17
Die Nachricht, dass Lyn Metcalfs Leiche gefunden worden war, schlug in Manham ein wie eine lautlose Bombe. Angesichts dessen, was mit Sally Palmer geschehen war, konnte eigentlich niemand sehr überrascht sein, aber das minderte den Schock nicht. Und während Sally trotz ihrer Bekanntheit eine Fremde gewesen war, eine Zugezogene, war Lyn hier geboren worden. Sie war hier zur Schule gegangen und hatte in der Dorfkirche geheiratet. Sie war ein Teil Manhams, wie es Sally nie hätte werden können. Ihr Tod — ihre Ermordung — ging den Leuten wesentlich näher. Man konnte nicht mehr so tun, als hätte das Opfer die Saat ihres Schicksals irgendwie von außerhalb importiert. Nun trauerte das Dorf um eine der ihren.
Und fürchtete ein weiteres Opfer.
Niemand konnte noch daran zweifeln, dass in Manham etwas Unerhörtes und Schreckliches geschah. Wenn so etwas einer Frau passierte, war es schlimm genug. Dass es zwei Frauen passierte, so kurz nacheinander, war beispiellos. Plötzlich waren wir wieder eine Nachricht wert. Das Dorf fand sich erneut im Rampenlicht wieder, ein kollektiver Verkehrsunfall, den sich die Öffentlichkeit anglotzen konnte. Wie alle Opfer reagierte das Dorf erst perplex, dann abwehrend.
Und schließlich wütend.
Da es kein anderes Ventil gab, ging die Bevölkerung auf die Fremden los, die von ihrem Unglück angezogen wurden. Nicht auf die Polizei, obwohl bereits Unmut über ihre Machtlosigkeit aufkam. Doch die Medien besaßen keine Immunität. Deren fiebrige Gier nach Neuigkeiten schien für viele nicht nur einen Mangel an Respekt, sondern auch Verachtung zu zeigen. Man begegnete ihnen mit einer Feindseligkeit, die sich zuerst in versteinerten Mienen und versiegelten Mündern manifestierte, aber schon bald unverhohlener wurde. Während der nächsten Tage gingen unbewachte Ausrüstungsgegenstände entweder verloren oder erlitten mysteriöse Schäden. Kabel wurden zerschnitten, Reifen durchstochen, Benzintanks mit Zucker versetzt. Eine hartnäckige Reporterin, deren stark geschminkte Lippen ständig und unangemessen zu lächeln schienen, musste nach einem Steinwurf am Kopf genäht werden.
Niemand hatte etwas gesehen.
Aber das alles war nur ein Symptom, ein oberflächlicher Ausdruck des eigentlichen Unbehagens. Nach Jahrhunderten der Abgeschiedenheit und der Gewissheit, sich jederzeit auf sich selbst verlassen zu können, konnten sich die Bürger Manhams nun gegenseitig nicht mehr trauen. War das Misstrauen vorher ansteckend gewesen, so drohte es nun, zur Seuche zu werden. Alte Fehden und Rivalitäten gewannen an Gehässigkeit. Eines Abends, als der Rauch eines Grills in den falschen Garten zog, brach zwischen drei Generationen zweier Familien eine Prügelei aus. Eine Frau rief hysterisch die Polizei an, die schließlich herausfand, dass ihr »Verfolger« ein Nachbar gewesen war, der seinen Hund ausgeführt hatte, in zwei Häusern wurden Fenster mit Ziegelsteinen eingeworfen; in einem Fall aufgrund einer Beleidigung, während im anderen Fall kein Grund festzustellen war oder nie zugegeben wurde.
Und vor diesem Hintergrund schien ein Mann mit jedem Tag zu wachsen. Scarsdale war zur Stimme Manhams geworden. Während alle anderen die Medien mieden, legte er keinerlei Zurückhaltung an den Tag und stellte sich vor jede Kamera und jedes Mikrophon. Er spielte alle Seiten gegeneinander aus. Er prangerte sowohl das Scheitern der Polizei an, die den Mörder nicht fassen konnte, als auch die moralische Selbstgefälligkeit, die seiner Meinung nach zu dieser Situation geführt hatte. Und zu guter Letzt — sich der Ironie dieser Vorwürfe anscheinend nicht bewusst — beschuldigte er die Medien, die diese Tragödie ausbeuteten. Jedem anderen hätte man vorgeworfen, öffentlichkeitshungrig zu sein. Doch obwohl einige wenige hinter vorgehaltener Hand über die Bereitwilligkeit murrten, mit der er seine zweifelhaften Ansichten aller Welt mitteilte, erhielt unser guter Herr Pfarrer immer mehr Zulauf. Seine Stimme donnerte mit der Entrüstung, die ein jeder empfand, und was seine Reden an Sinn und Verstand vermissen ließen, machte er durch Leidenschaft und Lautstärke mehr als wett.
