die letzten Zeitschriften einzusammeln. Ich ging hinüber und nahm sie ihr ab.
»Warum gehen Sie heute nicht mal früher nach Hause?«
»Aber ich wollte gerade staubsaugen …«
»Ich bin mir sicher, unsere Patienten werden den Staub auch noch einen Tag länger ertragen können.«
Sie lachte und war schon wieder mehr die Alte. »Wenn Sie meinen …«
»Bestimmt. Soll ich Sie fahren?«
»Nein! Der Abend ist zu schön, um im Auto zu sitzen.«
Ich bestand nicht darauf. Sie wohnte nur ein paar hundert Meter entfernt, und der größte Teil der Strecke führte an der Hauptstraße entlang. Es gab einen Punkt, an dem aus Sicherheitsdenken Paranoia wurde.
Trotzdem sah ich ihr durch das Fenster nach, wie sie die Auffahrt hinabging. Nachdem sie verschwunden war, widmete ich mich den Zeitschriften und versuchte, sie pro forma zu ordnen. In den Stapel hatten sich ein paar alte Ausgaben des Mitteilungsblattes der Kirchengemeinde verirrt. Die hatten wohl Patienten, die zu faul waren, sie wegzuwerfen, hier liegen lassen. Als ich sie in den Papierkorb schmiss, fiel mir eine Seite ins Auge.
Ich zog sie wieder aus dem Papierkorb hervor. Sally Palmer lächelte mich fröhlich an. Unter dem Foto stand ein kurzer Artikel über Manhams »gefeierte Autorin«, der ein paar Wochen vor ihrem Tod erschienen war. Ich hatte ihn noch nicht gesehen, und ihn jetzt zu entdecken, nachdem sie ermordet worden war, brachte mich durcheinander. Ich begann ihn zu lesen und bekam keine Luft mehr. Ich setzte mich hin und las ihn erneut.
Dann rief ich Mackenzie an.
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Schweigend las er den Artikel. Er war gerade in der mobilen Einsatzzentrale gewesen, als ich angerufen hatte, und nachdem ich ihm von der Zeitschrift erzählt hatte, war er sofort herübergekommen. Er hatte einen schweren Sonnenbrand auf Nacken und Händen. Als er fertig war, schlug er die Zeitung ausdruckslos zu.
»Und was halten Sie davon?«, fragte ich.
Er rieb sich die gerötete und pellende Nase. »Es könnte Zufall sein.«
Er war jetzt ganz Polizist und professionell unkommunikativ. Und vielleicht hatte er Recht. Obwohl ich es bezweifelte. Ich nahm die Zeitung und schaute mir die Geschichte erneut an. Sie war relativ kurz, kaum mehr als ein typischer Artikel für das Sommerloch. Die Überschrift lautete: »Das Landleben verleiht der Phantasie einer hiesigen Autorin Flügel.« Das Zitat, das diese Schlagzeile inspiriert hatte, befand sich am Ende des Artikels.
Sally Palmer sagt, dass es ihr beim Schreiben ihrer Romane hilft, in Manham zu leben. »Ich bin gerne so nah an der Natur. Das beschwingt meine Phantasie. Fast so, als hätte ich Flügel«, sagt die von der Kritik gefeierte Schriftstellerin.
