3

Der Hof wurde an einer Seite von Bäumen und an den anderen vom Marschland eingegrenzt. Staub wirbelte auf, als der Landrover über den ausgefahrenen Zufahrtsweg holperte. Ich parkte auf den unebenen Steinen, die vom Pflaster des Innenhofes übrig geblieben waren, und stieg aus. Eine große Scheune aus Wellblech schimmerte in der Hitze. Das Bauernhaus selbst war weiß getüncht, und obwohl die Farbe abblätterte und verblasste, blendete es grell in der Sonne. Zu beiden Seiten der Eingangstür waren hellgrüne Blumenkästen angebracht, die einzigen Farbtupfer in einer ausgeblichenen Welt.

Wenn Sally zu Hause war, begann normalerweise ihr Collie Bess zu bellen, noch ehe man anklopfen konnte. Doch heute war alles ruhig. Als ich durch die Fenster schaute, konnte ich auch niemanden sehen, aber das musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Ich ging zur Tür und klopfte. Jetzt, wo ich hier war, erschien mir der Grund meines Kommens reichlich dumm. Während ich wartete, starrte ich zum Horizont und überlegte, was ich bloß sagen sollte, wenn sie öffnete. Vielleicht die Wahrheit, aber dadurch würde ich einen genauso irrationalen Eindruck machen wie Linda Yates. Und Sally könnte es missverstehen und hinter dem Grund meines Besuches mehr wittern als eine quälende Unruhe, die ich ihr nicht hätte erklären können.

Sally und ich hatten zwar nie etwas miteinander gehabt, aber uns verband mehr als nur eine flüchtige Bekanntschaft. Eine Zeit lang hatten wir uns recht häufig getroffen. Was im Grunde nicht besonders überraschend war; wir waren beide Zugezogene und aus London ins Dorf gekommen, die Großstadtvergangenheit verband uns. Außerdem war sie in meinem Alter und ein offenherziger Mensch, der schnell Freunde fand. Und sie war attraktiv. Ich hatte die paar Male genossen, die wir uns im Pub auf ein paar Drinks getroffen hatten.

Aber mehr war nicht passiert. Als ich zu spüren begann, dass sie mehr wollen könnte, ging ich auf Distanz. Erst reagierte sie verwirrt, aber es gab eigentlich keine Verlegenheit, kein böses Blut zwischen uns. Wenn wir uns zufällig über den Weg liefen, konnten wir immer noch unbefangen miteinander plaudern, aber das war alles.

Dafür hatte ich gesorgt.

Ich klopfte erneut an die Tür. Ich weiß noch, dass ich im Grunde erleichtert war, als sie nicht aufmachte. Sie war anscheinend unterwegs, und das bedeutete, ich musste nicht erklären, warum ich gekommen war. Ich wusste es ja selbst nicht genau. Ich war nicht abergläubisch, und im Gegensatz zu Linda Yates glaubte ich nicht an Vorahnungen. Allerdings hatte sie nicht von einer Vorahnung gesprochen. Nur von einem Traum. Und ich wusste ganz genau, wie verlockend Träume sein können. Verlockend und trügerisch.

Ich entfernte mich von der Tür und der Richtung, die meine Gedanken genommen hatten. Es ist doch völlig normal, dass sie nicht zu Hause ist, fand ich, und war ärgerlich über mich selbst. Was zum Teufel hatte ich mir eigentlich gedacht? Nur weil irgendein Wanderer oder Vogelkundler gestorben war, musste doch nicht gleich die Phantasie mit mir durchgehen.

Ich war schon fast wieder beim Landrover, als ich stehen blieb. Irgendetwas störte mich, doch ich musste mich noch einmal umdrehen, um zu kapieren, was es war. Und auch dann dauerte es ein paar Minuten, bis es mir klar wurde. Die Blumenkästen. Die Pflanzen in den Kästen waren braun und tot.

Das hätte Sally niemals zugelassen.

Ich ging zurück. Die Erde in den Kästen war ausgetrocknet und steinhart. Hier war seit Tagen nicht gegossen worden. Vielleicht noch länger. Ich klopfte an die Tür und rief Sallys Namen. Als ich keine Antwort erhielt, drückte ich die Klinke.

