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Obwohl es später als sonst war, als Lyn den Damm erreichte, der durch das Schilf führte, war der Morgen noch nebliger als am vergangenen Tag. Alles war mit einem weißen Schleier überzogen, der sich zu ziellosen Formen kräuselte. Später sollte er abziehen, und zur Mittagszeit sollte es einer der heißesten Tage des Jahres werden. Doch im Moment war es kühl und feucht, sodass man sich weder Sonne noch Hitze vorstellen konnte.

Sie fühlte sich steif und außer Form. Sie und Marcus waren am vergangenen Abend lange aufgeblieben, um einen Film anzuschauen, und das nahm ihr Körper immer noch übel. An diesem Morgen war ihr das Aufstehen ungewöhnlich schwer gefallen, und sie hatte sich über Marcus geärgert, der nur abweisend gebrummt und sich im Bad eingeschlossen hatte. Jetzt, hier draußen, waren ihre Muskeln steif und müde. Lauf es weg. Danach wirst du dich besser fühlen. Sie verzog das Gesicht. Ja, genau.

Um sich von der Qual des Laufens abzulenken, dachte sie an das Päckchen, das sie in der Kommode unter ihren BHs und Slips versteckt hatte, wo Marcus es mit Sicherheit nicht finden würde. Er interessierte sich nur dann für ihre Unterwäsche, wenn sie von ihr getragen wurde.

Sie war nicht mit der Absicht in die Drogerie gegangen, einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Doch als sie die Packungen auf dem Regal gesehen hatte, hatte sie spontan eine in ihren Korb zu den Tampons gelegt, die sie hoffentlich nicht mehr benötigen würde. Selbst dann hätte sie es sich fast noch anders überlegt. In diesem Ort konnte man kaum etwas geheim halten, und der Kauf eines Schwangerschaftstests könnte dazu führen, dass noch vor Tagesende das gesamte Dorf davon wusste.

Aber die Drogerie war leer gewesen, und an der Kasse hatte nur ein gelangweiltes junges Mädchen gesessen. Sie war neu, gleichgültig jedem gegenüber, der älter als achtzehn war, und hatte wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen, was Lyn gekauft hatte, geschweige denn Interesse an Klatsch. Mit rotem Gesicht war Lyn vorgetreten und hatte in ihrer Tasche nach dem Geld gekramt, während der Teenager lustlos den Preis des Tests in die Kasse getippt hatte.

Dämlich grinsend war sie hinausgeeilt, nur um geradewegs mit einem der Ärzte zusammenzustoßen. Mit dem jüngeren, nicht mit Dr. Maitland. Dr. Hunter. Ein stiller Mann, aber recht gut aussehend. Als er nach Manham gekommen war, hatte er unter den jüngeren Frauen einen ziemlichen Wirbel verursacht, was er allerdings nicht zu bemerken schien. Gott, es war ihr so peinlich gewesen, dass sie nur lachen konnte. Er musste sie für verrückt gehalten haben, als sie ihn wie eine Idiotin angestrahlt hatte. Oder er dachte, sie wäre scharf auf ihn. Bei dem Gedanken musste sie nun erneut lächeln.

Der Lauf zeigte seine Wirkung. Ihre Muskeln lockerten sich endlich, Verspannungen und Schmerzen ließen nach, als das Blut zu pulsieren begann. Jetzt lag der Wald direkt vor ihr, und als sie in die Bäume schaute, wurde eine dunkle Assoziation in ihrem Unterbewusstsein aufgewühlt. Abgelenkt durch die Erinnerung an die Ereignisse in der Drogerie konnte sie sie zuerst nicht einordnen. Dann dämmerte es ihr. Bis jetzt hatte sie nicht mehr an den toten Hasen gedacht, den sie gestern auf dem Weg gefunden hatte. Auch nicht an das Gefühl, beobachtet worden zu sein, als sie in den Wald gekommen war.