Trotzdem erwartete ich — etwas naiv vielleicht —, dass er sich seine radikaleren Ansichten für die Kanzel aufsparte. Doch ich hatte nicht nur Scarsdales Fähigkeit zur Überraschung unterschätzt, sondern auch seine Entschlossenheit, seine neu erworbene Bedeutung auszubauen. Und so war ich so unvorbereitet wie alle anderen, als er eine öffentliche Versammlung in der Gemeindehalle ankündigte.
Sie fand am Montag nach der Entdeckung von Lyn Metcalfs Leiche statt. Am Tag zuvor hatte es in der Kirche einen Gedenkgottesdienst für sie gegeben. Ich war überrascht, dass sich Scarsdale dieses Mal, anders als bei Sally Palmer, geweigert hatte, die Medien zuzulassen. Zynischerweise hatte ich gedacht, dass er mit dieser Maßnahme nicht so sehr Rücksicht auf die Hinterbliebenen genommen hatte, sondern eher die Medien auf die Folter spannen wollte. Als ich mich der Gemeindehalle näherte, sah ich, dass ich Recht gehabt hatte.
Die Halle war ein niedriger Zweckbau, der etwas zurückgesetzt hinter dem Dorfplatz lag. Am Morgen auf dem Weg ins Labor hatte ich Scarsdale draußen gesehen, wie er Tom Mason herrisch durch den Garten dirigiert hatte. Jetzt lag der Geruch von frisch gemähtem Gras in der Luft, und die Eibenhecken waren ordentlich beschnitten. Der gute George und sein Enkel waren offenbar auf Trab gehalten worden. Selbst der bereits makellose Rasen des Dorfplatzes war noch einmal gemäht worden, sodass die Fläche unter dem weit ausholenden Geäst der alten Kastanie und um den Stein der Märtyrerin beinahe wie eine Parkanlage aussah.
Aber ich bezweifelte, dass es unseretwegen getan worden war. Da sie zum Gedenkgottesdienst nicht zugelassen gewesen waren, stürzten sich die Medien nun auf die öffentliche Versammlung. Und die war im Grunde eher eine Pressekonferenz, merkte ich, als ich in die Halle ging. Rupert Sutton stand schwitzend und rachitisch atmend am Eingang und bewachte die Tür. Er nickte mir widerwillig zu; bestimmt wusste er, dass ich Scarsdale gegen mich aufgebracht hatte.
Drinnen war es bereits voll und heiß. Am anderen Ende befand sich eine kleine Bühne, auf der ein Tapeziertisch und zwei Stühle standen. Vor einem der Stühle war ein Mikrophon aufgebaut worden. Vor der Bühne waren mehrere Reihen Holzklappstühle aufgestellt worden, die an den Seiten und am Ende der Halle genügend Raum für die Fernsehteams und die Journalisten ließen.
Als ich ankam, waren schon alle Stühle besetzt, aber in einer Ecke, wo es etwas mehr Platz gab, sah ich Ben stehen. Ich bahnte mir einen Weg zu ihm.
»Ich hatte nicht gedacht, dich hier zu sehen«, sagte ich, als wir uns in der überfüllten Halle umsahen.
»Ich dachte, ich höre mal, was der erbärmliche Scheißkerl zu sagen hat. Mal gucken, was für einen giftigen Mist er sich diesmal zusammengereimt hat.«
Er überragte die meisten anderen Leute um einen Kopf. Mir fiel auf, dass ein paar der Kamerateams zu ihm herüberschauten, aber anscheinend wollte niemand sein Glück mit einem Interview versuchen. Vielleicht wollten sie auch nur nicht riskieren, ihre Plätze zu verlieren.
