29

Man konnte nur schwer feststellen, woher das Geräusch der Fliegen kam. Doch ich wusste, dass es aus dem Haus kam. Die leeren, dunklen Fenster starrten blind auf mich herab und halfen mir nicht weiter. Ich schaute durch das erste. Drinnen konnte ich undeutlich eine Küche erkennen, aber wenig mehr. Ich versuchte es beim nächsten. Ein Wohnzimmer, zwei abgewetzte Sessel standen vor einem ausgeschalteten Fernseher.

Ich hob meine Hand, um erneut an die Tür zu klopfen, und ließ sie dann sinken. Wenn jemand zu Hause wäre, wäre er schon längst gekommen. Ich blieb auf der Stufe stehen und wusste nicht, was ich tun sollte.

Aber ich wusste, was ich gehört hatte. Und mir war klar, dass ich es nicht ignorieren konnte. Meine Hand bewegte sich zum Türknauf. Wenn sie geschlossen war, wäre mir die Entscheidung abgenommen. Ich drehte ihn.

Die Tür ging auf.

Ich zögerte. Mir war klar, dass ich nicht einmal in Betracht ziehen durfte, was ich hier tat. Dann nahm ich den Geruch aus dem Inneren des Hauses wahr. Der leicht süßliche Gestank war mir nur allzu vertraut.

Ich schob die Tür ganz auf und schaute in einen düsteren Flur. Der Geruch war jetzt unverkennbar. Mit trockenem Mund zog ich mein Telefon hervor, um die Polizei anzurufen. Ich tappte nicht länger im Dunkeln. Etwas — jemand —

war hier gestorben. Ich hatte schon begonnen zu wählen, als ich merkte, dass ich keinen Empfang hatte. Das Haus der Masons lag in einem Funkloch. Ich fluchte und fragte mich, wie lange ich schon unerreichbar war und ob Mackenzie versucht hatte, mich anzurufen.

Das gab mir einen weiteren Grund, hineinzugehen. Doch auch wenn ich kein Festnetz gebraucht hätte, ich hatte keine Wahl. So ungern ich in das Haus gehen wollte, ich konnte jetzt nicht mehr verschwinden.

Der Gestank wurde sofort intensiver. Ich stand im Flur und versuchte, ein Gefühl für das Haus zu kriegen. Auf den ersten Blick sah es ordentlich aus, doch auf allem lag eine dicke Staubschicht.

»Hallo?«, rief ich.

Nichts. Zu meiner Rechten befand sich eine Tür. Ich öffnete sie und fand mich in der Küche wieder, die ich durch das Fenster gesehen hatte. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, auf den Tellern vergammelten hart gewordene Essensreste. Ein paar fette Fliegen waren aufgescheucht worden, aber es waren nicht genug, um für das Gebrumm verantwortlich zu sein, das ich vorher gehört hatte.

Das Wohnzimmer wirkte ähnlich verlassen. Da standen die staubigen Sessel vor dem Fernseher, die ich von draußen gesehen hatte. Ein Telefon konnte ich nirgends entdecken. Ich verließ das Zimmer und ging zur Treppe. Der Teppich auf den Stufen war alt und abgewetzt, die oberen waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Mit einer Hand auf dem Geländer blieb ich am Treppenabsatz stehen.

Ich wollte nicht dort hochgehen. Doch nachdem ich so weit gegangen war, konnte ich nicht einfach umkehren. An der Wand war ein Lichtschalter. Ich knipste ihn an und erschrak, als die Birne knallte und gleich wieder ausging.

Langsam stieg ich hinauf. Mit jeder Stufe wurde der Gestank durchdringender. Und nun kam noch ein anderer süßlicher und irgendwie teeriger Geruch hinzu, der mich an irgendetwas erinnerte. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Treppe mündete wieder in einen Flur. In der Düsternis konnte ich ein leeres, schmutziges Badezimmer und zwei weitere Türen erkennen. Ich ging zur ersten und öffnete sie. In dem Zimmer befand sich ein zerwühltes Einzelbett, das auf den nackten Bodendielen stand. Ich ging hinaus und weiter zur zweiten Tür. Als ich an den Türknauf fasste, wurde der Teergeruch stärker. Die Tür klemmte, und kurz dachte ich, sie wäre abgeschlossen. Dann gab sie plötzlich nach und ich schob sie auf.

Eine schwarze Wolke aus Fliegen umhüllte mein Gesicht. Ich scheuchte sie weg und musste bei dem fauligen Gestank aus dem Zimmer fast würgen. Eigentlich sollte ich ihn ja gewöhnt sein, doch in diesem Fall war er einfach überwältigend. Die Fliegen wurden etwas ruhiger und ließen sich allmählich wieder auf einer Gestalt auf dem Bett nieder. Mit einer Hand vor dem Mund und angehaltenem Atem trat ich näher.