Plötzlich war ihr die Vorstellung, wieder in den Wald zu laufen, seltsam unangenehm, besonders bei diesem Nebel. Töricht, dachte sie und gab ihr Bestes, den Gedanken zu verscheuchen. Trotzdem wurde sie etwas langsamer, als sie sich dem Wald näherte. Nachdem ihr das bewusst wurde, schnalzte sie irritiert mit der Zunge und beschleunigte wieder. Erst als sie die Baumreihe schon fast erreicht hatte, musste sie an die Frauenleiche denken, die gefunden worden war. Aber das war nicht hier in der Nähe gewesen, sagte sie sich. Außerdem müsste der Mörder schon ein ziemlicher Masochist sein, wenn er so früh draußen wäre, dachte sie voller Ironie, Und dann schlössen sich die ersten Bäume um sie.

Es war eine Erleichterung, dass sich die Vorahnung, die sie am vergangenen Tag gespürt hatte, nicht erneut einstellte. Der Wald war wieder einfach nur ein Wald. Der Pfad war leer, und der tote Hase war mittlerweile bestimmt ein Teil der Nahrungskette. So war die Natur nun einmal. Sie warf einen Blick auf die Stoppuhr an ihrem Handgelenk, sah, dass sie ein oder zwei Minuten über ihrer üblichen Zeit lag, und beschleunigte ihren Schritt, als sie sich der Lichtung näherte. Die Steinsäule war nun in Sichtweite, eine dunkle Gestalt im Nebel vor ihr. Sie hatte sie fast erreicht, als sie bemerkte, dass mit dem Stein etwas nicht stimmte. Dann lösten sich Licht und Schatten auf, und alle Gedanken ans Laufen verschwanden.

Ein toter Vogel war an den Stein gebunden worden. Eine Wildente, deren Hals und Füße mit Draht umwickelt waren.

Lyn schaute sich schnell um. Aber es war nichts zu sehen. Nur Bäume und die tote Ente. Sie wischte sich Schweiß aus den Augen und betrachtete sie erneut. Blut hatte die Federn dunkel verfärbt, wo der dünne Draht in den Körper schnitt. Unsicher, ob sie das Tier losbinden sollte oder nicht, beugte sie sich vor, um den Draht genauer zu untersuchen.

Der Vogel öffnete die Augen.

Lyn schrie auf und stolperte zurück, während die Ente zu zetern begann und mit dem Kopf am Draht riss, der ihren Hals festhielt. Sie verletzte sich dabei noch mehr, aber Lyn brachte es nicht über sich, den wild schlagenden Flügeln näher zu kommen. Sie begann wieder klar zu denken und stellte eine Verbindung zwischen dem Vogel und dem toten Hasen her, der auf dem Pfad gelegen hatte, als sollte sie ihn finden. Und dann überfiel sie eine noch viel schrecklichere Erkenntnis.

Wenn der Vogel noch am Leben war, dann konnte er noch nicht lange hier sein. Jemand hatte ihn erst vor kurzem dort festgebunden.

Jemand, der wusste, dass sie ihn finden würde.

Ein Teil von ihr wollte das als Hirngespinst abtun, aber sie sprintete schon den Pfad zurück. Zweige peitschten sie, als sie an ihnen vorbeirannte. Rhythmus und Tempo spielten nun keine Rolle mehr, eine Stimme in ihrem Kopf schrie nur: Raus hier, raus hier, raus hier. Es war ihr völlig egal, ob sie töricht war oder nicht, sie wollte einzig und allein den Wald hinter sich lassen und wieder ins Freie gelangen. Nur noch eine Biegung des Pfades, dann könnte sie den Waldausgang sehen. Sie keuchte beim Laufen, warf immer wieder einen kurzen Blick zu den Bäumen auf beiden Seiten und erwartete jeden Augenblick, dass jemand hervortreten würde. Aber niemand tauchte auf. Halb stöhnend, halb schluchzend näherte sie sich der letzten Kurve. Gleich geschafft, dachte sie, und während sich Erleichterung in ihr breit machte, schnappte unter ihr etwas nach ihrem Fuß.

