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Bis zum Freitag waren die Journalisten allmählich abgezogen. Da sich nichts weiterentwickelte, war das launische Medieninteresse an Manham bereits wieder erloschen. Sollte etwas passieren, würden sie zurückkommen. Bis dahin widmete man Sally Palmer und Lyn Metcalf immer weniger Sendezeit oder Zeilen, bis ihre Namen völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden wären.

Als ich an diesen Morgen ins Labor fuhr, drehten sich meine Gedanken jedoch nicht um das verblassende Medieninteresse oder, wie ich leider zugeben muss, um Sally Palmer und Lyn Metcalf. Selbst das Entsetzen darüber, dass man mich im Dorf verdächtigte, war zeitweilig verdrängt. Nein, was mir Sorgen machte, war etwas wesentlich Trivialeres.

Das Essen bei Jenny Hammond an diesem Abend.

Ich sagte mir, dass es keine große Sache war. Dass sie — oder eher ihre Freundin Tina — einfach nur nett sein wollte. Als ich noch in London lebte, war eine Einladung zum Abendessen lediglich eine höfliche Gepflogenheit gewesen, die ohne große Hintergedanken ausgesprochen und angenommen wurde. Das war nun nicht anders, redete ich mir ein.

Aber es funktionierte nicht.

Ich war nicht mehr in London. Mein gesellschaftliches Leben hatte sich auf nichts sagende Gespräche mit Patienten oder ein Bier im Pub reduziert. Und worüber sollten wir sprechen? Im Moment gab es im Dorf nur ein Thema, und das war für eine lockere Plauderei bei Tisch zwischen Fremden kaum geeignet. Erst recht dann nicht, wenn auch den beiden die Gerüchte über mich zu Ohren gekommen waren. Ich wünschte, ich hätte die Geistesgegenwart besessen, die Einladung abzulehnen. Ich überlegte sogar, mich mit irgendeiner Begründung zu entschuldigen und telefonisch abzusagen.

Doch sosehr mich der Gedanke an das Essen auch beunruhigte, ich rief nicht an. Was beinahe genauso beunruhigend war. Denn im Grunde war mir unangenehm bewusst, was mich wirklich so nervös machte. Es war der Gedanke daran, Jenny wiederzusehen. Er rührte einen dichten Bodensatz von Gefühlen auf, den ich lieber unangetastet gelassen hätte. Und mittendrin lauerte das schlechte Gewissen.

Es kam mir vor, als bereitete ich mich darauf vor, untreu zu werden.

Natürlich wusste ich, wie lächerlich dieser Gedanke war. Ich würde nur zu einem Abendessen gehen, und seit an jenem Nachmittag vor beinahe vier Jahren ein betrunkener Geschäftsmann die Kontrolle über seinen BMW verloren hatte, war mir nur allzu bewusst, dass es niemanden gab, dem ich untreu werden konnte.

Aber das änderte nichts daran.

Deshalb war ich nicht besonders konzentriert, als ich den Wagen parkte und den Lift ins Labor nahm. Ich versuchte mich zu sammeln, während ich die Stahltür zum Obduktionssaal aufschob und hineinging. Marina war schon dort. Die Tür fiel noch hinter mir zu, als sie schon sagte: »Die Ergebnisse sind da.«

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Mackenzie schaute stirnrunzelnd auf den Bericht, den ich ihm gegeben hatte. »Sind Sie sicher?«

»Ziemlich. Die Tests bestätigen, dass Sally Palmer seit ungefähr neun Tagen tot war, als ihre Leiche gefunden wurde.«

Wir befanden uns in dem kleinen Büro des Labors. Ich hatte angeboten, die Ergebnisse per E-Mail zu schicken, doch als ich ihn anrief, hatte er gesagt, er würde vorbeikommen. »Wie verlässlich ist das?«, fragte er nun.