Mein erstes Gefühl war Erleichterung. Die Leiche war stark verwest, und obwohl man auf den ersten Blick unmöglich sagen konnte, ob sie männlich oder weiblich war, war deroder diejenige eindeutig schon seit einiger Zeit tot. Mit Sicherheit wesentlich länger als zwei Tage. Gott sei Dank, dachte ich kraftlos.

Die Fliegen auf der Leiche schwirrten gereizt davon, als ich vorsichtig näher kam. Es wurde nun zu dunkel für sie, um noch aktiv zu sein. Wenn ich etwas später hier angekommen wäre oder sie in diesem Moment nicht vom Blitz gestört worden wären, hätte ich ihr verräterisches Summen vielleicht nie gehört. Das Fenster stand einen Spalt weit auf, sah ich jetzt. Nicht ausreichend, um das Zimmer zu lüften, doch weit genug, um die vom Geruch der Verwesung angezogenen Fliegen hereinzulassen, damit sie ihre Eier legen konnten.

Die Leiche war auf Kissen gebettet, die Arme lagen schlaff außerhalb der Decke. Neben dem Bett stand eine alte Holzkommode, auf ihr ein leeres Glas und ein stehen gebliebener Wecker. Außerdem lag dort eine Männerarmbanduhr und eine kleine Pillenflasche. Es war zu dunkel, um das Etikett zu lesen, doch dann erleuchtete ein weiterer Blitz das Zimmer. Wie bei einem Schnappschuss hob er einige Elemente hervor: die verblichene Blümchentapete, ein gerahmtes Bild über dem Bett. Außerdem konnte ich in dem kurzen, grellen Schein den Aufdruck auf der Flasche lesen: Coproxamol — die Schmerztabletten von George Mason.

Gut möglich, dass der alte Gärtner wieder Probleme mit seinem Rücken gehabt hatte, aber das war nicht der Grund, warum er in letzter Zeit nicht im Dorf gewesen war. Ich erinnerte mich, was Tom Mason auf dem Kirchhof gesagt hatte, als ich ihn gefragt hatte, wo sein Großvater war. Noch im Bett. Ich fragte mich, vor wie langer Zeit der alte George gestorben war. Und was es über Manham aussagte, dass niemandem seine Abwesenheit aufgefallen war.

Ich achtete darauf, nichts zu berühren, als ich mich zum Gehen umwandte. Dies sah eher nach einer häuslichen Tragödie als nach dem Ort eines Verbrechens aus, ich wollte aber trotzdem keine unnötige Unordnung schaffen. Jemand anderes würde feststellen müssen, woran er gestorben war, und konnte sich dann den Kopf darüber zerbrechen, warum sein Enkel es nicht gemeldet hatte. Jemand mit gesundem Menschenverstand würde kaum so handeln, doch andererseits konnte Trauer seltsame Reaktionen hervorrufen. Er wäre nicht der erste Mensch, der die Augen vor der Realität verschluss.

Als ich langsam zurückging, nahm ich wieder den teerigen Geruch wahr. Und bei der geöffneten Tür reichte das Licht nun auch aus, um die dicken, schwarzen Striche entlang der Kanten des Türrahmens zu erkennen. Am unteren Rand der Tür hing noch ein zusammengeknülltes Stück Zeitung, das mit demselben Material überzogen war. Ich erinnerte mich, wie die Tür bei meinem Eintreten erst zu klemmen schien. Als ich das schwarze Zeug vorsichtig berührte, waren meine Finger klebrig.

Es war Bitumen.

Und mit einem Mal wurde mir klar, was mir unterbewusst seit dem Vortag keine Ruhe gelassen hatte. Unter dem Duft der Blumen und des frisch gemähten Rasens im Kirchhof hatte ein anderer, schwacher Geruch gelegen. Ich war zu abgelenkt gewesen, um ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken, doch jetzt wusste ich, was es gewesen war. Bitumen, das entweder an Mason oder seinen Werkzeugen klebte, nachdem er versucht hatte, das Schlafzimmer seines Großvaters abzudichten.

Die gleiche Substanz, die ich in der Messerkerbe in Sally Palmers Rückenwirbel gefunden hatte.

Ich versuchte, mich zu beruhigen und genau nachzudenken. Es war unverstellbar, dass Tom Mason der Mörder sein könnte. Er wirkte zu friedlich und zu simpel gestrickt, um solche Gräueltaten zu planen, geschweige denn sie auszuführen.

Doch wir hatten die ganze Zeit gewusst, dass sich der Mörder hinter einer schlichten Fassade versteckt hielt. Genau das hatte Mason getan, unauffällig hatte er auf dem Friedhof oder der Dorfwiese gearbeitet und war dabei tatsächlich so sehr mit dem Hintergrund verschmolzen, dass er nie richtig wahrgenommen wurde. Immer im Schatten seines Großvaters, hatte der leise sprechende Mann nie einen Eindruck hinterlassen.