Sie hatte keine Zeit zu reagieren. Sie stürzte vornüber zu Boden, und beim Aufprall wich alle Luft aus ihrer Lunge. Sie konnte nicht atmen, sie konnte sich nicht bewegen. Betäubt schnappte sie nach Luft, dann noch einmal und sog dabei den feuchten Geruch der Lehmerde ein. Noch immer benommen, schaute sie nach, was sie zum Stolpern gebracht hatte. Zuerst ergab das, was sie sah, keinen Sinn. Ein Bein war seltsam ausgestreckt und der Fuß in einem komischen Winkel verdreht. Eine dünne, schimmernde Angelschnur war darum geschlungen. Nein, wurde ihr klar, keine Angelschnur.

Draht.

Die Erkenntnis kam zu spät. Als sie versuchte, sich aufzurappeln, hei ein Schatten über sie. Etwas drückte auf ihr Gesicht und würgte sie. Sie versuchte, dem erstickenden, chemischen Gestank auszuweichen, und wehrte sich mit aller Kraft ihrer Arme und Beine. Es reichte nicht. Und nun verebbte selbst diese Kraft. Ihre Gegenwehr wurde schwächer, während der Morgen zu verschwimmen begann und das Licht verblasste und alles schwarz wurde. Nein! Sie wollte sich widersetzen, doch wie ein Kieselstein, der in einen Brunnen fiel, sank sie immer tiefer in die Dunkelheit.

Gab es noch einen letzten Augenblick der Fassungslosigkeit, ehe sie das Bewusstsein verlor? Möglich, auch wenn er nur kurz gewesen sein wird.

Sehr kurz.

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Für den Rest des Dorfes brach ein Tag wie jeder andere an. Vielleicht gab es ein wenig mehr Aufregung wegen der andauernden Präsenz der Polizei und den Spekulationen über die Identität der toten Frau. Es war wie in einer Seifenoper, Manham bekam sein eigenes Melodrama. Jemand war gestorben, ja, aber für die meisten Leute war es noch eine Tragödie, mit der sie nichts zu tun hatten, und deshalb im Grunde überhaupt keine Tragödie. Die unausgesprochene Vermutung lautete, dass es sich um eine Fremde handelte. Wüsste es denn nicht jeder, wenn es jemand aus dem Dorf gewesen wäre? Würde man das Opfer nicht vermisst und den Täter erkannt haben? Nein, viel wahrscheinlicher war es jemand von außerhalb, irgendein menschliches Strandgut aus der Stadt, das in den falschen Wagen gestiegen war, nur um hier angespült zu werden. Und so wurde die Sache beinahe als Unterhaltung angesehen, ein seltenes Schauspiel, das ohne Schrecken und Kummer genossen werden konnte.

Nicht einmal die Tatsache, dass die Polizei nach Sally Palmer fragte, konnte etwas daran ändern. Jeder wusste, dass sie Schriftstellerin war und häufig nach London fuhr. Ihr Gesicht war den Leuten noch zu frisch im Gedächtnis, um es mit dem Fund im Sumpf in Verbindung zu bringen. Und deshalb waren die Bürger Manhams unfähig, irgendeinen Aspekt der Sache ernst zu nehmen, und brauchten lange, um die Tatsache zu akzeptieren, dass sie nicht nur Zuschauer waren, sondern eine wesentlich zentralere Rolle spielten.

Noch vor Ende des Tages sollte sich das ändern.

Für mich änderte es sich um elf Uhr am Vormittag mit einem Anruf von Mackenzie. Ich hatte schlecht geschlafen und war früh in die Praxis gegangen, wo ich versuchte, die Spuren eines weiteren Albtraumes aus dem Kopf zu kriegen. Als das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte und Janice mir sagte, wer mich sprechen wollte, krampfte sich mein Magen noch weiter zusammen.

»Stellen Sie ihn durch.«

Die Pause in der Verbindung erschien endlos und doch nicht lang genug.