»Die Analyse der Aminosäuren ist mit einer Toleranz von zwölf Stunden genau. Ich kann Ihnen die ganz exakte Todeszeit nicht nennen, aber es war irgendwann zwischen Freitag- und Samstagmittag.«

»Genauer geht es nicht?«

Ich widerstand dem Impuls, laut zu werden. Ich hatte den ganzen Morgen damit zugebracht, die Todeszeit zu berechnen. Es war eine komplizierte Angelegenheit, bei der die Testergebnisse mit der durchschnittlichen Temperatur und anderen Wetterdaten der Tage, in denen Sally Palmers Leiche draußen gelegen hatte, in Bezug gesetzt werden mussten. Des Lebens größtes Mysterium reduziert auf eine banale mathematische Formel.

»Tut mir Leid. Aber unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren, den Maden und so weiter, würde ich von einem Todeszeitpunkt ziemlich genau in der Mitte dieses Bereiches ausgehen.«

»Also Freitagnacht. Und drei Tage vorher beim Grillfest wurde sie das letzte Mal gesehen.« Mackenzie runzelte die Stirn angesichts der Bedeutung dieser Erkenntnis. »Es gibt keine Möglichkeit, dass Sie die Todeszeit des Hundes ähnlich genau bestimmen können?«

»Der Organismus eines Hundes ist anders als der eines Menschen. Ich könnte Analysen machen lassen, aber sie würden uns nicht weiterbringen.«

»Scheiße«, brummte er. »Aber Sie sind immer noch der Meinung, dass er schon länger tot war?«

Ich zuckte mit den Achseln. Ich konnte mich lediglich auf den Zustand der Leiche des Hundes stützen sowie auf die Insektenaktivität am Fundort, aber damit allein erzielte man kaum exakte, wissenschaftliche Ergebnisse. »Ich bin mir ziemlich sicher, aber wie gesagt, bei Hunden kann man nicht unbedingt die gleichen Regeln anwenden. Aber ich würde sagen, er war mindestens zwei oder drei Tage länger tot.«

Mackenzie zog an seiner Lippe. Ich wusste, was er dachte. Lyn Metcalf war seit drei Tagen verschwunden. Wenn der Mörder wieder dem gleichen Muster folgte und sie irgendwo gefangen hielt, näherten wir uns nun dem Schlussakt. Welch abartigem Programm er auch folgte, wenn es noch nicht abgelaufen war, dann wäre es bald so weit.

Es sei denn, sie wurde vorher gefunden.

»Wir haben außerdem die Analyse für die Substanz erhalten, die wir in einer der Messerkerben in Sally Palmers Rückenwirbel gefunden haben«, teilte ich Mackenzie mit. Ich las von meiner Kopie des Berichtes ab. »Es handelt sich um ein Hydrogencarbonat. Ziemlich komplex, besteht aus ungefähr achtzig Prozent Kohlenstoff, zehn Prozent Wasserstoff, dazu kleinere Mengen Schwefel, Sauerstoff, Stickstoff und ein paar Spuren Metall.«

»Und das bedeutet?«

»Bitumen. Eine Abdichtungs- oder Isoliermasse. Das Zeug kann man in jedem Gartencenter oder Baumarkt kaufen.«

»Na, das schränkt die Auswahl ja enorm ein.«

Irgendetwas flackerte schwach in meinem Hinterkopf auf, eine synaptische Verbindung, ausgelöst durch etwas, was gerade gesagt worden war. Ich fischte danach, doch es ließ sich nicht fassen.

»Sonst noch was?«, fragte Mackenzie, und was auch immer mir gerade durch den Kopf gegeistert war, verflüchtigte sich völlig.

»Eigentlich nicht. Ich muss noch die Messerspuren im Rückgrat des Hundes untersuchen. Mit etwas Glück wissen wir dann, ob beide mit der gleichen Waffe getötet worden sind. Dann bin ich fertig.«

Mackenzie machte ein Gesicht, als hätte er diese Ergebnisse erwartet, aber auf mehr gehofft.

»Wie sieht es bei Ihnen aus? Gibt es neue Entwicklungen?«, fragte ich.

Ich konnte mir die Antwort vorstellen, als ich sah, wie sich Mackenzies Miene verfinsterte. »Wir verfolgen ein paar Spuren«, sagte er steif.

Ich sagte nichts. Nach einem Moment seufzte er.

