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Nach einer Weile war die Dunkelheit nicht mehr undurchdringlich. Es gab helle Punkte, die so winzig waren, dass sie erst dachte, sie wären nur eine Einbildung. Wenn sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, verschwanden sie. Erst als sie zu einer Seite schaute, wurden die winzigen Flecken wie eine horizontale Schicht aus Sternen am Rande ihres Blickfeldes sichtbar.

Und als ihre Augen sich umgewöhnt hatten, merkte sie, dass sie die Lichter leichter ausmachen konnte. Es waren nicht nur Punkte. Auch Schlitze. Helle Risse. Nach einer Weile erkannte sie, dass sie nicht überall um sie herum waren. Das Licht kam nur aus einer Richtung. Sie begann diese Seite Vorne zu nennen.

Mit diesem Anhaltspunkt begann Jenny allmählich, der sie umgebenden Dunkelheit Form und Gestalt zu geben.

Sie war nur langsam erwacht. Ein dumpfer, hämmernder Kopfschmerz hatte jede Bewegung zu einer Qual gemacht. In ihrem Kopf war alles durcheinander, doch ein schreckliches Angstgefühl hielt sie davon ab, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Sie dachte, sie wäre wieder auf dem Parkplatz, nur dass sie der Taxifahrer dieses Mal in den Kofferraum gesperrt hatte. Sie fühlte sich eingeengt und bekam keine Luft. Sie wollte um Hilfe rufen, doch ihr Mund schien wie der Rest des Körpers nicht auf ihre Befehle zu reagieren.

Allmählich waren ihre Gedanken wieder zusammenhängender geworden. Ihr wurde nun klar, dass sie sich auf jeden Fall nicht auf dem Parkplatz befand. Dieser Überfall gehörte wieder in die Vergangenheit. Doch die Erkenntnis erleichterte sie nicht. Wo war sie? Die Dunkelheit verwirrte und verängstigte sie. Als sie sich aufrichten wollte, schien etwas ihr Bein festzuhalten. Sie versuchte, es wegzuziehen, spürte, wie sich etwas zuzog, und ertastete dann mit ihren Fingern das grobe Hanfseil um ihren Knöchel. Mit wachsendem Unglauben verfolgte sie es der Länge nach, bis sie zu einem schweren Eisenring gelangte, der im Boden verankert war.

Sie war gefesselt. Und plötzlich passten das Seil, die Dunkelheit und der harte Boden unter ihr auf schreckliche Weise zusammen.

Und sie erinnerte sich.

Die Erinnerung baute sich fragmentarisch auf, ein Mosaik, das sich nach und nach zusammenfügte. Sie hatte mit David telefoniert. An der Tür hatte es geläutet, sie war nachschauen gegangen, wer es war, hatte draußen die Gestalt eines Mannes stehen gesehen, die von dem Perlenvorhang halb verdeckt war, und … und …

O Gott, das konnte nicht geschehen sein. Aber es war geschehen. Sie schrie auf und rief nach David, nach Tina. Niemand kam. Nur mit Mühe zwang sie sich aufzuhören. Atme tief durch. Reiß dich zusammen. Zitternd begann sie, sich über ihre Situation klar zu werden. Wo auch immer sie war, es war jedenfalls kühl, jedoch nicht zu kalt. Die Luft war schlecht und hatte einen üblen Geruch, den sie nicht zuordnen konnte. Aber immerhin war sie noch bekleidet, ihre Shorts und ihr Top waren unangetastet. Sie sagte sich, dass das ein gutes Zeichen war. Der Kopfschmerz war zu einem gedämpften Pochen geworden, und das intensivste Gefühl war nun Durst. Ihre Kehle war so geschwollen und trocken, dass es beim Schlucken wehtat. Zudem war sie hungrig, und bei diesem Gedanken überfiel sie eine wesentlich erschreckendere Erkenntnis.

Sie hatte kein Insulin.