»Wir haben einen übereinstimmenden Fingerabdruck«, sagte Mackenzie, sobald er durchgestellt war. »Es ist Sally Palmer.«

»Sind Sie sicher?« Dumme Frage, dachte ich.

»Es besteht kein Zweifel. Die Abdrücke stimmen mit den Proben aus ihrem Haus überein. Und außerdem haben wir ihre Abdrücke in der Datei. Sie wurde als Studentin bei einer Demonstration verhaftet.«

Sie war mir nicht besonders militant vorgekommen, aber ich hatte sie ja auch nicht gut genug kennen gelernt. Und das würde ich nun auch nicht mehr.

Mackenzie war noch nicht fertig. »Jetzt, wo wir die Identität festgestellt haben, können wir loslegen. Aber ich dachte, es würde Sie interessieren, dass wir immer noch niemanden gefunden haben, der sich erinnern kann, sie nach dem Grillfest gesehen zu haben.«

Er wartete, als müsste ich in dieser Information eine Bedeutung erkennen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich darauf konzentrieren konnte, aber dann sah ich, was er meinte. »Sie meinen, die Rechnung geht nicht auf.«

»Wenn sie erst seit neun oder zehn Tagen tot war, stimmt was nicht. Es sieht nun so aus, als wäre sie seit fast zwei Wochen verschwunden gewesen. Damit bleiben mehrere Tage ungeklärt.«

»Das war nur eine Schätzung«, sagte ich. »Ich könnte mich täuschen. Was meint der Pathologe?«

»Er ist noch bei der Arbeit«, sagte er trocken. »Aber bisher kommt er zu keinen anderen Schlüssen.«

Das überraschte mich nicht. Einmal hatte ich es mit einem Mordopfer zu tun gehabt, das mehrere Wochen in einem Kühlschrank gelagert worden war, ehe der Mörder sich der Leiche schließlich entledigt hatte, aber normalerweise folgten die chemischen Prozesse der Verwesung einem geordneten Zeitplan. Abhängig von der Umgebung konnten sie variieren und durch Temperatur und Luftfeuchtigkeit verlangsamt oder beschleunigt werden. Aber wenn diese Variablen berücksichtigt wurden, war der Prozess nachvollziehbar. Und was ich am vergangenen Tag im Sumpf gesehen hatte — ich brachte es immer noch nicht fertig, das Gesehene mit der Frau in Verbindung zu bringen, die ich gekannt hatte —, war so unbestechlich gewesen wie die Hand auf einer Stoppuhr. Man musste es nur lesen können.

Und damit waren nur wenige Pathologen vertraut. Es gab gewisse Überschneidungen zwischen der forensischen Anthropologie und der Pathologie, aber sobald sie es mit ernsthafter Verwesung zu tun hatten, mussten die meisten Pathologen passen. Ihr Fachgebiet war die Ermittlung der Todesursache, und die war zunehmend schwieriger zu bestimmen, sobald die Chemie des Körpers zusammenbrach. An diesem Punkt begann meine Arbeit.

Aber jetzt nicht mehr, sagte ich mir.

»Sind Sie noch dran, Dr. Hunter?«, fragte Mackenzie.

»Ja.«

»Gut, denn nun stehen wir vor einem Dilemma. So oder so, wir müssen wissen, was in diesen ungeklärten Tagen passiert ist.«

»Sie könnte einfach weg gewesen sein. Vielleicht musste sie verreisen und hatte keine Zeit, es jemandem zu sagen.«

»Und dann wurde sie gleich nach ihrer Rückkehr ermordet, ohne dass irgendwer im Dorf sie gesehen hat?«

»Warum nicht?«, sagte ich stur. »Sie könnte einen Einbrecher überrascht haben.«

»Vielleicht«, räumte Mackenzie ein. »Wie auch immer, wir müssen Klarheit haben.«

»Ich verstehe nicht, was ich damit zu tun habe.«

»Was ist mit dem Hund?«

»Dem Hund?«, wiederholte ich, doch ich konnte mir bereits vorstellen, worauf er hinauswollte.