Die Tür war nicht abgeschlossen. Vielleicht hatte sie es sich ja abgewöhnt, die Haustür abzuschließen, seit sie hier lebte. Aber sie kam wie ich aus der Stadt, und alte Gewohnheiten legt man so schnell nicht ab. Ich öffnete die Tür, die von einem Haufen Post abgebremst wurde, der dahinter lag. Die Briefe rutschten in einer kleinen Lawine zur Seite, als ich die Tür weiter aufschob und über sie hinweg in die Küche trat. Alles war so, wie ich es in Erinnerung hatte: heitere, zitronengelbe Wände, massive, rustikale Möbel und ein paar Hinweise darauf, dass sie nicht alle Annehmlichkeiten der Stadt hatte hinter sich lassen können — eine elektrische Saftpresse, eine rostfreie Espressokanne und ein großes, gut sortiertes Weinregal.

Außer dem Posthaufen war auf den ersten Blick alles in Ordnung. Doch im Haus hing ein muffiger, ungelüfteter Geruch, der vom süßlichen Duft verfaulender Früchte überlagert wurde. Er kam von einer Tonschale auf der alten Kiefernanrichte, ein Memento-mori-Stillleben aus schwarz gewordenen Bananen und mit weißem Schimmel überzogenen Äpfeln und Orangen. Verwelkte, nicht mehr identifizierbare Blumen hingen schlaff über den Rand einer Vase auf dem Tisch. Eine Schublade neben der Spüle war halb geöffnet, als wäre Sally gestört worden, während sie gerade etwas hatte herausnehmen wollen. Instinktiv wollte ich sie zuschieben, ließ sie dann aber so, wie sie war.

Sie könnte im Urlaub sein, sagte ich mir. Oder sie war zu beschäftigt, um alte Früchte und Blumen wegzuwerfen. Es gab eine Reihe möglicher Erklärungen. Aber ich glaube, zu diesem Zeitpunkt wusste ich es genauso, wie Linda Yates es gewusst hatte.

Ich überlegte, auch im restlichen Haus nachzusehen, entschied mich dann aber dagegen. Mittlerweile betrachtete ich das Haus bereits als potenziellen Tatort, und ich wollte nicht riskieren, irgendwelche Beweise zu zerstören. Deshalb ging ich wieder nach draußen. Sallys Ziegen waren auf einer Koppel hinter dem Haus. Ein einziger Blick bestätigte mir, dass hier etwas furchtbar im Argen lag. Einige Ziegen waren noch auf den Beinen, ausgezehrt und schwach, die meisten aber lagen auf der Seite und waren entweder bewusstlos oder tot. Sie hatten die Koppel beinahe kahl gefressen, und der Wassertrog war knochentrocken. Daneben lag ein Schlauch, anscheinend um den Trog zu füllen. Ich hängte ihn über die Kante und folgte dem anderen Ende zu einer Pumpe. Als Wasser in den Metalltrog plätscherte, trotteten ein paar Ziegen herbei und begannen zu saufen.

Sobald ich die Polizei gerufen hatte, würde ich auch den Tierarzt kommen lassen. Ich zog mein Telefon hervor, aber es hatte keinen Empfang. In der Gegend um Manham gab es viele Funklöcher, wodurch Handys meistens unzuverlässig waren. Ich entfernte mich von der Koppel und sah, dass die Empfangssignale sich aufbauten. Als ich gerade wählen wollte, bemerkte ich eine kleine, dunkle Gestalt, die halb versteckt hinter einem rostigen Pflug lag. Mit einem angespannten, seltsam sicheren Gefühl, was es sein würde, ging ich hinüber.

Der Kadaver von Bess, Sallys Collie, lag im trockenen Gras. Er sah ganz klein aus, das Fell staubig und verfilzt. Ich verscheuchte die Fliegen, die davonstoben, um sich auf mein Frischfleisch zu stürzen, und wandte mich rasch wieder ab. Aber erst, nachdem ich gesehen hatte, dass der Kopf des Hundes beinahe abgetrennt worden war.

Die Hitze schien plötzlich noch intensiver geworden zu sein. Meine Beine führten mich instinktiv zum Landrover zurück. Ich widerstand dem Drang, einfach einzusteigen und wegzufahren. Stattdessen ging ich ein paar Schritte weiter und machte meinen Anruf. Während ich darauf wartete, dass sich die Polizei meldete, starrte ich auf den fernen, grünen Flecken des Waldes, aus dem ich gerade gekommen war. Nicht schon wieder. Nicht hier. Ich hörte, dass eine blecherne Stimme aus dem Telefon ertönte, und wandte mich sowohl vom fernen Wald als auch vom Haus ab.

»Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagte ich.

___________

Der Police Inspector, ein gedrungener, reizbarer Mann namens Mackenzie, war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich. Das Erste, was mir an ihm auffiel, waren seine außergewöhnlich breiten Schultern, die nicht zum unteren Teil seines Körpers passen wollten: Die kurzen Beine mündeten in absurd zierlichen Füßen. Das Ganze hätte ihm die Erscheinung eines Bodybuilders aus einem Cartoon verliehen, wenn da nicht sein mächtiger Schmerbauch gewesen wäre und eine bedrohliche, ungeduldige Aura, die einen zwang, ihn ernst zu nehmen. Ich wartete am Wagen, während Mackenzie und ein Sergeant in Zivil losgegangen waren, um sich den Hund anzuschauen. Sie schienen es nicht eilig zu haben und wirkten beinahe unbekümmert, als sie hinüberschlenderten. Doch die Tatsache, dass ein Chief Inspector des Kriminaldienstes und keine uniformierten Beamten erschienen war, war ein Zeichen dafür, dass die Polizei die Sache nicht auf die leichte Schulter nahm.

Er war zu mir zurückgekommen, während der Sergeant ins Haus gegangen war, um sich in den Zimmern umzusehen. »Dann erzählen Sie mir noch einmal, warum Sie hergekommen sind.«

Er roch nach Aftershave und Schweiß und leicht nach Pfefferminz. Seine sonnenverbrannte Kopfhaut leuchtete durch sein dünner werdendes rotes Haar, aber wenn er sich in der Sonnenhitze unwohl fühlte, dann zeigte er es nicht.

»Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei.«

»Also ein Höflichkeitsbesuch?«

»Ich wollte nur schauen, ob bei ihr alles in Ordnung ist.«

Wenn ich es vermeiden konnte, wollte ich Linda Yates aus dem Spiel lassen. Als ihr Arzt musste ich davon ausgehen, dass das, was sie mir erzählt hatte, vertraulich war. Außerdem glaubte ich nicht, dass ein Polizist viel auf einen Traum gab. Ich hätte selbst nicht viel darauf geben sollen. Andererseits war Sally unerklärlicherweise nicht hier.

»Wann haben Sie Miss Palmer zum letzten Mal gesehen?«, fragte Mackenzie.

Ich überlegte. »Vor einigen Wochen.«

»Können Sie das etwas genauer sagen?«

»Ich erinnere mich, sie vor ungefähr zwei Wochen im Pub beim Sommerfest gesehen zu haben.«

»War sie mit Ihnen dort?«

»Nein. Aber wir haben uns unterhalten.« Kurz. Hallo, wie geht’s? Gut, bis später. Ziemlich unbedeutend, wie die meisten letzten Worte. Wenn sie das waren, sagte ich mir. Aber ich hatte mittlerweile keine Zweifel mehr.

»Und obwohl Sie sie seitdem nicht mehr getroffen haben, beschließen Sie heute plötzlich, bei ihr vorbeizuschauen.«

»Ich hatte gehört, dass man eine Leiche gefunden hat. Da wollte ich nachschauen, ob bei ihr alles in Ordnung ist.«

»Warum sind Sie so sicher, dass es sich um die Leiche einer Frau handelt?«

»Das bin ich mir gar nicht. Aber ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn ich mal nach Sally sehe.«

»Was für eine Beziehung haben Sie beide?«

»Wir sind befreundet, würde ich sagen.«

»Eng?«

»Eigentlich nicht.«

»Schlafen Sie mit ihr?«

»Nein.«

»Haben Sie mal mit ihr geschlafen?«

Ich war kurz davor, ihm zu sagen, er solle sich um seine Angelegenheiten kümmern. Aber genau das tat er ja. Die Privatsphäre zählte in solchen Situationen nicht viel, das wusste ich nur zu gut.

»Nein.«

Er starrte mich an, ohne etwas zu sagen. Ich starrte zurück. Nach einem Augenblick nahm er eine Packung Minzbonbons aus seiner Tasche. Als er gemächlich einen in den Mund steckte, fiel mir der seltsam geformte Leberfleck an seinem Hals auf.