Das änderte sich nun schlagartig.

Ich sagte mir, dass ich voreilige Schlüsse zog. Noch vor wenigen Minuten war ich davon überzeugt gewesen, dass Carl Brenner der Mörder war. Aber Mason passte genauso gut in das Profil. Und Brenner lagerte nicht die verweste Leiche seines Großvaters zu Hause. Oder versuchte den Gestank mit dem gleichen Material zu überdecken, das im Halswirbel einer toten Frau gefunden worden war.

Meine Hände zitterten, als ich mein Telefon hervorholte, um Mackenzie anzurufen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich hier keinen Empfang hatte. Fluchend eilte ich die Treppe hinab. Aber auch wenn er unbedingt wissen musste, was ich entdeckt hatte, ich konnte nicht gehen, ohne mich zu vergewissern, ob Jenny hier war oder nicht. Ich raste durch das dunkle Haus und riss jede Tür auf, starrte in jedes Zimmer. In keinem war eine Menschenseele und auch kein Telefon, das ich hätte benutzen können.

Ich lief hinaus zum Landrover und probierte mein Handy erneut, falls es durch irgendein Wunder plötzlich doch Empfang haben sollte. Aber es war immer noch tot. Als ich den Wagen startete, dröhnte über mir ein Donnerschlag. Mittlerweile war es vollkommen dunkel und der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. Da der Hof nicht groß genug zum Wenden war, begann ich zurückzusetzen. Dabei streiften die Scheinwerfer durch die gegenüberliegenden Bäume, und einen Augenblick lang sah ich etwas aufblitzen.

Hätte der Wagen kein Automatikgetriebe gehabt, ich hätte den Motor abgewürgt, als ich abrupt auf die Bremse trat. Ich suchte die Stelle im Wald, wo es aufgeblitzt hatte. Doch was auch immer die Scheinwerfer eingefangen hatten, nun war es unsichtbar. Mit trockenem Mund fuhr ich langsam vorwärts und drehte das Lenkrad wieder zurück. Als der Lichtstrahl über die Bäume schwenkte, funkelte tief im Wald etwas auf.

Es war das leuchtende, gelbe Dreieck eines Nummernschildes.

Jetzt entdeckte ich, dass der Weg, auf dem ich gekommen war, nicht auf dem Hof endete, sondern weiter in den Wald führte. Obwohl er stark überwuchert war, sah er befahren aus. Aber der Wagen, der zwischen den Bäumen stand, war zu weit entfernt, um ihn erkennen zu können. Ohne die kurze Reflexion hätte ich nie gemerkt, dass dort etwas war.

Ich musste mich mit Mackenzie in Verbindung setzen, doch der Weg lockte mich. Dies war ein Privatbesitz, der Meilen von den beiden Stellen entfernt war, wo die Leichen gefunden worden waren. Dieses Gebiet war nicht durchsucht worden. Und es musste einen Grund dafür geben, dass dort ein Auto stand. Ich zögerte, hinr und hergerissen zwischen meinen beiden Möglichkeiten. Doch im Grunde war klar, was ich tun würde. Ich trat aufs Gaspedal und lenkte den Landrover auf den Weg.

Beinahe sofort war ich gezwungen, langsamer zu werden, weil die Äste bedrohlich nah kamen. Ich machte die Scheinwerfer aus, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, doch nun konnte ich nichts mehr sehen. Nachdem ich sie wieder angeschaltet hatte, schien der Weg hinter den Lichtkegeln zu verschwinden. Der Regen trommelte jetzt herab. Ich knipste die Scheibenwischer an und starrte durch die verschmierte Scheibe, während der Wagen über den unebenen Weg holperte. Das Nummernschild geriet ins Licht der Scheinwerfer, ein heller Schimmer in der Finsternis. Dann konnte ich auch das Fahrzeug erkennen. Es war kein Wagen, sondern ein Transporter.

Er stand neben einem niedrigen, von Bäumen umgebenen Gebäude.

Ich hielt an. Als ich die Scheinwerfer ausmachte, versank draußen alles in totaler Finsternis. Ich suchte im Handschuhfach nach der Taschenlampe und betete, dass die Batterien nicht leer waren. Ein gelber Lichtstrahl leuchtete auf, als ich sie einschaltete. Mit rasendem Puls öffnete ich die Wagentür und schwenkte schnell die Taschenlampe umher. Niemand sprang hervor. Nur Bäume waren zu sehen, und durch die Bäume die schwarze, undurchdringliche Oberfläche des Sees. Der Regen durchnässte mich und übertönte jedes andere Geräusch, als ich zum Heck des Landrovers ging und einen schweren Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste nahm. Ein wenig beruhigt durch sein Gewicht näherte ich mich dem Gebäude.