»Sieht nicht so aus, als wäre jemand von der Polizei hier«, sagte Ben. »Man hätte doch gedacht, die zeigen sich wenigstens.«
»Sie sind nicht eingeladen worden«, sagte ich ihm. Mackenzie hatte mir das erzählt. Er war nicht glücklich darüber gewesen, aber an höherer Stelle war die Entscheidung getroffen worden, sich nicht einzumischen. »Nur die Bewohner Manhams.«
»Komisch, manche der Nachbarn hab ich noch nie gesehen«, sagte er und schaute zu der Armada der Kameras und Mikrophone. Er seufzte und zog am Kragen seines Hemdes. »Gott, ist es heiß hier. Hast du danach Lust auf ein Bier?«
»Danke, aber ich kann nicht.«
»So spät noch Patienten?«
»Äh, nein, ich treffe mich mit Jenny. Du hast sie letzte Woche kennen gelernt.«
»Ich weiß, die Lehrerin.« Er grinste. »Ihr seht euch aber ziemlich oft, oder?«
Mir war bewusst, dass ich rot geworden war wie ein Teenager. »Wir sind nur Freunde.«
»Na klar.«
Ich war froh, als er das Thema wechselte. Er schaute auf seine Uhr. »Hätte ich mir denken können, dass er uns warten lässt. Was hat er deiner Meinung nach vor?«
»Das werden wir gleich erfahren«, sagte ich, als eine Tür hinter der Bühne aufging.
Aber herein kam nicht Scarsdale, sondern Marcus Metcalf. Im Saal wurde es schlagartig still. Lyn Metcalfs Ehemann sah schrecklich aus. Er war ein großer Mann, doch durch die Trauer schien er geschrumpft zu sein. In seinem zerknitterten Anzug ging er so langsam, als hätte er eine schlimme Verletzung. Als ich ihn besucht hatte, kurz nachdem die Polizei ihm die Todesnachricht überbracht hatte, schien er mich kaum wahrzunehmen. Ein Beruhigungsmittel hatte er abgelehnt, was ich ihm nicht verdenken konnte. Manche Wunden konnten nicht betäubt werden, und wenn man es versuchte, machte man sie nur schlimmer. Aber wenn ich ihn nun anschaute, fragte ich mich, ob er doch etwas genommen hatte. Er sah benommen und geschockt aus, ein Mann, der in wachem Zustand in einem Albtraum gefangen war.
Es blieb totenstill, während Scarsdale Marcus auf die Bühne folgte. Ihre Schritte hallten auf den Holzdielen wider. Als sie sich dem Tisch näherten, legte der Pfarrer eine Hand stützend — besitzergreifend, dachte ich automatisch — auf die Schulter des jüngeren Mannes. Ich hatte eine dunkle Ahnung, denn durch die Anwesenheit des Ehemanns des letzten Opfers würde alles, was Scarsdale im Schilde führte, wesentlich mehr Überzeugungskraft erhalten.
Scarsdale lotste ihn zu einem der Stühle. Zu dem ohne Mikrophon, fiel mir auf. Er wartete, bis Marcus Platz genommen hatte, ehe er sich selbst hinsetzte. Er klopfte einmal auf das Mikrophon, sich vergewissernd, dass es funktionierte, und musterte dann seelenruhig die Leute vor sich.
»Ich danke Ihnen allen, dass Sie …« Das leise Jaulen einer Rückkopplung ließ ihn zurückweichen. Ärgerlich legte er die Stirn in Falten und schob das Mikrophon etwas von sich weg, bevor er fortfuhr. »Ich danke allen für ihr Kommen. Dies ist eine Zeit der Trauer, die ich unter normalen Umständen respektieren würde. Aber leider sind die Umstände alles andere als normal.«
Verstärkt klang seine Stimme noch sonorer als sonst. Während er sprach, schaute Lyn Metcalfs Ehemann auf den Tisch, als wäre er sich keines anderen Menschen im Saal bewusst.
»Ich werde mich kurz fassen, aber was ich zu sagen habe, betrifft uns alle. Es betrifft jeden in diesem Dorf. Ich möchte nur darum bitten, mich erst anzuhören, bevor Fragen gestellt werden.« Scarsdale hatte niemanden von der Presse angesehen, aber es war offensichtlich, an wen der letzte Punkt gerichtet war.