Er steckte die Bonbons zurück, ohne mir einen angeboten zu haben. »Also hatten Sie keine Beziehung mit ihr? Sie sind nur gute Freunde, richtig?«

»Wir kennen uns, das ist alles.«

»Dennoch sind Sie hergekommen, um nachzuschauen, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Sie und niemand anderes.«

»Sie lebt ganz allein hier draußen. Der Hof ist selbst für unsere Verhältnisse ziemlich abgelegen.«

»Warum haben Sie sie nicht angerufen?«

Ich war einen Moment sprachlos. »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Hat sie ein Handy?« Ich sagte ihm, dass sie eines hatte. »Haben Sie ihre Nummer?«

Sie war in meinem Handy gespeichert. Während ich in meinem Verzeichnis danach suchte, wusste ich, was er mich gleich fragen würde, und kam mir dumm vor, weil ich nicht selbst daran gedacht hatte.

»Soll ich anrufen?«, bot ich an, bevor er etwas sagen konnte.

»Warum nicht?« Ich spürte, wie er mich beobachtete, als ich auf die Verbindung wartete. Ich fragte mich, was ich sagen sollte, wenn sie ranging. Aber im Grunde glaubte ich nicht, dass sie es tun würde.

Im Haus ging ein Fenster auf. Der Sergeant beugte sich hinaus. »Sir, in einer Handtasche klingelt ein Telefon.«

Wir konnten es leise hinter ihm hören, ein elektronisches Bimmeln. Ich legte auf. Im Haus verstummten die Töne. Mackenzie nickte ihm zu. »In Ordnung, das waren nur wir. Machen Sie weiter.«

Der Sergeant verschwand. Mackenzie rieb sein Kinn. »Das beweist gar nichts«, sagte er.

Ich erwiderte nichts.

Er seufzte. »Himmel, diese verdammte Hitze.« Er gab zum ersten Mal zu erkennen, dass sie ihm zu schaffen machte. »Kommen Sie, gehen wir aus der Sonne.«

Wir stellten uns in den Schatten des Hauses.

»Wissen Sie, ob sie Familie hat?«, fragte er. »Ob es irgendjemanden gibt, der wissen könnte, wo Miss Palmer ist?«

»Eigentlich nicht. Sie hat den Hof geerbt, aber soweit ich weiß, hat sie in der Gegend keine weitere Familie.«

»Und Freunde? Abgesehen von Ihnen?«

Das könnte eine Spitze gewesen sein, aber es war schwer zu sagen. »Sie kannte die Leute im Dorf. Aber ich weiß nicht, mit wem sie mehr zu tun hatte.«

»Liebhaber?«, fragte er und beobachtete meine Reaktion.

»Nicht dass ich wüsste. Tut mir Leid.«

Er brummte etwas und schaute auf seine Uhr.

»Was passiert als Nächstes?«, fragte ich. »Werden Sie überprüfen, ob die DNA der Leiche mit Proben aus dem Haus übereinstimmt?«

Er musterte mich. »Sie scheinen sich ja auszukennen.«

Ich spürte, wie ich rot wurde. »Nicht wirklich.«

Ich war froh, dass er nicht nachhakte. »Noch wissen wir nicht, ob wir es hier mit einem Tatort zu tun haben. Wir haben eine Frau, die vielleicht vermisst wird, vielleicht auch nicht, das ist alles. Es gibt keine Verbindung zwischen ihr und der Leiche, die gefunden wurde.«

»Und der Hund?«

»Der könnte von einem anderen Tier getötet worden sein.«

»Soweit ich es erkennen konnte, sieht die Halswunde wie ein Schnitt aus, nicht wie ein Biss. Sie stammt von einer scharfen Kante.«

Wieder sah er mich abschätzend an, und ich hätte mich am liebsten getreten, weil ich den Mund nicht halten konnte. Ich war jetzt ein Arzt. Nichts anderes. »Mal sehen, was die Forensiker sagen. Aber selbst wenn es so wäre, dann hätte auch Miss Palmer ihn umbringen können.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

Er schien etwas erwidern zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Nein. Nein, das glaube ich nicht. Aber ich werde jetzt auch keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

Die Haustür ging auf. Der Sergeant tauchte auf und schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber im Flur und im Wohnzimmer ist das Licht angelassen worden.«

Mackenzie nickte, als wäre es genau das, was er erwartet hatte. Er wandte sich an mich. »Wir brauchen Sie dann nicht mehr, Dr. Hunter. Es wird jemand vorbeikommen, um Ihre Aussage aufzunehmen. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie mit niemandem über diese Sache reden.«

»Selbstverständlich.« Ich versuchte, mich nicht darüber zu ärgern, dass er diese Bitte überhaupt für nötig hielt. Er drehte sich weg und sprach mit dem Sergeant. Ich ging los und blieb dann zögernd stehen.