»Wir haben keinen Verdächtigen, keine Zeugen und kein Motiv. Kurz gesagt, nichts. Bei den Befragungen der Anwohner ist nichts herausgekommen, und die Suche haben wir zwar wieder aufgenommen, aber wegen möglicher Fallen müssen wir weiterhin langsam vorgehen. Außerdem wird es unmöglich sein, die gesamte Gegend zu durchkämmen. Die Hälfte davon ist ein verfluchter Sumpf, und dann gibt es Gott weiß wie viele Wälder und Gräben …«

Er schüttelte den Kopf und wirkte immer frustrierter. »Wenn er ihre Leiche gut versteckt hat, dann finden wir sie vielleicht nie.«

»Dann glauben Sie also, dass sie tot ist.«

Sein Blick war erschöpft. »Sie waren an genügend Mordermittlungen beteiligt. Wie oft finden wir die Opfer lebendig?«

»Es kommt vor.«

»Ja, es kommt vor«, räumte er ein. »Aber es kommt auch vor, dass jemand im Lotto gewinnt. Ganz ehrlich, die Wahrscheinlichkeit halte ich für größer, als dass Lyn Metcalf überlebt. Niemand hat etwas gesehen, niemand weiß etwas. Die Spurensicherung hat weder dort, wo sie geschnappt wurde, noch am Fundort von Sally Palmers Leiche irgendwelche nützlichen Beweise gefunden. Bei der Überprüfung der Vorstrafenregister oder der aktenkundigen Sexualstraftäter ist auch nichts herausgekommen. Wir können einzig und allein davon ausgehen, dass der Verdächtige einigermaßen kräftig und fit ist und sich ein bisschen mit der Arbeit im Wald und der Jagd auskennt.«

»Das hilft nicht besonders weiter, oder?«

Er lachte bitter auf. »Nicht besonders, nein. Wenn wir in Milton Keynes wären vielleicht, aber in einer ländlichen Gemeinde wie dieser gehört die Jagd zum Leben. Die Leute achten gar nicht darauf. Nein, bisher schafft es unser Mann, sich aus dem Radar zu halten.«

»Was ist mit dem psychologischen Profil?«

»Das gleiche Problem. Wir haben einfach nicht genug Informationen, von denen man ausgehen kann. Was die Psychologen uns bisher aufgetischt haben, ist so vage, dass es nutzlos ist. Wir haben es mit einem sportlichen Typ zu tun, der körperlich fit ist und einigermaßen intelligent, aber dennoch leichtsinnig oder achtlos genug, um Sally Palmers Leiche dort zu deponieren, wo sie gefunden werden konnte. Das könnte auf die Hälfte der männlichen Dorfbevölkerung zutreffen. Bezieht man noch die Nachbardörfer mit ein, dann haben wir es mit zwei- oder dreihundert möglichen Verdächtigen zu tun.«

Er klang deprimiert. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich war kein Fachmann, aber aus Erfahrung wusste ich, dass die meisten Serienmörder entweder durch Zufall gefunden wurden oder weil sie einen eklatanten Fehler gemacht hatten. Es sind Chamäleons, scheinbar normale Mitglieder der Gesellschaft, die sich hinter einer bürgerlichen Fassade verstecken. Wenn sie schließlich entlarvt werden, wollen es Freunde und Nachbarn anfänglich nicht wahrhaben. Erst im Nachhinein meint man schließlich all die Merkwürdigkeiten zu erkennen, die die ganze Zeit schon da gewesen waren. Abgesehen von den Gräueltaten, die sie begangen haben, ist das Erschreckendste an unseren Ungeheuern des wirklichen Lebens, wie normal sie erscheinen.

Wie du und ich.