Ich legte die Zeitung wieder auf den Tisch. »Sie halten es für Zufall, dass ihr jemand kaum ein paar Wochen, nachdem sie das gesagt hat, Schwanenflügel in den Rücken gesteckt hat?«
Mackenzie wirkte gereizt. »Ich sagte, es könnte Zufall sein. Nur aufgrund eines mageren Artikels in einer Zeitschrift kann ich weder das eine noch das andere mit Bestimmtheit sagen.«
»Wie erklären Sie sich diese Versehrung dann?«
Er sah aus, als fühlte er sich unwohl, wie ein Mann, der einen Standpunkt vertreten musste, von dem er selbst nicht überzeugt war. »Die Psychologen sind der Meinung, dass es ein unterdrückter Wunsch nach Verwandlung sein könnte. Der Mörder gibt ihr Engelsflügel, nachdem er sie getötet hat. Sie meinen, er könnte ein religiöser Fanatiker sein, der von einem höheren Daseinszustand besessen ist.«
»Und was sagen die Psychologen zu den anderen toten Tieren? Oder dazu, was er mit Lyn Metcalf gemacht hat?«
»Darüber sind sie sich noch nicht einig. Doch selbst wenn Sie Recht haben sollten, dann …«, er deutete auf die Zeitung, »… ist das auch keine Erklärung.«
Ich wählte meine Worte sorgfältig. »Eigentlich wollte ich mit Ihnen über noch etwas sprechen.«
Er betrachtete mich skeptisch. »Na los.«
»Nachdem ich Sie angerufen hatte, habe ich mir Lyn Metcalfs Krankenakte angeschaut. Und die ihres Mannes. Wussten Sie, dass die beiden eine Familie gründen wollten? Sie zogen eine künstliche Befruchtung in Betracht.«
Er brauchte nur eine Sekunde, um zu verstehen. »Karnickelbabys. Mein Gott«, hauchte er.
»Aber wie konnte der Mörder davon wissen?«
Mackenzie schaute mich nachdenklich an. »In einer Kommode im Schlafzimmer der Metcalfs haben wir einen Schwangerschaftstest gefunden«, sagte er langsam. »In der Tüte war noch eine Quittung. Sie war auf den Tag vor ihrem Verschwinden datiert.«
Ich musste daran denken, wie ich mit ihr zusammengestoßen war, als sie aus der Drogerie kam. Wie glücklich sie ausgesehen hatte. »War er benutzt worden?«
»Nein. Und ihr Mann behauptet, er wüsste nichts von einem Schwangerschaftstest.«
»Aber den kauft man nicht, wenn man ihn nicht auch verwenden will. Sie muss also gedacht haben, sie wäre schwanger.«
Mit finsterer Miene nickte Mackenzie. »Und was würde eine schwangere Frau zu ihrem Entführer sagen? ‘Tun Sie mir nichts, ich bekomme ein Kind!«‘ Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Himmel. Ich nehme an, wir werden nie mehr erfahren, ob sie wirklich schwanger war, oder?«
»Keine Chance. Nicht, wenn sie erst so kurz schwanger war, und nicht bei dem Zustand der Leiche.«
Er nickte ohne Überraschung. »Aber wenn sie es war — oder wenn sie glaubte, es zu sein —, dann wird es noch schwieriger den Scheißkerl zu schnappen, als wir erwartet hatten.«
»Weshalb?«
»Weil es bedeutet, dass diese Versehrungen nicht im Voraus geplant waren. Er lässt sich spontan dazu inspirieren.« Mackenzie erhob sich. Er sah müde aus. »Und wenn er nicht weiß, was er als Nächstes tut, woher sollen wir es dann wissen?«
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Nachdem er fort war, fuhr ich hinaus aufs Land. Ich hatte kein Ziel im Kopf, ich wollte nur für ein oder zwei Stunden weg aus Manham. An diesem Abend war ich nicht mit Jenny verabredet. Wir waren beide überrascht, wie plötzlich sich die Dinge zwischen uns entwickelt hatten, und nach den intensiven letzten zwei Tagen brauchten wir eine kleine Atempause. Ich glaube, wir wollten beide mit ein wenig Abstand über diesen unerwarteten Gezeitenwechsel in unseren Leben nachdenken und uns darüber klar werden, wohin er uns führen würde. Es gab die unausgesprochene Übereinkunft, dass wir unsere Annäherung nicht durch ein zu schnelles Vorpreschen verderben wollten. Wenn es das war, was wir beide fühlten, gab es schließlich keinen Grund zur Eile.
Ich hätte es besser wissen müssen. Man darf das Schicksal nicht herausfordern.