»Eine Sache noch«, sagte ich. Er schaute mich gereizt an. »Dieser Leberfleck da auf Ihrem Hals. Wahrscheinlich ist es nichts, aber es könnte nicht schaden, ihn mal untersuchen zu lassen.«

Ich ließ ihn stehen und ging zum Wagen.

___________

Benommen fuhr ich zurück ins Dorf. Die Straße führte an Manham Water vorbei, dem seichten See oder Teich, der jedes Jahr ein wenig mehr von seiner Fläche an das wuchernde Schilf verlor. Seine Oberfläche war spiegelglatt und wurde nur von einem Zug Gänse durchbrochen, die darauf einfielen. Weder der See noch die zugewachsenen Bäche und Kanäle, die durch die Sümpfe führten, waren schiffbar, und da es in der Nähe des Dorfes keinen Fluss gab, war Manham abgeschnitten vom Bootsverkehr und Touristenstrom, der während des Sommers im Rest der Broads einfiel. Obwohl die Nachbarorte nur wenige Meilen entfernt waren, schien es zu einem anderen Teil Norfolks zu gehören, einem älteren und weniger gastfreundlichen. Umgeben von Wäldern, Sümpfen und schlecht entwässertem Marschland, war das Dorf in jeder Hinsicht tiefste Provinz. Abgesehen von gelegentlichen Hobby-Ornitnologen blieb es sich selbst überlassen und versank wie ein asozialer alter Mann immer tiefer in seine Isolation.

Perverserweise machte Manham an diesem Abend im Sonnenschein einen beinahe fröhlichen Eindruck. Die knallbunten Blumenbeete an der Kirche und auf der Dorfwiese leuchteten so hell, dass es schmerzte. Sie waren eine von Manhams wenigen Quellen des Stolzes und wurden gewissenhaft gepflegt vom alten George Mason und seinem Enkel Tom, den beiden Gärtnern, die ich angesprochen hatte, als ich damals im Dorf angekommen war. Sogar der Stein der Märtyrerin am Rande der Wiese war von den hiesigen Schulkindern mit Blumengirlanden geschmückt worden. Den alten Mühlstein zu dekorieren, an dem im sechzehnten Jahrhundert angeblich eine Frau von ihren Nachbarn gesteinigt worden ist, war ein jährliches Ereignis. Der Legende nach hatte sie einen Säugling von irgendeiner Lähmung geheilt, nur um zum Dank als Hexe angeklagt zu werden. Henry machte sich immer darüber lustig, dass nur Manham jemanden für eine gute Tat martern könnte, und scherzte, dass wir beide das nicht vergessen sollten.

Ich wollte nicht nach Hause, also fuhr ich in die Praxis. Ich hielt mich häufig dort auf, selbst wenn ich nicht musste. Manchmal fühlte ich mich in meinem Cottage einsam; in dem großen Haus gab es wenigstens immer die Illusion, etwas zu tun zu haben. Ich trat durch die Hintertür ein, die in die separate Praxis führte. Ein alter Wintergarten, der durch die Pflanzen, die Janice liebevoll pflegte, eng und feucht war, diente als Anmeldung und Wartezimmer. Ein Teil des Erdgeschosses war zu Henrys privaten Wohnräumen umgebaut worden. Aber der lag am anderen Ende des Hauses, das mehr als groß genug war, um uns beide unterzubringen. Ich hatte sein altes Sprechzimmer übernommen, und als ich die Tür hinter mir schloss, empfing mich der beruhigende Duft von altem Holz und Bienenwachs. Obwohl ich es seit meiner Ankunft fast jeden Tag benutzte, spiegelte das Zimmer mit seinem alten Jagdgemälde, dem Schreibtisch mit Rollverdeck und dem lederbezogenen Kapitänsstuhl immer noch mehr Henrys Persönlichkeit als meine. In den Bücherregalen standen neben seinen alten Medizinbüchern und Zeitschriften auch Bände, die weniger typisch für einen Landarzt waren. Es gab Texte von Kant und Nietzsche, und ein ganzes Regalbrett wurde von der Psychologie beansprucht, einem von Henrys Steckenpferden. Mein einziger Beitrag zum Zimmer war der Computer, der leise auf dem Schreibtisch summte; eine Neuerung, die Henry nach monatelangen Überredungskünsten mürrisch hingenommen hatte.