Der davor stehende Transporter war alt und verrostet. Die Hecktüren waren mit einem Stück Schnur zusammengebunden. Als ich den Knoten löste, sprangen sie quietschend auf. Drinnen befanden sich Gartengeräte: Spaten, Harken, sogar eine Schubkarre. Außerdem entdeckte ich eine Drahtrolle und dachte, dass Carl Brenner seinem Bruder die Wahrheit gesagt hatte. Die Falle, die Scott verletzt hatte, war keine von seinen gewesen.

Auch die anderen Fallen nicht.

Als ich mich abwandte, fiel der Strahl der Taschenlampe auf etwas anderes. Auf einer Ansammlung von Werkzeugen lag ein Klappmesser. Es war nicht zusammengeklappt worden, die geriffelte Klinge sah wie eine kleine Säge aus. Sie war schwarz verkrustet.

Mir war klar, dass ich auf die Waffe blickte, die Sally Palmers Hund getötet hatte.

Ich erschrak, als es plötzlich blitzte. Der Donner folgte fast sofort, ein tosendes Grollen, das alles erschütterte. Ich überprüfte noch einmal mein Handy, obwohl ich eigentlich nicht damit rechnete, Empfang zu haben. Kein Signal. Ich ging vom Transporter weg weiter auf das niedrige Gebäude zu, bis ich spürte, dass etwas meinen Oberschenkel streifte. Ich schaute hinab und sah einen rostigen Drahtzaun, der durchs Gestrüpp verlief. Dutzende dunkler Gegenstände hingen an ihm. Zuerst konnte ich nicht erkennen, was es war, dann richtete ich die Taschenlampe auf die Objekte unmittelbar vor mir und sah Knochen aufschimmern. An den Draht waren die Kadaver von kleinen Vögeln und Tieren gehängt und der Verwesung überlassen worden.

Es waren Dutzende.

Der Regen pladderte durch die Bäume, während ich mir entlang des Drahtzaunes einen Weg bahnte. Nach ein paar Metern hörte er einfach auf, die Drahtenden lagen zusammengerollt im Gras. Ich stieg darüber und umrundete das Gebäude. Es war ein gedrungener, schmuckloser Block ohne Türen oder Fenster. An manchen Stellen waren die Betonwände aufgeplatzt und man konnte das Gerippe der Bewehrungsstäbe erkennen. Doch erst als ich auf der anderen Seite die tief eingelassene Tür und das einzelne, schmale Fenster entdeckte, wurde mir klar, um was für ein Bauwerk es sich handelte. Es war ein alter Luftschutzbunker. Mir war bekannt, dass manche Leute zu Beginn des Zweiten Weltkriegs so albern gewesen waren, ihre Landsitze mit Bunkern auszurüsten, die zum größten Teil nie benutzt worden waren.

Doch für diesen schien jemand eine Verwendung gefunden zu haben.

So leise wie möglich näherte ich mich der Tür. Sie war aus Stahl und völlig verrostet. Ich hatte erwartet, dass sie abgeschlossen war, doch sie schwenkte auf, als ich dagegen stieß.

Muffige Luft schlug mir entgegen. Mit klopfendem Herzen trat ich ein. Im Schein der Taschenlampe offenbarte sich ein einzelner Raum, der abgesehen von ein paar verwelkten Blättern am Boden leer war. Ich leuchtete über die nackten Wände, und dann fiel der Lichtstrahl auf eine zweite Tür, die fast unsichtbar in einer Ecke verborgen war.

Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, drehte ich mich gerade noch rechtzeitig um, um die Außentür zufallen zu sehen. Ich wollte sie abfangen, doch ich war zu langsam. Der Knall war erschreckend laut. Während der Widerhall abebbte, wusste ich, dass ich gerade jedem im Inneren des Bunkers meine Ankunft angekündigt hatte.

Doch jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Ohne mich länger zu bemühen, leise zu sein, ging ich zur zweiten Tür. Nachdem ich sie geöffnet hatte, sah ich eine enge Treppenflucht. Über den Stufen warf eine schwache Glühbirne ein blasses Licht hinab.

Ich machte die Taschenlampe aus und ging hinunter.

Die Luft war abgestanden und stank. Ich erkannte die Gerüche des Todes und versuchte, nicht daran zu denken, was das bedeuten könnte. Nach der letzten Windung der Wendeltreppe trat ich in einen langen, niedrigen Keller. Er schien wesentlich größer zu sein als der Betonbau darüber, so als sei der Bunker auf älteren Fundamenten errichtet worden. Das Ende des Kellers verschwand in der Dunkelheit. Tief über einer Werkbank hing eine Glühbirne, deren schwacher Lichtschein eine verblüffende Fülle an Formen und Schatten enthüllte.

Bei dem Anblick blieb ich wie angewurzelt stehen.

Die gesamte Decke war mit Kadavern von Tieren und Vögeln übersät. Wie makabre Ausstellungsstücke hingen Füchse, Hasen und Enten herab. Viele von ihnen waren bis auf Haut und Knochen mumifiziert während andere noch in Verwesung begriffen waren. Alle waren verstümmelt. Mit fehlenden Köpfen oder Gliedmaßen pendelten sie mit hypnotischer Langsamkeit im Rhythmus eines leichten Windzuges.