Sie wusste nicht einmal, wie viel Zeit seit ihrer letzten Dosis vergangen war. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war. Am Morgen hatte sie sich ihre übliche Injektion gegeben, aber wie lange war das her? Wenn die nächste noch nicht überfällig war, dann würde es bald so weit sein. Ohne Insulin konnte ihr Blutzucker nicht reguliert werden, und sie wusste nur zu genau, was passieren würde, wenn der Spiegel zu steigen begann.

Denk nicht darüber nach, sagte sie sich schroff. Denk darüber nach, wie du hier rauskommst. Wo auch immer hier ist.

Mit ausgestreckten Händen begann sie, die äußeren Grenzen ihres Gefängnisses abzumessen. Hinter ihr befand sich eine raue Mauer, aber an allen anderen drei Seiten fasste ihre Hand nur ins Leere. Während sie in der Dunkelheit umhertastete, trat ihr Fuß gegen etwas. Sie schrie auf und stolperte zurück. Als nichts passierte, hockte sie sich nieder und suchte vorsichtig nach dem Gegenstand. Es war ein Schuh, dachte sie und untersuchte ihn mit den Fingern. Ein Turnschuh, zu klein für einen Männerschuh …

Sie ließ ihn fallen, als die Erkenntnis sie überfiel. Das war kein Turnschuh, sondern ein Laufschuh. Von einer Frau.

Von Lyn Metcalf.

Eine Weile drohte die Angst sie zu überwältigen. Seitdem sie das Seil um ihr Bein gespürt hatte, hatte Jenny versucht, die Gewissheit zu verdrängen, dass der Mörder sie als drittes Opfer auserwählt hatte. Nun war sie brutal bestätigt worden. Doch sie konnte sich keinen Zusammenbruch erlauben. Nicht, wenn sie hier herauskommen wollte.

Nachdem sie so nah an die Wand gerückt war, dass das Seil nicht mehr spannte, untersuchte sie mit ihren Fingern den Knoten. Er war so fest, dass er gut und gern aus dem gleichen Eisen wie der Ring gegossen sein könnte. Die Schlinge war nicht fest genug, um ihr Schmerzen zu verursachen, sie war jedoch zu eng, um ihren Fuß hindurchzuziehen. Wenn sie es versuchte, scheuerte sie sich nur die Haut an ihrem Knöchel auf.

Danach stemmte sie ihren nicht gefesselten Fuß gegen die Mauer und zog so fest, wie sie konnte. Weder das Seil noch der Eisenring gaben nach, doch sie zog weiter, bis ihr Kopf wieder hämmerte und ihr schwarz vor Augen wurde.

Als das Schwindelgefühl verschwunden war und sie nach Atem ringend dalag, bemerkte sie die winzigen Lichtspalten. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie real waren, versuchte sie, sie zu erreichen. Licht bedeutete, dass es einen Ausweg gab oder wenigstens etwas anderes jenseits dieses schwarzen, unendlichen Gefängnisses. Doch der Ursprung des Lichtes blieb außer Reichweite. Sie hockte sich auf den Boden und bewegte sich so weit von der Mauer weg, wie es das Seil erlaubte. Vorsichtig streckte sie ihre Hand in Richtung der winzigen Lichtspalte aus. Weniger als dreißig Zentimeter entfernt traf sie auf etwas Hartes und Unnachgiebiges. Langsam fuhr Jenny mit ihren Fingern darüber und spürte die raue Oberfläche ungehobelter Holzbretter.

Das Licht fiel durch Risse und Lücken zwischen den Brettern. Ein Spalt war genau vor ihr und etwas größer als die anderen. Sie rückte näher heran. Als ihre Wimpern die Oberfläche des Holzes berührten, zuckte sie zurück, aber dann legte sie vorsichtig ein Auge davor.