Er hatte sich nie wieder so weit erholt, um ganztägig arbeiten zu können. Wie sein Rollstuhl hatte sich mein Zeitvertrag zu einer Art Dauereinrichtung entwickelt. Zuerst war er verlängert und dann, als klar geworden war, dass Henry seine Praxis nicht mehr allein würde führen können, in eine Partnerschaft umgewandelt worden. Selbst der alte Land Rover Defender, den ich jetzt fuhr, war einmal seiner gewesen. Es war ein zerbeulter, alter Automatikwagen, gekauft nach dem Autounfall, der ihn querschnittsgelähmt und seine Frau Diana getötet hatte. Ihn zu kaufen war eine demonstrative Geste gewesen, als er sich noch an die Hoffnung klammerte, wieder fahren und gehen zu können. Aber das war bisher nicht der Fall gewesen. Und es würde auch nicht mehr passieren, hatten ihm die Ärzte gesagt.

»Idioten. Kaum haben sie einen weißen Kittel an, schon glauben sie, sie waren Gott«, hatte er geschimpft.

Aber schließlich hatte selbst Henry akzeptieren müssen, dass sie Recht hatten. Und so erbte ich nicht nur den Landrover, sondern Stück für Stück auch den größten Teil der Praxis. Anfänglich hatten wir die Arbeit noch mehr oder weniger gleichmäßig aufgeteilt, mit der Zeit hatte ich jedoch immer mehr übernommen. Was allerdings nichts daran änderte, dass er in der Augen der meisten Leute »der richtige Arzt« blieb. Ich hatte jedoch aufgehört, mich darüber zu ärgern. Für Manham war ich weiterhin ein Neuling und würde es wahrscheinlich auch immer bleiben.

In der Hitze des späten Nachmittages versuchte ich mir nun ein paar medizinische Webseiten anzuschauen, aber ich war nicht richtig bei der Sache. Ich stand auf und öffnete die Verandatüren. Der Ventilator auf meinem Schreibtisch surrte und rührte geräuschvoll die schwüle Luft um, ohne sie abzukühlen. Auch die offenen Fenster nützten nichts. Ich starrte hinaus in den ordentlich gepflegten Garten. Wie die gesamte Umgebung war auch er zu trocken; man konnte fast dabei zusehen, wie die Sträucher und der Rasen in der Hitze verkümmerten. Der Garten grenzte direkt an den See und hatte nur eine niedrige Uferböschung als Schutz vor den unvermeidlichen Überschwemmungen im Winter. An einem kleinen Steg war Henrys altes Dingi vertäut. Es handelte sich lediglich um ein besseres Ruderboot, aber für alles andere war Manham Water auch nicht tief genug. Der See war eben nicht der Solent, und es gab Zonen, die zu seicht oder mit Schilf zugewachsen waren, um sich hineinzuwagen. Trotzdem segelten wir beide gerne hinaus.

Heute wäre es allerdings sinnlos, ein Segel zu setzen. Es war absolut windstill. Aus meinem Blickwinkel trennte lediglich eine zackige Linie fernen Schilfes den See vom Himmel. Es gab nur die flache Ebene und das Wasser, eine Leere, die, abhängig von der Stimmung, entweder friedlich oder trostlos wirken konnte.

Jetzt fand ich sie nicht friedlich.

»Dachte mir doch, dass ich dich gehört habe.«

Ich drehte mich um, während Henry ins Zimmer rollte. »Ich versuche nur, ein paar Sachen zu regeln«, sagte ich und fing meine abgeschweiften Gedanken wieder ein.

»Wie ein verdammter Ofen hier drinnen«, brummte er und blieb vor dem Ventilator stehen. Abgesehen von seinen unbrauchbaren Beinen sah er wie das blühende Leben aus: cremig weißes Haar über einem gebräunten Gesicht und hellwache, dunkle Augen.