Ich wandte mühsam den Blick ab und schaute mich im Keller um. Weitere Eindrücke buhlten um meine Aufmerksamkeit. Auf der Werkbank stand eine Schreibtischlampe, deren Lichtstrahl in eine leere Ecke des Kellers gerichtet war. In dem harten Licht konnte ich ein Seil erkennen, dessen eines Ende auf dem Boden lag, während das andere an einen Metallring gebunden war. Auf der Werkbank lagen mehrere alte Werkzeuge und Schraubzwingen, die in diesem Ambiente eine grauenhafte, neue Bedeutung erhielten. Und dann sah ich etwas, das auf obszöne Weise noch mehr fehl am Platze zu sein schien.

Über einen Stuhl war ein prunkvolles Hochzeitskleid mit einem prächtigen Lilienmuster aus Spitze drapiert. Es war blutgetränkt.

Der Anblick riss mich aus meinem Schockzustand. »Jenny!«, rief ich.

In der Dunkelheit am anderen Ende des Kellers rührte sich etwas. Langsam tauchte eine Gestalt auf, und dann trat George Masons Enkel ins Licht.

Er hatte denselben harmlosen Gesichtsausdruck wie immer. Doch jetzt wirkte er alles andere als harmlos. Er war ein großer Mann, fiel mir nun auf, größer und breiter als ich. Seine Jeans und seine Armeejacke waren blutverschmiert.

Er konnte mir nicht in die Augen sehen und ließ seine Blicke zwischen meiner Brust und meinen Schultern hinund herwandern. Seine Hände waren leer, aber unter seiner befleckten Jacke konnte ich eine Messerscheide hängen sehen.

Ich umklammerte den Schraubenschlüssel. »Wo ist sie?« Meine Stimme war brüchig.

»Sie dürfen hier unten nicht hin, Dr. Hunter.« Es klang wie ein milder Tadel. Während er redete, hatte er gelassen nach der Messerscheide gegriffen. Er schien genauso überrascht zu sein wie ich, als er feststellte, dass sie leer war.

Ich trat einen Schritt näher. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Er schaute sich auf dem Boden um, als würde er sein verlorenes Messer suchen. »Mit wem?«

Ich packte die Schreibtischlampe und richtete den Lichtstrahl auf ihn. Er hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Und als das Licht in die Ecken hinter ihm fiel, sah ich halb versteckt hinter einer Wand eine nackte Gestalt.

Mein Atem blieb mir im Halse stecken.

»Nicht«, sagte Mason und blinzelte ins Licht.

Ich rannte auf ihn zu. Ich hob den Schraubenschlüssel und wollte ihn mit aller Kraft in dieses sanftmütige Gesicht schlagen, doch mein Arm verfing sich in den Tieren, die von der niedrigen Decke hingen. Eine stinkende Lawine aus Fell und Federn verschlang mich. Würgend schob ich sie gerade noch rechtzeitig zur Seite, um Mason auf mich zustürzen zu sehen. Ich versuchte mich wegzuducken, doch er griff nach dem Schraubenschlüssel. In der anderen Hand hatte ich noch die Taschenlampe. Mit ihr holte ich aus und verpasste ihm einen Streifschlag am Kopf. Er schrie auf und schlug zurück, sodass ich nach hinten taumelte. Der Schlüssel und die Taschenlampe flogen mir aus den Händen und krachten auf den Boden. Ich fiel gegen die Werkbank und knallte auf die Kante eines Schraubstocks. Ein brennender Schmerz fuhr mir durch den Rücken.

Als Mason mir seine Schulter in den Magen rammte, rang ich nach Luft. Ich spürte, wie ich nach hinten gebogen wurde und sich der Schraubstock in meinen Rücken bohrte. Ich schaute in sein Gesicht und sah, dass seine friedlichen blauen Augen auch dann noch ungerührt blieben, als er seinen Unterarm hob und ihn mir auf die Kehle drückte. Ich schaffte es, eine Hand loszumachen und zerrte an ihm, um meine Kehle freizubekommen. Er verlagerte sein Gewicht noch mehr auf den Arm und fasste mit dem anderen auf die Werkbank. Ich hörte, wie Metall gegen Holz schabte, als er versuchte, einen Meißel aus einem Holzblock zu ziehen. Ich bekam seinen Arm zu packen, aber damit war meine Kehle ungeschützt. Er starrte auf mich hinab, während er den Druck noch erhöhte und weiter nach dem Meißel tastete. Ich sah Sterne vor den Augen. Als er kurz zu dem Meißel schaute, sah ich hinter ihm eine Bewegung.