»Man kann getrost davon ausgehen, dass der Mörder von Sally Palmer auch ihren Hund getötet hat. Die Frage lautet also: Wie lange ist der Hund schon tot?«

Einerseits war ich beeindruckt von Mackenzies Scharfsinn, andererseits ärgerte mich, dass ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich hatte natürlich alles getan, um nicht darüber nachzudenken. Aber früher hätte ich nicht auf die Idee gebracht werden müssen.

Er fuhr fort. »Wenn der Hund ungefähr genauso lange tot ist, dann wird Ihre Einbrechergeschichte glaubwürdiger. Sie kehrt von irgendwo zurück, ihr Hund stört einen Eindringling, der beide tötet und ihre Leiche in den Sumpf bringt. Oder so ähnlich. Wenn der Hund jedoch schon länger tot ist, wirft es ein ganz anderes Licht auf die Geschichte. Denn dann hat ihr Mörder sie nicht sofort umgebracht. Er hat sie ein paar Tage gefangen gehalten, bis ihm langweilig wurde und er sie mit einem Messer aufgeschlitzt hat.«

Mackenzie hielt inne, damit seine Worte ihre Wirkung entfalten konnten. »Und ich denke, das müssen wir herausfinden, oder, Dr. Hunter?«

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Sally Palmers Haus hatte sich seit meinem letzten Besuch verwandelt. Damals war es still und leer gewesen, jetzt war es voller grimmiger und ungebetener Besucher. Überall auf dem Hof standen Polizeifahrzeuge, während uniformierte Beamte und solche in den weißen Overalls der Spurensicherung ihrer Arbeit nachgingen. Doch die Betriebsamkeit schien die Atmosphäre der Verlassenheit nur zu verstärken und verwandelte ein ehemaliges Zuhause in eine erbärmliche Konserve der jüngsten Vergangenheit, die auseinander genommen und genau studiert wurde.

Nichts schien mehr auf Sally hinzudeuten, als ich mit Mackenzie über den Hof ging.

»Der Tierarzt ist wegen der Ziegen gekommen«, erzählte er mir. »Die Hälfte war bereits tot, ein paar musste er einschläfern, er war jedoch überrascht, wie viele überlebt haben. Ein oder zwei Tage länger, und die wären auch verendet. Ziegen sind zähe Viecher, aber nach seiner Ansicht müssen sie ein, zwei Wochen ohne Futter und Wasser gewesen sein, um in einen solchen Zustand zu kommen.«

Der Bereich hinter dem Haus, wo ich den Hund entdeckt hatte, war abgesperrt worden, aber sonst war noch alles so, wie ich es vorgefunden hatte. Niemand hatte es besonders eilig, einen Hund abzutransportieren, und entweder hatte das Team der Spurensicherung seine Arbeit hier bereits erledigt, oder man glaubte, dass andere Dinge Priorität hatten. Mackenzie trat zurück und steckte sich einen Minzbonbon in den Mund, während ich mich neben den Kadaver hockte. Er sah deutlich kleiner aus als beim letzten Mal — was nicht unbedingt eine trügerische Erinnerung war, da die Verwesung mittlerweile einen beinahe sichtbaren Zermürbungskrieg mit den Überresten führte.

Das Fell täuschte und verdeckte die Tatsache, dass der Hund zum größten Teil nur noch aus Knochen bestand. Auch Sehnen und Knorpel waren noch vorhanden, wie die offene Halsröhre, die in der Wunde an der Kehle zu sehen war. Weiches Gewebe gab es jedoch so gut wie gar nicht mehr. Mit einem Stock stocherte ich leicht im Boden herum, registrierte die leeren Augenhöhlen und stand dann auf.

»Und?«, fragte Mackenzie.