Dahinter konnte sie den Teil eines langen, abgedunkelten Raumes erkennen. Es sah aus wie ein Keller, was die unterirdische Feuchte in der Luft erklären würde. Die Wände waren aus ungetünchtem Stein, der alt wirkte. Auf Regalen standen Gläser und Dosen, die alle staubig waren. Genau gegenüber von ihr befand sich eine Werkbank aus Holz mit einem Schraubstock und einer Vielzahl von Werkzeugen. Aber das war es nicht, was ihr den Atem stocken ließ.

Wie schauderhafte Pendel hingen verstümmelte Tierkadaver von der Decke.

Es waren Dutzende. Füchse, Vögel, Hasen, Wiesel, Maulwürfe und ein Tier sah sogar wie ein Dachs aus. Sie schwankten umher, bewegt von einem leichten Luftzug wie die Oberfläche eines verkehrten Meeres. Manche waren an ihrem Hals aufgehängt, andere an den Hinterläufen, sodass man die Stümpfe sah, wo ihre Köpfe hätten sein sollen. Viele der kleinen Kadaver waren bis auf Haut und Knochen verwest. Leere Augenhöhlen starrten Jenny ausdruckslos an.

Sie unterdrückte einen Schrei und bewegte sich von den Brettern weg. Jetzt wusste sie, woher der ekelhafte Gestank kam. Und dann richteten sich ihr die Nackenhaare auf, als ihr ein erschreckender Gedanke kam. Sie stand auf und hob langsam eine Hand. Ihre Fingerspitzen strichen gegen etwas Weiches. Fell. Sie zog sofort ihre Hand zurück und zwang sich dann, noch einmal nach oben zu fassen. Dieses Mal fühlte sie Federn, die durch ihre Berührung leicht ins Schwanken geraten waren.

Auch über ihr hingen Tiere.

Diesmal stieß sie einen Schrei aus und hockte sich umhertastend auf den Boden, bis ihr Rücken die Wand berührte. Dann brach sie zusammen und legte schluchzend die Arme um sich. Doch nach und nach versiegten die Tränen. Sie wischte sich Augen und Nase. Memme. Mit Heulen würde sie auch nicht weiterkommen. Und die Tiere über ihr waren tot. Sie konnten niemandem etwas tun.

Mit neuer Entschlossenheit krabbelte sie noch einmal zur Bretterwand und spähte durch den Schlitz. Der Raum dahinter war unverändert. Niemand war dort. Und jetzt bemerkte sie etwas, dass sie durch den Schock bei der Entdeckung der toten Tiere übersehen hatte. Hinter der Werkbank war eine Nische. Das wenige Licht im Keller kam von dort, ein schwacher, künstlicher Schein. In der Nische gerade noch sichtbar war eine Treppe, die aus dem Blickfeld ragte.

Der Ausweg.

Jenny schaute sehnsüchtig auf die Stufen, rückte dann von dem Schlitz ab und stieß zur Probe gegen die Bretter. Kniend schlug sie nun mit beiden Händen dagegen. Der Aufprall stauchte ihre Arme und trieb ihr Splitter in die Handflächen. Die Holzwand rührte sich nicht.

Aber sie fühlte sich nun besser, wo sie etwas tat. Wieder und wieder knallte sie ihre Hände gegen die Bretter und vertrieb mit jedem Schlag ein wenig von der Angst, die sie zu lähmen drohte. Atemlos krabbelte sie zurück, bis das Seil locker genug war, damit sie sich hinsetzen konnte. Obwohl sie in ihrem gefesselten Bein einen Krampf hatte und die Anstrengung ihre Kopfschmerzen und ihren Durst verschlimmert hatte, spürte sie eine erbitterte Befriedigung. Sie klammerte sich daran und ließ den Gedanken nicht zu, wie wenig sie im Grunde erreicht hatte. Die Bretter waren kein unüberwindbares Hindernis. Sie hatte das Gefühl, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie die andere Seite erreicht hatte. Nur dass du nicht weißt, wie viel Zeit dir noch bleibt, nicht wahr? Doch sie verdrängte diesen Gedanken, tastete nach dem Seil und begann sich über den Knoten herzumachen.