Es war Jenny. Mit quälender Langsamkeit bewegte sie sich auf einen am Boden liegenden Federhaufen zu. Während sie versuchte, etwas unter den Federn hervorzuziehen, zwang ich mich, nicht auf sie zu achten, sondern in Masons ruhiges Gesicht zu starren. Ich versuchte, ihm das Knie in die Leiste zu rammen, doch er war zu nah dran. Stattdessen trat ich gegen sein Schienbein. Er stöhnte auf, und ich spürte, wie der Druck auf meine Kehle geringfügig nachließ. Doch dann gab es neben uns ein dumpfes Geräusch, weil der Holzblock mit den Meißeln umgefallen war. Ich beobachtete, dass Masons Finger wie dicke Spinnen herumtasteten und Zentimeter für Zentimeter einen der Meißel hervorzogen, obwohl meine Hand an seinem Arm zerrte. Eine Bewegung hinter ihm lenkte mich ab. Am Rande meines Blickfeldes sah ich, dass Jenny versuchte aufzustehen. Sie kniete jetzt und lehnte sich gegen die Wand, während sie etwas in den Händen hielt.

Dann hatte Mason einen der Meißel aus dem Block gezogen. Statt seinen Arm festzuhalten, kämpfte ich nun darum, ihn wegzudrücken. Als ich merkte, wie stark Mason war, stieg panische Angst in mir auf. Mein Arm begann zu zittern, während er den Meißel unaufhörlich näher zwang. Schweiß tropfte von seinem Gesicht auf meins, doch ansonsten gab es in den ausdruckslosen Zügen über mir kein Zeichen der Anstrengung. Er sah genauso bedächtig und konzentriert aus, wie wenn er sich seinen Pflanzen widmete.

Ohne Vorwarnung wirbelte er dann in die Gegenrichtung und riss seinen Arm los. Obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht aufhalten konnte, klammerte ich mich an seinen Arm, als er den Meißel über meinen Kopf hob. Plötzlich schrie er auf und krümmte sich nach hinten. Der Arm, der auf meine Kehle gedrückt hatte, war verschwunden. Ich schaute auf und sah Jenny wackelig hinter ihm stehen, nackt und blutverschmiert. Sie hielt ein Messer mit einer gewaltigen Klinge in der Hand, doch in dem Moment glitt es ihr auch schon aus den Fingern. Als es auf den Boden klirrte, brüllte Mason auf und versetzte ihr mit einem Arm einen Schlag.

Sie sackte zusammen wie eine Puppe. Ich stürzte mich auf ihn. Wir landeten auf dem Boden, und er schrie erneut auf. Er drückte mich weg und versuchte davonzukriechen. Auf seinem Rücken erkannte ich einen größer werdenden Blutfleck. Er wollte das Messer zu fassen kriegen. Als ich mich über ihn warf, trat mein Fuß gegen etwas Hartes. Ich schaute hinab und sah den Schraubenschlüssel. Während Mason nach dem Messer griff, hob ich den Schlüssel auf und knallte ihn ihm auf die Stichwunde in seinem Rücken. Er brüllte, und als er sich zu mir umdrehte, schlug ich ihm auf den Kopf.

Bei dem Aufprall tat mir die ganze Hand weh. Mason sackte ohne einen Ton zu Boden. Ich hob den Schlüssel, um erneut zuzuschlagen, doch es war nicht nötig. Keuchend wartete ich, bis ich sicher war, dass er sich nicht mehr rühren würde, und ging dann zu Jenny. Sie lag noch dort, wo sie hingefallen war. Vorsichtig drehte ich sie um. Als ich all das Blut sah, blieb mir das Herz stehen. Ihr ganzer Körper war mit Schnitten übersät, manche waren winzig, andere aber sehr tief. Der Schnitt auf ihrer Wange ging fast bis auf den Knochen, und als ich sah, was Mason mit ihrem Fuß angerichtet hatte, wollte ich wieder auf ihn einknüppeln. Ich hätte vor Erleichterung fast aufgeschrien, als ich den Puls an ihrem Hals spürte. Er war schwach und unregelmäßig, aber sie war am Leben.

»Jenny, Jenny, ich bin’s, David!«

Ihre Augen flackerten auf. »… David …« Es war nur ein Flüstern, und als ich dann den süßlichen Geruch in ihrem Atem wahrnahm, verflog meine Erleichterung. Azeton. Ihr Körper hatte begonnen, seine eigenen Fette einzuschmelzen, und produzierte eine giftige Glukosekonzentration in ihrem Blut. Sie brauchte Insulin, und zwar schnell.

Und ich hatte keines bei mir.

»Nicht sprechen«, sagte ich überflüssigerweise, denn ihre Augen waren schon wieder zugefallen. Die Kraft, die sie noch aufgebracht hatte, um auf Mason einzustechen, war nun vollends aufgezehrt. Ihr Puls schien jetzt noch schwächer zu sein. O Gott, nicht jetzt, lass das nicht zu.