»Was hat es denn damit auf sich, dass die Yates-Kinder eine Leiche gefunden haben? Janice konnte sich gar nicht mehr einkriegen, als sie mir das Mittagessen gebracht hat.«

Sonntags brachte ihm Janice auf einem abgedeckten Teller meistens etwas von den Mahlzeiten, die sie für sich selbst gekocht hatte. Henry bestand zwar darauf, dass er in der Lage war, sein Sonntagsessen eigenhändig zu kochen, aber mir war aufgefallen, dass er sich selten ernsthaft dagegen wehrte. Janice war eine gute Köchin, und ich vermutete, dass ihre Gefühle für Henry über die einer Haushälterin hinausgingen. Da sie selbst unverheiratet war, hielt ich ihre Abneigung gegen seine verstorbene Frau hauptsächlich für Eifersucht, obwohl sie mehr als einmal irgendeinen vergangenen Skandal angedeutet hatte. Ich hatte deutlich gemacht, dass ich nichts davon wissen wollte. Auch wenn Henrys Ehe nicht die idyllische Beziehung gewesen war, an die er sich nun zu erinnern schien, hatte ich keinerlei Interesse daran, alten Klatsch aufgewärmt zu kriegen.

Dass Janice von der Leiche wusste, überraschte mich allerdings nicht. Die Nachricht war mittlerweile bestimmt schon im halben Dorf herum.

»Drüben bei Farnley Wood«, erzählte ich ihm.

»Wahrscheinlich irgendein Vogelfreund. Ist wohl bei der Hitze umgefallen.«

»Wahrscheinlich.«

Seine dunklen Augenbrauen erhoben sich bei meinem Tonfall. »Was sonst? Erzähl mir nicht, wir haben einen Mord! Das würde ein bisschen Leben in die Bude bringen.« Sein Lächeln verschwand, als ich es nicht erwiderte. »Irgendetwas sagt mir, ich sollte keine Witze darüber machen.«

Ich erzählte ihm von meinem Besuch auf Sally Palmers Hof, in der Hoffnung, dass, wenn ich es aussprach, es die schlimme Ahnung milderte. Das tat es nicht.

»Himmel Herrgott«, sagte Henry bedrückt, nachdem ich fertig war. »Und die Polizei glaubt, dass sie es sein könnte?«

»Sie sagen weder das eine noch das andere. Ich nehme an, sie können noch nichts sagen.«

»Mein Gott, was für eine schreckliche Sache.«

»Vielleicht ist sie es ja auch nicht.«

»Ja, genau«, stimmte er zu. Aber ich konnte ihm ansehen, dass er das genauso wenig glaubte wie ich. »Tja, ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich könnte einen Drink vertragen.«

»Danke, aber ich passe.«

»Willst du später noch ins Lamb?«

Das Black Lamb war der einzige Pub des Dorfes. Ich ging häufig dort hin, aber ich wusste, dass das Hauptthema der Gespräche heute Abend eines sein würde, bei dem ich nicht mitreden wollte.

»Nein, ich glaube, ich bleibe heute Abend einfach zu Hause«, sagte ich ihm.

Mein Haus war ein altes Steincottage am Rande des Dorfes. Ich hatte es mir gekauft, nachdem klar geworden war, dass ich länger als sechs Monate bleiben würde. Henry hatte mir gesagt, ich könnte gerne bei ihm wohnen bleiben, und Bank House war weiß Gott groß genug. Allein der Weinkeller hätte mein Cottage verschluckt. Aber ich hatte lieber in eine eigene Wohnung ziehen wollen, um endlich Wurzeln zu schlagen, anstatt ewiger Untermieter zu bleiben. Und sosehr mir meine neue Arbeit auch gefiel, ich wollte nicht mit ihr leben. Manchmal war es einfach besser, wenn man die Tür schließen und fortgehen konnte — in der Hoffnung, dass das Telefon wenigstens ein paar Stunden lang nicht klingelte.

Dies war so ein Moment. Über den Kirchhof strebten ein paar Leute zum Abendgottesdienst. Scarsdale, der Pfarrer, stand an der Kirchentür. Er war ein ältlicher, mürrischer Mann, den besonders zu mögen ich nicht behaupten konnte. Doch er lebte seit Jahren hier und hatte eine treue, wenn auch kleine Gemeinde. Ich hob meine Hand, um Judith Sutton zurückzugrüßen, eine Witwe, die mit ihrem erwachsenen Sohn Rupert zusammenwohnte, einem übergewichtigen Klotz, der immer zwei Schritte hinter seiner herrischen Mutter hertrottete. Sie sprach gerade mit Lee und Marjory Goodchild, einem prüden hypochondrischen Paar, das ständig bei uns im Wartezimmer saß. Ich hoffte, dass man mich jetzt nicht für eine spontane Konsultation aufhielt. Außer Dienst war man in Manham nie.