»Nun sind zwei Frauen, die wir alle gekannt haben, getötet worden«, fuhr er fort. »So schwer es auch zu fassen sein mag, wir können nicht länger die Tatsache verleugnen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach jemand aus diesem Dorf für die Taten verantwortlich ist. Die Polizei ist offensichtlich unfähig, vielleicht auch nicht willens, die nötigen Schritte zu unternehmen. Aber wir können uns nicht länger zurücklehnen, während Frauen verschleppt und ermordet werden.«
Mit einer bedächtigen, beinahe übertriebenen Geste deutete Scarsdale auf den Mann neben ihm. »Wir wissen alle, welchen Verlust Marcus erlitten hat. Welchen Verlust die Familie seiner Frau erlitten hat, deren Tochter, deren Schwester aus ihrer Mitte gerissen wurde. Das nächste Mal könnte es eure Frau sein. Oder eure Tochter. Oder eure Schwester. Wie lange wollen wir diesen Gräueltaten noch untätig zuschauen? Wie viele Frauen müssen noch sterben? Eine? Zwei? Noch mehr?«
Er starrte finster ins Publikum, als erwartete er eine Antwort. Nachdem niemand etwas sagte, wandte sich Scarsdale an Lyn Metcalfs Ehemann und murmelte ihm etwas zu. Der Mann blinzelte, als wache er auf. Er schaute ausdruckslos in den vollen Saal. »Du möchtest etwas sagen, nicht wahr, Marcus?«, half ihm der Pfarrer und stellte das Mikrophon vor ihm ab.
Marcus schien zu sich zu kommen. Er sah gehetzt aus. »Er hat Lyn umgebracht. Er hat meine Frau umgebracht. Er …« Seine Stimme stockte. Tränen liefen seine Wangen hinab. »Er muss gestoppt werden. Wir müssen ihn finden und … und …«
Scarsdale legte ihm eine Hand auf den Arm, entweder um ihn zu trösten oder um ihn zurückzuhalten. Als er das Mikrophon wieder zu sich zog, sah der Pfarrer zutiefst zufrieden aus.
»Genug ist genug«, sagte er ruhigen, gemessenen Tones. »Genug … ist … genug.« Um seine Worte zu betonen, schlug er dazu langsam im Takt auf den Tisch. »Die Zeit des Stillhaltens ist vorbei. Gott prüft uns. Unsere Schwäche und unsere Selbstgefälligkeit hat es dieser Kreatur erlaubt, sich als Mensch verkleidet unter uns zu mischen. Um ungestraft und voller Verachtung zuzuschlagen. Und warum? Weil er weiß, dass er es kann. Weil er sieht, wie schwach wir sind. Und er fürchtet die Schwäche nicht.«
Das Mikrophon machte einen Satz, als er mit der Faust auf den Tisch knallte.
»Nun ist es an der Zeit, dass wir ihn das Fürchten lehren. Nun ist es an der Zeit, dass wir Stärke zeigen! Manham ist schon zu lange Opfer gewesen! Wenn die Polizei uns nicht schützen kann, dann müssen wir uns selbst schützen! Es ist unsere Pflicht, diese Kreatur auszumerzen!«
Sein Geschrei ging in ein Geheul aus Rückkopplungen über. Als er sich zurücklehnte, geriet der Saal in Aufruhr. Viele Leute sprangen von ihren Stühlen auf, applaudierten und bekundeten lautstark ihre Zustimmung. Während die Kameras aufblitzten und die Journalisten Fragen riefen, blieb Scarsdale in der Mitte der Bühne sitzen und begutachtete sein Werk. Einen Augenblick lang schaute er mich direkt an. Seine Augen funkelten verzückt. Und triumphierend, dachte ich.
Unbemerkt bahnte ich mir einen Weg hinaus.
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»Ich kann diesen Mann einfach nicht verstehen«, sagte ich wütend. »Er scheint die Leute eher aufstacheln als beruhigen zu wollen. Was ist nur mit ihm los?«
Jenny warf einer Ente, die zu unserem Tisch gewatschelt war, ein Stück Brot zu. Wir saßen in einem Pub am Ufer des Bure, einem der sechs Flüsse, die durch die Broads flössen. Wir hatten beide nicht in Manham bleiben wollen, und obwohl wir nur ein paar Meilen entfernt waren, hatte man das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Am Flussufer waren Boote festgemacht, in der Nähe spielten Kinder, und die Tische waren mit plaudernden und lachenden Leuten besetzt. Ein englischer Bilderbuchpub, ein englischer Bilderbuchsommer. Was für ein Unterschied zu der bedrückenden Atmosphäre, die wir zurückgelassen hatten.