Ohne auf die Schmerzen zu achten, die mir durch Rücken und Kehle zuckten, hob ich sie auf. Erschrocken stellte ich fest, wie leicht sie schien. Sie wog überhaupt nichts mehr. Mason hatte sich immer noch nicht gerührt, doch ich konnte ihn atmen hören. Er atmete röchelnd, während ich sie die Wendeltreppe hinauftrug. Oben trat ich die Tür auf und stolperte hinaus zwischen die Bäume. Der Regen peitschte herab, aber nach dem Aufenthalt in dem scheußlichen Keller war er eine einzige Erfrischung. Jennys Kopf fiel nach vorne, als ich sie auf den Beifahrersitz des Landrovers verfrachtete. Ich musste den Sicherheitsgurt um sie legen, damit sie nicht vornüberkippte. Dann zog ich eine Decke von hinten hervor, die zu meiner Erste-Hilfe-Ausrüstung gehörte, und legte sie über sie. Ich startete den Motor, schrammte beim Wenden an Masons Transporter entlang, und als ich den Weg zurückjagte, knallten die Äste gegen den Wagen.

Ich fuhr, so schnell ich konnte. Jenny hatte beinahe zwei Tage kein Insulin bekommen, war dabei Gott weiß welchen Gräueltaten ausgesetzt gewesen und hatte offensichtlich eine Menge Blut verloren. Sie brauchte eine Notaufnahme, doch das nächste Krankenhaus war meilenweit entfernt, zu weit, um in ihrem Zustand die Fahrt dorthin riskieren zu können. Gequält von dem Gedanken, dass ich in der Praxis das Insulin noch in den Händen gehalten hatte, überlegte ich verzweifelt, was ich tun konnte. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Jenny könnte bereits ins Koma fallen. Wenn sie nicht schnell stabilisiert werden würde, müsste sie sterben.

Dann fielen mir der Krankenwagen und die Sanitäter ein, die Mackenzie bei der Erstürmung der alten Windmühle in Bereitschaft hatte. Es bestand die Chance, dass sie noch dort waren. Ich griff nach meinem Telefon, um ihn anzurufen und um Hilfe zu bitten, sobald ich Empfang hatte. Aber es war nicht in meiner Tasche. Fieberhaft durchsuchte ich die anderen. Dort war es auch nicht. Als mir klar wurde, dass es bei dem Kampf im Keller herausgefallen sein musste, wäre ich fast durchgedreht. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Soll ich zurückfahren oder nicht? Na los, entscheide dich! Dann rammte ich meinen Fuß aufs Gaspedal. Zurückzufahren, um das Telefon zu suchen, würde zu viel Zeit kosten.

Zeit, die Jenny nicht hatte.

Ich erreichte das Ende des Weges und jagte den Landrover auf die Straße. In der Praxis gab es Insulin. Dort könnte ich sie wenigstens versorgen, bis ein Krankenwagen da war. Ich trat das Gaspedal durch und starrte durch die Windschutzscheibe in die Nacht. Die Scheibenwischer kämpften gegen die herunterlaufenden Wassermassen an. Es regnete jetzt so heftig, dass ich selbst bei Fernlicht nur wenige Meter weit nach vorn schauen konnte. Ich riskierte einen kurzen Blick zu Jenny, der ausreichte, um das Lenkrad fest zu umklammern und noch schneller zu fahren.

Der Weg zurück nach Manham schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann tauchte das Dorf plötzlich im Regen vor mir auf. Bei dem Gewitter waren die Straßen verlassen, die Presse, die vorhin noch alle Straßen verstopft hatte, war nirgends zu sehen. Ich überlegte, am Polizeiwohnwagen anzuhalten, der noch an der Dorfwiese stand, tat den Gedanken aber sofort wieder ab. Es gab keine Zeit für Erklärungen, das Wichtigste war im Moment, Jenny mit Insulin zu versorgen.

Als ich die Auffahrt hinunterschoss, war alles dunkel im Haus. Ich war geistesgegenwärtig genug, an der Seite zu parken, damit der Krankenwagen direkt vor die Tür fahren konnte. Dann sprang ich hinaus und lief um den Wagen herum zur Beifahrertür. Jenny atmete flach und schnell, doch als ich sie vom Sitz hob und durch den Regen trug, begann sie sich zu rühren.

»David …?« Ihre Stimme war kaum zu hören.

»Alles in Ordnung, wir sind bei der Praxis. Nur noch einen Moment.«

Aber sie schien mich nicht zu verstehen. Sie begann sich schwach zu wehren und schaute mich mit verschwommenem und verängstigtem Blick an. »Nein! Nein!«

»Ich bin’s, Jenny, du bist in Sicherheit.«

»Pass auf, dass er mich nicht kriegt!«

»Er kriegt dich nicht, versprochen.«

Aber sie sackte schon wieder weg. Ich hämmerte gegen die Tür, weil ich nicht gleichzeitig Jenny halten und aufschließen konnte. Nach einer Ewigkeit ging das Licht im Flur an. Kaum zog Henry die Tür auf, stürmte ich hinein.