Ich fuhr ziellos umher. Als ich mich auf einer Anhöhe wiederfand, von der aus ich die ganze Landschaft überblicken konnte, hielt ich den Wagen an und stieg aus. Ich setzte mich auf einen kleinen Grashügel und schaute zu, wie sich die Sonne langsam auf das Marschland senkte. Auf den Teichen und Bächen, die abstrakte Muster im Schilf formten, glitzerte das goldene Sonnenlicht. Eine Weile versuchte ich mich auf die Morde zu konzentrieren. Aber das alles schien jetzt meilenweit entfernt. Die Farben des Himmels und der Landschaft wurden in der Dämmerung immer dunkler, doch nichts in mir trieb mich zum Aufbruch an.
Zum ersten Mal seit dem Unfall hatte ich das Gefühl, dass mir die Zukunft offen stand. Ich konnte endlich wieder nach vorn und nicht nur in die Vergangenheit schauen. Ich dachte an Jenny, und ich dachte an Kara und Alice und fragte mich, ob ich einen Anflug von Schuld oder Betrug in mir spürte. Aber da war nichts. Nur eine Erwartung. Der Schmerz über den Verlust war noch da und würde immer da sein. Doch jetzt konnte ich ihn akzeptieren. Meine Frau und meine Tochter waren tot, aber ich konnte sie nicht wieder lebendig machen. Lange Zeit war auch ich tot gewesen. Und jetzt war ich unerwartet wieder zum Leben erweckt worden.
Ich saß da und schaute zu, wie die Sonne unterging, bis sie nur noch ein heller Schlitz am Horizont war und die Sumpflandschaft eine einförmige Dunkelheit, die das Licht aufsog. Als ich schließlich steif und mit schmerzenden Gelenken vom langen Sitzen aufstand, wurde mir klar, dass ich nicht mehr länger grübeln musste. Und ich wollte nicht bis zum nächsten Tag warten, um Jenny wiederzusehen. Ich griff nach meinem Handy, um sie anzurufen, doch es war nicht in meiner Tasche. Im Landrover war es auch nicht. Dann fiel mir ein, dass ich es auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, als Mackenzie kam, und dass ich es, abgelenkt durch andere Dinge, dort vergessen haben musste.
Fast hätte ich mich nicht weiter darum gekümmert. Doch ich wollte nicht unangemeldet vor Jennys Tür auftauchen. Dass ich Antwort auf meine Fragen gefunden hatte, musste ja nicht unbedingt bedeuten, dass sie auch ihre Probleme gelöst hatte. Zudem war ich immer noch der Landarzt. Die Bürger von Manham mochten im Moment ihre Vorbehalte gegen mich haben, aber ich durfte nicht unerreichbar sein. Und so steuerte ich, als ich im Dorf ankam, die Praxis an, um mein Telefon zu holen.
Als ich die Hauptstraße entlangfuhr, gingen die Straßenlaternen an. Kurz bevor ich den Polizeiwohnwagen am Dorrplatz erreichte, sah ich im Lichtkegel einer Laterne eine Gruppe Männer stehen. Eine Patrouille von Scarsdales Bürgerwehr, vermutete ich. Sie starrten mich durch das blasse, gelbe Licht misstrauisch an.
Ich fuhr an ihnen vorbei, bog von der Hauptstraße ab und in die lange Auffahrt zu Henrys Haus. Die Wagenreifen knirschten auf den Kieseln, und als ich über die Anhöhe kam und den Abhang hinunterrollte, tanzte das Scheinwerferlicht über die Fassade des Hauses. Die Fenster waren dunkel, was mich nicht überraschte, da Henry für gewöhnlich früh schlafen ging. Um ihn nicht aufzuwecken, nahm ich nicht den Haupteingang, sondern ging um das Haus herum, wo ich direkt in die Praxis gelangen konnte.
Nachdem ich meine Schlüssel hervorgeholt hatte, um die Verandatüren zu meinem Büro aufzuschließen, fiel mir auf, dass die Küchentür offen stand. Wenn das Licht an gewesen wäre, hätte ich mir vielleicht nichts dabei gedacht. Doch alles war dunkel, und ich wusste, dass Henry niemals ins Bett gegangen wäre, ohne abzuschließen.