Jenny gab der Ente die letzten Krümel. »Er hat es geschafft, dass die Leute ihm zuhören. Vielleicht ist es das, was er will.«
»Aber merkt er denn nicht, was er da tut? Ein Mann liegt schon im Krankenhaus, weil ein paar Idioten die Sicherungen durchgebrannt sind — und er ermutigt das Dorf, eine Bürgerwehr aufzustellen! Und missbraucht Marcus Metcalf, um Unterstützung zu kriegen!«
Ich erinnerte mich, dass Scarsdale schon bei der Suche nach Metcalfs Frau an Marcus’ Seite gestanden hatte. Ich traute es unserem Pfarrer zu, dass er ihn schon damals instruiert und so die Ausbeutung der Tragödie des Ehemannes vorbereitet hatte. Jetzt bereute ich, nicht mit Marcus gesprochen zu haben, als Lyn verschwand. Ich hatte ihn in seinem Kummer nicht belästigen wollen, aber ich konnte nicht verleugnen, dass mich auch ein gewisser Egoismus davon abgehalten hatte. Ihn damals zu sehen, war eine schmerzhafte Erinnerung an meinen eigenen Verlust gewesen. Doch indem ich mich fern gehalten hatte, hatte ich Scarsdale freie Bahn gelassen. Und die Gelegenheit hatte er beim Schopf gepackt.
»Glaubst du wirklich, dass es ihm darum geht? Will er wirklich die Leute aufstacheln?«, fragte Jenny. Sie war nicht bei der Versammlung gewesen, weil sie das Gefühl hatte, noch nicht lange genug im Dorf zu leben, um an so etwas teilzunehmen. Aber ich glaube, auch die Aussicht auf die Menschenmenge hatte sie fern gehalten.
»So hat es jedenfalls geklungen. Aber ich weiß eigentlich nicht, warum ich überrascht bin. Gift und Galle zu spucken macht immer mehr Eindruck, als die andere Wange hinzuhalten. Und er hat jahrelang jeden Sonntag vor leeren Kirchenbanken gepredigt. Jetzt wird er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, um allen zu beweisen, dass er schon immer Recht gehabt hat.«
»Das klingt ja so, als wäre er nicht der Einzige, der außer sich ist.«
Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie wütend mich Scarsdale gemacht hatte. »Entschuldige. Ich mache mir nur Sorgen, dass jemand etwas Dummes tut.«
»Du kannst sowieso nichts daran ändern. Du bist nicht das Gewissen des Dorfes.«
Sie klang abgelenkt. Ich hatte den Eindruck, dass sie schon den ganzen Abend still gewesen war. Ich schaute auf ihr Profil, auf das zarte Muster der Sommersprossen auf Wange und Nase; ich betrachtete die feinen blonden Härchen auf ihrem Unterarm, die sich, von der Sonne gebleicht, von ihrer gebräunten Haut abhoben. Sie starrte in die Ferne, versunken in irgendeinen inneren Dialog.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich.
»Nein. Ich denke nur nach.«
»Worüber denn?«
»Ach … nichts Besonderes.« Sie lächelte, aber sie wirkte angespannt. »Du, hast du was dagegen, wenn wir zurückfahren?«
Ich versuchte meine Überraschung zu verbergen. »Nein, wenn du willst.«
»Bitte.«
Wir fuhren schweigend zurück. In meiner Magengrube spürte ich eine Leere. Ich verfluchte mich, dass ich so ein Theater um Scarsdale gemacht hatte. Kein Wunder, dass es ihr reichte. Großartig, jetzt hast du es vermasselt. Glückwunsch.
Es begann bereits zu dämmern, als wir Manham erreichten. Ich blinkte, um in ihre Straße abzubiegen.
»Nein, nicht«, sagte sie. »Ich … ich dachte, du könntest mir zeigen, wo du wohnst.«
Es dauerte einen Moment, ehe ich verstand. »Okay.«
Meine Stimme war belegt. Als ich den Wagen parkte, war meine Kehle wie zugeschnürt. Der dezente Moschusduft ihres Parfüms machte mich benommen. Ich schloss die Haustür auf und trat zurück, um sie hereinzulassen.