»Ruf einen Krankenwagen!«

Mit entsetztem Gesicht rollte er sich eilig aus dem Weg. »David, was …?«

Ich lief bereits den Flur hinunter. »Sie fällt ins diabetische Koma, wir brauchen sofort einen Krankenwagen! Sag ihnen, dass noch einer bei der Polizei in Bereitschaft stehen könnte!«

Ich trat die Tür zu Henrys Büro auf, während er den Anruf vom Flur aus machte. Jenny rührte sich nicht, als ich sie auf die Couch legte. Unter der blutigen Maske war ihr Gesicht weiß. Der Puls an ihrem Hals flatterte schwach. Biffe, bitte, halte durch. Die Situation hätte nicht verzweifelter sein können. Sie konnte bereits Nierenund Leberschäden erlitten haben, und ihr Herz konnte jederzeit aussetzen, wenn sie nicht bald behandelt wurde. Neben Insulin brauchte sie Salze und Infusionen, um die Stoffe auszuspülen, die sie vergifteten. Das alles konnte ich hier nicht machen. Ich konnte nur hoffen, dass das Insulin sie lange genug am Leben hielt, bis der Rettungswagen sie ins Krankenhaus gebracht hatte.

Ich riss den Kühlschrank auf und wühlte nervös darin herum, als Henry hereinkam.

»Ich hole es. Such du eine Spritze«, wies er mich an.

Die gerahmten Fotografien auf dem Medikamentenschrank wackelten, als ich die Türen aufwarf und nach den Spritzen suchte.

»Was ist mit dem Krankenwagen?«

»Auf dem Weg. Komm, du bist nicht in der Verfassung dafür. Lass mich es machen«, sagte Henry im Befehlston und streckte eine Hand nach der Spritze aus. Ich wehrte mich nicht. »Was ist denn passiert, in Gottes Namen?«, fragte er und stieß die Nadel durch das Siegel der Ampulle.

»Es war Tom Mason. Er hat sie in einem alten Luftschutzbunker in der Nähe seines Hauses gefangen gehalten.« Ich spürte einen Stich ins Herz, als ich die regungslose Jenny anschaute. »Er hat Sally Palmer und Lyn Metcalf ermordet.«

»George Masons Enkel?«, meinte Henry ungläubig. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Er hat auch versucht, mich umzubringen.«

»Himmel! Wo ist er jetzt?«

»Jenny hat auf ihn eingestochen.«

»Du meinst, er ist tot?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht.«

In dem Moment war es mir auch egal. Mit quälender Ungeduld beobachtete ich, wie Henry stirnrunzelnd die Spritze anstarrte.

»Verdammt! Die Nadel ist verstopft, es geht nicht. Gib mir eine andere, schnell.«

Ich hätte ihn am liebsten angeschrien, als ich mich zum Medikamentenschrank umdrehte. Die Türen waren zugefallen, und ich riss sie mit einer solchen Wucht auf, dass eines der auf dem Schrank stehenden Fotos umkippte. Ich beachtete es kaum, doch als ich mir eine Spritze schnappte, fiel mir plötzlich etwas auf.

Ich schaute wieder hin, aber nicht das umgekippte Foto hatte mich stutzig gemacht, sondern das daneben. Es war das Hochzeitsfoto von Henry und seiner Frau. Ich hatte es etliche Male gesehen und war von dem darauf festgehaltenen Glücksmoment immer wieder bewegt gewesen. Doch deswegen starrte ich es jetzt nicht an.

Henrys Frau trug ein Kleid, das genauso aussah wie das, das ich in Masons Keller gesehen hatte.

Ich sagte mir, dass es eine Einbildung war. Doch das Design mit den Lilien aus Spitze vorne war zu auffällig, um sich zu täuschen. Sie waren ganz gleich. Nein, nicht gleich, wurde mir klar.

Es war ein und dasselbe Kleid.

»Henry …«, begann ich und stöhnte bei einem plötzlichen Schmerz in meinem Bein auf. Ich schaute hinab und sah, wie sich Henry mit einer leeren Spritze in der Hand von mir wegrollte.

»Es tut mir Leid, David. Es tut mir wirklich Leid«, sagte er und betrachtete mich mit einer seltsamen Mischung aus Traurigkeit und Resignation.

»Was …«, begann ich zu sagen, doch dann brachte ich nichts mehr hervor. Alles entfernte sich von mir, das Zimmer verschwamm. Ich fühlte mich plötzlich schwerelos und sank zu Boden. Das Letzte, was ich sah, bevor ich das Bewusstsein verlor, war etwas Unmögliches: Henry stand aus seinem Rollstuhl auf und kam auf mich zu.

Dann versanken er und alles andere in der Finsternis.