Doch heute Abend hielten mich weder die beiden noch irgendjemand anderes auf. Ich parkte auf dem ausgetrockneten Boden neben dem Cottage und ging hinein. Drinnen war es stickig. Ich öffnete die Fenster so weit wie möglich und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Obwohl ich nicht ins Lamb gehen wollte, brauchte ich einen Drink. Und als mir klar wurde, wie sehr ich einen Drink brauchte, stellte ich das Bier zurück und machte mir stattdessen einen Gin Tonic.

Ich brach etwas Eis ins Glas, fügte einen Schnitz Zitrone hinzu und setzte mich an den kleinen Holztisch im hinteren Garten. Ich schaute über ein Feld zum Wald, was kein so spektakulärer Ausblick war wie der von der Praxis, aber dafür war die Landschaft auch nicht ganz so niederschmetternd. Ich ließ mir Zeit mit dem Gin, machte mir dann ein Omelett und aß es draußen. Die Hitze ließ endlich nach. Während ich am Tisch saß, wurde es langsam dunkler und die ersten zögerlichen Sterne kamen zum Vorschein. Ich dachte daran, was ein paar Meilen weiter im Gange war, an die Betriebsamkeit, die jetzt in dem einst friedlichen Landstrich herrschen würde, wo die Yates-Brüder ihre Entdeckung gemacht hatten. Ich versuchte, mir Sally Palmer irgendwo gesund und munter vorzustellen, als würde der Gedanke daran helfen, es Wahrheit werden zu lassen. Doch irgendwie verblasste das Bild von ihr in meinem Kopf gleich wieder.

Um den Moment hinauszuzögern, an dem ich ins Bett gehen und dem Schlaf gegenübertreten musste, blieb ich sitzen, bis sich der Himmel zu einem samtenen Indigoblau verfärbt hatte, durchstoßen vom strahlenden Flackern der Sterne, einer willkürlichen Zeichensprache aus längst toten Lichtflecken.

___________

Ich fuhr aus dem Schlaf auf, schweißgebadet und nach Atem ringend. Ich starrte umher und hatte keine Ahnung, wo ich war. Dann hüllte mich das Bewusstsein wie ein Mantel wieder ein. Ich war nackt und stand vor dem offenen Schlafzimmerfenster. Das Fensterbrett drückte in meine Oberschenkel, denn ich hatte mich weit herausgelehnt. Ich wich mit wackeligen Beinen zurück und setzte mich aufs Bett. Im Mondschein leuchteten die zerknitterten weißen Laken fast. Während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag wieder normalisierte, trockneten langsam die Tränen auf meinem Gesicht.

Ich hatte wieder den Traum gehabt.

Es war einer von den Schlimmen gewesen. Wie immer war er so lebendig gewesen, dass das Aufwachen wie die Illusion erschien und mein Traum wie die Realität. Das war das Grausamste daran. Denn in den Träumen waren Kara und Alice, meine Frau und meine sechsjährige Tochter, noch am Leben. Ich konnte sie sehen, mit ihnen sprechen. Sie berühren. In den Träumen konnte ich glauben, dass wir noch eine Zukunft hatten und nicht nur eine Vergangenheit.

Ich hatte Angst vor diesen Träumen. Nicht so, wie man einen Albtraum fürchtet, denn in meinen Träumen geschah nichts Fürchterliches. Nein, es war genau das Gegenteil. Ich hatte Angst vor ihnen, weil ich irgendwann wieder aufwachen musste.

Dann war der Schock der Trauer, des Verlustes genauso frisch wie damals, als es passierte. Häufig wachte ich auf und wusste nicht, wo ich war. Mein schlafwandelnder Körper bewegte sich ohne mein Bewusstsein. Ich stand vor dem offenen Fenster, wie jetzt, oder oben auf der steilen und gnadenlosen Treppe und konnte mich nicht erinnern, wie ich dorthin gelangt war oder welch unterbewusster Drang mich gelenkt hatte.

Trotz der schwülen Nachtluft zitterte ich. Draußen war das einsame Gebell eines Fuchses zu hören. Nach einer Weile legte ich mich hin und starrte an die Decke, bis die Schatten verblassten und die Dunkelheit verschwand.