»Schwer zu sagen. Man muss die geringere Körpermasse berücksichtigen. Außerdem wird das Fell eine gewisse Auswirkung auf das Tempo der Verwesung haben. Welche, weiß ich allerdings nicht genau. Ich habe bei meiner Arbeit erst einmal mit Tieren zu tun gehabt, und zwar mit Schweinen, aber die haben eine Haut und kein Fell. Ich vermute jedoch, dass es für Insekten schwerer ist, ihre Eier abzulegen, mal abgesehen von den offenen Wunden. Also verlangsamt das Fell den Prozess wahrscheinlich.«

Ich dachte eher laut nach, als dass ich zu ihm sprach, ich durchforstete meine verstaubte Erinnerung und durchsuchte das Wissen, das in den letzten Jahren untätig geschlummert hatte.

»Das frei liegende Gewebe haben Tiere weggeknabbert. Sehen Sie hier, an den Augenhöhlen? Der Knochen ist abgenagt. Für Füchse sind die Spuren zu klein, wahrscheinlich waren es Nagetiere oder Vögel. Das ist vermutlich ziemlich früh passiert, denn wenn das Fleisch fault, gehen die Tiere nicht mehr dran. Aber deshalb gibt es weniger weiches Gewebe und weniger Insektenbefall. Und der Boden hier ist wesentlich trockener als der Sumpf, wo die Frau gefunden wurde.« Ich brachte es nicht über mich, Sally Palmer zu sagen. »Deswegen sieht der Kadaver vertrocknet aus. Bei dieser Hitze und ohne Feuchtigkeit mumifiziert er. Wir haben es mit einer völlig anderen Form der Verwesung zu tun.«

»Sie wissen also nicht, wie lange der Hund schon tot ist?«, meinte Mackenzie.

»Ich weiß überhaupt nichts. Ich weise lediglich darauf

hin, dass es hier eine Menge Variablen gibt. Ich kann Ihnen sagen, was ich denke, aber vergessen Sie nicht, dass es nur eine vorläufige Einschätzung ist. Man erhält keine schnellen und stichhaltigen Antworten nach einem kurzen Blick.«

»Aber …?«

»Tja, ich habe keine leeren Hüllen gesehen, aber einige Larven sehen so aus, als wären sie kurz vorm Ausschlüpfen. Sie sind dunkler als die, die wir in der Umgebung der Leiche im Sumpf gefunden haben, und offensichtlich älter.« Ich zeigte auf die offene Wunde an der Kehle des Hundes. In der Nähe konnte man ein paar glänzende schwarze Panzer im Gras herumkrabbeln sehen. »Ein paar Käfer gibt es auch. Nicht viele, aber die kommen immer erst später. Fliegen und Maden sind sozusagen die erste Welle. Aber während die Verwesung fortschreitet, ändert sich das Verhältnis. Weniger Maden, mehr Käfer.«

Mackenzie runzelte die Stirn. »Gab es Käfer, wo Sally Palmer gefunden wurde?«

»Ich habe keine gesehen. Käfer sind allerdings kein so verlässlicher Indikator wie Maden. Und, wie gesagt, man muss alle anderen Variablen berücksichtigen.«

»Hören Sie, ich verlange nicht, dass Sie es unter Eid beschwören. Ich möchte nur eine Ahnung kriegen, wie lange der verdammte Köter tot ist.«

»Eine grobe Schätzung?« Ich schaute auf das elende Bündel aus Fell und Knochen. »Zwölf bis vierzehn Tage.«

Er kaute auf seiner Lippe und machte eine finstere Miene. »Also wurde er vor der Frau getötet.«

»So sieht es meiner Meinung nach aus. Wenn ich das hier damit vergleiche, was ich gestern gesehen habe, dann ist die Verwesung vielleicht drei, vier Tage weiter fortgeschritten. Zieht man den Tag ab, den der Hund nun schon länger draußen liegt, bleiben immer noch ungefähr drei Tage. Aber wie gesagt, das ist in diesem Stadium nur eine Vermutung.«