Sie ging in das kleine Wohnzimmer. Ich spürte, dass sie genauso nervös war wie ich.
»Möchtest du etwas trinken?«
Sie schüttelte den Kopf. Verlegen standen wir da. Tu etwas. Aber ich konnte nicht. In dem Zwielicht konnte ich sie nicht deutlich sehen. Nur ihre Augen, die im Halbdunkel leuchteten. Wir sahen uns an, ohne uns zu rühren. Als sie sprach, schwankte ihre Stimme.
»Wo ist das Schlafzimmer?«
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Jenny war anfangs zu aufgeregt und zitterte am ganzen Leib. Als sie sich allmählich zu entspannen begann, wurde auch ich ruhiger. Zuerst versuchte sich die Erinnerung an vertraute Berührungen und Gerüche wie eine Schablone über mich zu legen. Doch dann setzte sich die Gegenwart durch und verdrängte alles andere. Danach lag Jenny an mich geschmiegt und atmete sanft gegen meine Brust. Ich spürte, wie ihre Hände mein Gesicht ertasteten und die feuchte Spur auf meiner Wange bemerkten.
»David …?«
»Nichts, es ist nur …«
»Ich weiß. Schon gut.«
Und das war es. Ich lachte und umarmte sie und hob dann ihren Kopf. Wir küssten uns lang und innig, und als wir erneut zueinander fanden, versiegten unbemerkt meine Tränen.
Irgendwann in dieser Nacht, während wir zusammen im Bett lagen, glaubte Tina am anderen Ende des Dorfes, ein Geräusch im Garten zu hören. Wie Jenny war sie der Versammlung in der Gemeindehalle ferngeblieben. Mit einer Flasche Weißwein und einer Tafel Schokolade hatte sie es sich zu Hause gemütlich gemacht. Eigentlich hatte sie aufbleiben wollen, bis Jenny nach Hause kam, um sofort zu erfahren, wie der Abend verlaufen war. Doch während sie sich die DVD anschaute, die sie sich ausgeliehen hatte, musste sie gähnen und entschied, ins Bett zu gehen. Als sie dann den Fernseher ausstellte, hörte sie draußen ein Geräusch.
Tina war nicht dumm. Es lief ein Mörder frei herum, der bereits zwei Frauen umgebracht hatte. Sie Öffnete die Tür nicht. Stattdessen schnappte sie sich das Telefon, schaltete das Licht aus und ging zum Fenster. Mit dem Telefon in der Hand, jederzeit bereit, die Polizei anzurufen, spähte sie vorsichtig in den Garten.
Nichts. Es war Vollmond und trotz der späten Stunde hell draußen. Im Garten und auf der Koppel dahinter war nichts Bedrohliches zu sehen. Trotzdem schaute sie noch eine Weile hinaus, ehe sie zu der Überzeugung gelangte, dass sie sich getäuscht hatte.
Erst am nächsten Morgen sah sie es. Mitten auf dem Rasen lag ein toter Fuchs. So, wie er dort platziert war, sah es beinahe arrangiert aus. Wenn sie von den Schwanenflügeln oder der Wildente oder den anderen toten Kreaturen gewusst hätte, mit denen der Mörder seine Werke geschmückt hatte, hätte Tina nicht getan, was sie als Nächstes tat.
Aber sie wusste nichts davon. Als echtes Mädchen vom Land lud sie den toten Fuchs auf eine Schaufel und warf ihn in die Mülltonne. Den Wunden nach zu urteilen, war er wahrscheinlich in den Garten gekrochen, nachdem er von einem Hund angefallen worden war, dachte sie. Vielleicht war er auch überfahren worden. Sie hätte es dennoch Jenny gegenüber erwähnen können, und wenn nur nebenbei. Und die hätte es mir erzählen können. Doch Jenny war an diesem Abend nicht nach Hause gekommen. Jenny war immer noch bei mir, und als Tina sie wiedersah, ging es selbstverständlich um ein ganz anderes Thema als um tote Tiere.
Deshalb erzählte Tina niemandem von dem toten Fuchs. Erst Tage später, als die Bedeutung ihrer Entdeckung offensichtlich wurde, erinnerte sie sich wieder daran.
Aber da war es schon zu spät.