Ich ging hinüber und schaute in die Küche. Alles schien in Ordnung zu sein. Als ich gerade zum Lichtschalter greifen wollte, hielt ich inne. Ein Instinkt sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Einen Augenblick lang zog ich in Erwägung, die Polizei zu rufen. Aber was sollte ich sagen? Gut möglich, dass Henry einfach vergessen hatte, die Tür abzuschließen, nachdem er im Garten gewesen war. Meine Aktien im Dorf standen schon schlecht genug, ohne dass sich herumsprach, dass ich mich nun komplett zum Idioten gemacht hatte.
Stattdessen ging ich in den Flur. »Henry?«, rief ich, gerade laut genug, damit er mich hören konnte, falls er noch auf war, aber nicht so laut, dass ich ihn aufweckte.
Keine Antwort. Sein Arbeitszimmer befand sich am anderen Ende des Flurs, um die Ecke herum. Ohne den Gedanken abschütteln zu können, dass ich überreagierte, ging ich den Flur entlang. Die Tür des Arbeitszimmers war angelehnt, durch den Spalt konnte ich sehen, dass drinnen Licht brannte. Ich hielt inne und horchte, ob sich dort etwas rührte. Doch mein Herzschlag übertönte alle leiseren Geräusche. Ich legte eine Hand an die Tür und begann sie aufzudrücken.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Während ich zur Seite gestoßen wurde, stürmte eine massige Gestalt aus dem Zimmer. Erschrocken stürzte ich mich auf sie und spürte einen Luftzug an mir vorbeijagen. Meine Hand bekam groben, schmierigen Stoff zu fassen, und dann knallte mir etwas ins Gesicht. Ich taumelte zurück, während die Gestalt in die Küche lief. Als ich dort ankam, schwang die Hintertür in ihren Angeln. Im ersten Moment wollte ich die Verfolgung aufnehmen. Doch dann fiel mir Henry ein.
Ich schlug die Tür zum Garten zu, schloss sie ab und rannte dann zurück in sein Arbeitszimmer. Als ich dort ankam, gingen im Flur die Lichter an.
»David? Was zum Teufel ist da los?«
Henry rollte sich vom Schlafzimmer den Flur hinab. Er sah verschlafen und aufgeschreckt aus.
»Hier war jemand. Als ich ihn gestört habe, ist er abgehauen.«
Mir wurde erst jetzt richtig klar, was passiert war. Das Adrenalin machte mich zittrig. Ich ging in das Arbeitszimmer. Erleichtert sah ich, dass der Stahlschrank noch verschlossen war. Wenigstens war der Einbrecher nicht an unser Medikamentenlager gekommen. Dann schaute ich zu dem Glasschrank, in dem Henry seine Sammlung medizinischer Relikte aufbewahrte. Die Türen standen weit auf und die Objekte und Flaschen lagen überall herum.
Henry fluchte und rollte auf den Schrank zu. »Nichts anfassen! Die Polizei muss alles nach Fingerabdrücken absuchen«, warnte ich. »Hast du eine Ahnung, was mitgenommen worden sein könnte?«
Er schielte unsicher in das Durcheinander. »Ich weiß nicht genau …«
Doch während er noch sprach, war mir klar, was fehlte. Solange ich hier arbeitete, verstaubte auf dem obersten Regalbrett eine antiquierte Flasche, deren grünes Glas in der schon längst nicht mehr üblichen Warnung vor Gift vertikal geriffelt war. Jetzt war sie verschwunden.
Bis dahin hatte ich gedacht, der Eindringling hätte nach Drogen gesucht. Auch in Manham gab es Abhängige. Doch selbst der verzweifeltste Junkie hatte kaum eine Flasche Chloroform mitgenommen.
Dann riss Henry mich aus meinen Gedanken. »Mein Gott, David, ist alles in Ordnung mit dir?«
Er starrte auf meine Brust. Ich wollte schon fragen, was er meinte, aber dann sah ich es selbst. Ich erinnerte mich an den Luftzug, den ich gespürt hatte, als ich den Einbrecher im Flur gepackt hatte. Jetzt verstand ich, was es gewesen war.
Die Vorderseite meines Hemdes war aufgeschlitzt worden.