Er musterte mich nachdenklich. »Könnten Sie sich täuschen?«

Ich zögerte. Aber er wollte einen Rat, keine falsche Bescheidenheit. »Nein.«

Er seufzte. »Scheiße.«

Sein Handy klingelte. Er zog es von seinem Gürtelclip und ging ein Stück beiseite, bevor er sich meldete. Ich blieb beim Kadaver des Hundes und untersuchte ihn nach Spuren, die mich dazu veranlassen könnten, meine Meinung zu ändern. Aber die gab es nicht. Ich bückte mich, um mir die Kehle genauer anzusehen. Knorpel überdauerten länger als weiches Gewebe, aber auch hier hatten Tiere herumgenagt. Dennoch handelte es sich eindeutig um einen Schnitt und nicht um einen Biss. Ich nahm eine Stiftlampe aus meiner Tasche und leuchtete in die Öffnung. Bevor ich wieder die Mandeln eines Patienten untersuchte, würde ich daran denken müssen, sie zu desinfizieren. Der Schnitt ging bis zum zervikalen Rückenwirbel. Ich richtete den Lichtstrahl auf eine blasse Kerbe im Knochen. Das hatte kein Tier verursacht. Die Klinge war so tief eingedrungen, dass sie auch das Rückgrat beschädigt hatte.

Es musste also ein großes Messer gewesen sein. Und ein scharfes.

»Was entdeckt?«

Ich war so vertieft gewesen, dass ich nicht gehört hatte, wie Mackenzie zurückgekommen war. Ich erzählte ihm, was ich herausgefunden hatte. »Wenn die Kerbe tief genug ist, könnte man vielleicht feststellen, ob es ein Sägemesser war oder nicht. Auf jeden Fall braucht man Kraft, um so tief einzuschneiden. Sie suchen nach einem kräftigen Mann.«

Mackenzie nickte, er machte aber einen abwesenden Eindruck. »Passen Sie auf, ich muss los. Nehmen Sie sich hier so viel Zeit, wie Sie brauchen. Ich sage den Beamten, dass Sie nicht gestört werden sollen.«

»Nicht nötig. Ich bin fertig.«

»Sie lassen sich nicht umstimmen?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sagen kann.«

»Sie könnten uns mehr sagen, wenn Sie wollten.«

Allmählich ärgerte mich, wie er mich zu manipulieren versuchte. »Damit waren wir doch schon durch. Ich habe getan, was Sie wollten.«

Mackenzie schien etwas abzuwägen. Er schielte in die Sonne. »Die Situation hat sich verändert«, sagte er, nachdem er eine Entscheidung getroffen hatte. »Es ist noch jemand verschwunden. Vielleicht kennen Sie die Frau. Lyn Metcalf.«

Der Name traf mich wie ein Schlag. Mir fiel wieder ein, sie am Abend vorher bei der Drogerie gesehen zu haben. Und dass ich gedacht hatte, wie glücklich sie wirkte.

»Ist heute Morgen laufen gegangen und nicht zurückgekommen«, fuhr Mackenzie fort. »Könnte falscher Alarm sein, aber im Moment sieht es nicht danach aus. Und wenn es kein falscher Alarm ist, wenn dies der gleiche Mann ist, dann ist die Kacke wirklich am Dampfen. Denn dann ist Lyn Metcalf entweder tot, oder sie wird irgendwo gefangen gehalten. Und nach allem, was man Sally Palmer angetan hat, wünsche ich das niemandem.«

Ich hätte fast gefragt, warum er mir das alles erzählte, doch während sich die Frage noch formte, wusste ich die Antwort schon. Einerseits übte er mehr Druck auf mich aus, damit ich kooperierte. Andererseits war Mackenzie eben Polizist. Die Tatsache, dass ich Sally Palmer als vermisst gemeldet hatte, setzte mich zwar weit ans Ende der Liste der möglichen Verdächtigen, da es nun aber ein zweites Opfer gab, war wieder alles offen. Jeder musste berücksichtigt werden.

Auch ich.

Mackenzie hatte meine Reaktion beobachtet. Seine Miene war unergründlich. »Ich melde mich. Und ich muss Sie sicherlich nicht bitten, niemandem davon zu erzählen, Dr. Hunter. Ich weiß ja, dass Sie Geheimnisse gut für sich behalten können.«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging davon. Sein Schatten folgte ihm über den Rasen wie ein schwarzer Hund.

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Ich weiß nicht, ob er es ernst gemeint hatte, aber Mackenzie hätte es sich sparen können, mir zu sagen, ich sollte Lyn Metcalfs Verschwinden für mich behalten. In einem kleinen Ort wie Manham blieb ein solcher Vorfall nicht lange geheim. Als ich von Sally Palmers Hof zurückkam, hatten sich bereits die ersten Gerüchte verbreitet. Sie machten ungefähr zur gleichen Zeit die Runde, als die Nachricht durchsickerte, dass die ermordete Frau Sally Palmer war, ein Doppelschlag, der nur schwer zu verkraften war. Innerhalb weniger Stunden hatte sich die fiebrige Aufregung des gesamten Dorfes in einen Schock gewandelt. Die meisten Leute klammerten sich an die Hoffnung, dass die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun hatten und dass das mutmaßliche zweite »Opfer« gesund und wohlbehalten wieder auftauchte.

Aber es war eine Hoffnung, die mit jeder Stunde schwächer wurde.

Nachdem Lyn nicht von ihrem Lauf zurückgekehrt war, hatte sich ihr Ehemann Marcus aufgemacht, um sie zu suchen. Er gab später zu, dass er am Anfang nicht übermäßig besorgt gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt, bevor Sally Palmers Name bekannt gegeben worden war, hatte er vor allem befürchtet, dass seine Frau eine andere Strecke ausprobiert haben könnte und sich verlaufen hatte. Das war schon einmal passiert, und als er dem Weg zum See folgte, rief er noch mit einer gewissen Verärgerung nach ihr. Lyn wusste, dass er einen arbeitsreichen Tag vor sich hatte, und nun sorgte ihr stures Bestehen auf einem Morgenlauf dafür, dass er zu spät dran war.

Auch als er das Schilf durchquerte und in den Wald kam, war er noch nicht besonders besorgt. Als er die tote, an den Stein gebundene Wildente sah, war seine erste Reaktion Wut über die sinnlose Grausamkeit. Er hatte immer auf dem Land gelebt und war kein Typ, der bei Tieren sentimental wurde, doch er verabscheute gleichgültigen Sadismus. Erst durch diesen Gedanken begann sich Angst in ihm breit zu machen. Er redete sich ein, dass der tote Vogel unmöglich etwas mit Lyns Verspätung zu tun haben konnte. Doch einmal da, war die Angst nicht mehr zu verdrängen.

Sie wurde stärker, genährt von seinen Rufen, die unbeantwortet im Wald widerhallten. Als er wieder zurückging, bemühte er sich, ruhig zu bleiben. Während er zum See zurückeilte, sagte er sich, dass sie wahrscheinlich zu Hause auf ihn wartete. Und dann sah er etwas, das seine Hoffnungen wegfegte wie eine Staubwolke.

Halb versteckt neben einer Baumwurzel lag Lyns Stoppuhr.

Er hob sie auf, sah das zerrissene Band und das gesprungene Zifferblatt. Die Angst ging nun in Panik über; er suchte nach anderen Hinweisen auf sie. Aber da war nichts. Oder er hatte nichts als solche erkannt. Er sah einen Holzpfahl, der in der Nähe in den Boden gehämmert worden war, ohne seine Bedeutung zu begreifen. Es dauerte mehrere Stunden, bis das Team der Spurensicherung feststellte, dass es die Reste einer Falle waren, und weitere, bis Blutspritzer von Lyn auf dem Weg gefunden wurden.

Aber von Lyn selbst fehlte jede Spur.