Mackenzie kratzte sich an dem Leberfleck auf seinem Hals. Er hörte auf, als er merkte, dass ich ihn beobachtete. »Eine Sache ist herausgekommen, die wichtig sein könnte«, sagte er mit einer Beiläufigkeit, die nicht ganz überzeugend war. »Ein Zeuge, der mit Sally Palmer bei dem Grillfest gesprochen hat, sagt, dass sie verärgert war, weil ihr jemand ein totes Wiesel auf die Türschwelle gelegt hatte. Sie hielt das für einen reichlich kranken Witz.«

Ich dachte an die Schwanenflügel, die in Sally Palmers Leiche gesteckt hatten, und an die Wildente, die an dem Morgen an den Stein gebunden worden war, als Lyn Metcalf verschwand. »Glauben Sie, dass der Mörder es dort hingelegt hat?«

Er zuckte mit den Achseln. »Könnten auch Kinder gewesen sein. Oder es war eine Art Zeichen oder Warnung. Als wollte er sein Gebiet abstecken oder so. Wir wissen bereits, dass er Vögel als Markenzeichen benutzt. Es spricht nichts dagegen, dass er auch andere Tiere nimmt.«

»Was ist mit Lyn Metcalf? Hat sie auch so eine Entdeckung gemacht?«

»Sie hat einen Tag vor ihrem Verschwinden ihrem Mann gegenüber erwähnt, dass sie im Wald einen toten Hasen gefunden hat. Aber der könnte genauso gut von einem Hund oder einem Fuchs getötet worden sein. Das kann man jetzt unmöglich mehr wissen.«

Er hatte Recht, ich machte mir aber trotzdem meine Gedanken. Natürlich gab es Zufälle, bei Morden ebenso wie bei allen anderen Facetten des Lebens. Aber wenn man bedachte, wie sich der Mörder bisher verhalten hatte, erschien es keineswegs unmöglich, dass er so selbstsicher war, seine Opfer im Voraus zu markieren.

»Sie glauben also nicht, dass etwas dahinter steckt?«, fragte ich.

»Das habe ich nicht gesagt«, blaffte er. »Aber in diesem Stadium können wir nicht viel machen. Wir suchen bereits nach jemandem mit einer Vorstrafe wegen Tierquälerei. Ein paar Leute erinnern sich, dass vor zehn, fünfzehn Jahren ein paar Katzen verstümmelt und getötet wurden, es wurde aber nie jemand erwischt, und … Was ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie sagten doch selbst, wir sind hier nicht in der Stadt. Die Leute hier haben eine andere Einstellung zu Tieren. Ich will nicht behaupten, dass sie absichtlich grausam sind, aber viel Mitgefühl wird man auch nicht erleben.«

»Sie meinen, ein paar tote Tiere würden niemandem auffallen«, sagte er knapp.

»Wenn man auf der Dorfwiese einen Hund in Brand setzen würde, gäbe es wahrscheinlich eine Reaktion. Aber wir sind hier auf dem Land. Hier werden ständig Tiere getötet.«

Widerwillig akzeptierte er, was ich gesagt hatte. »Lassen Sie mich wissen, was Sie über den Hund herausgefunden haben«, sagte er und stand auf. »Wenn es etwas Wichtiges ist, können Sie mich auf meinem Handy erreichen.«

»Bevor Sie gehen«, sagte ich, »es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten.«

Ich erzählte ihm von dem im Dorf kursierenden Gerücht, dass ich verhaftet worden war. »Um Himmels willen«, seufzte er, als ich fertig war. »Wird das zu einem Problem?«

»Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Aber die Leute werden nervös. Wenn sie sehen, dass Sie in die Praxis kommen, dann ziehen sie sofort voreilige Schlüsse. Ich möchte nicht in die Lage kommen, mich immerzu erklären zu müssen.«

»Verstanden.«

Er schien allerdings nicht besonders besorgt zu sein. Auch nicht überrascht. Nachdem er gegangen war, kam mir der Gedanke, dass er vielleicht mit so etwas gerechnet hatte, ja dass es ihm sogar passen könnte, wenn ich die Aufmerksamkeit auf mich zog. Ich sagte mir, dass das lächerlich war. Doch der Gedanke verflüchtigte sich nicht, als ich mich wieder an die Untersuchung des Hundeskeletts machte.

Ich arbeitete automatisch, während ich die Einkerbung des Messers im zervikalen Rückenwirbel präparierte und fotografierte. Es waren Routinehandgriffe, die eher dazu dienten, bereits vorhandene Erkenntnisse zu untermauern, und selten die Aussicht boten, etwas Neues und Nützliches zu entdecken. Als ich den Rückenwirbel unter ein Aufsichtmikroskop legte, um es detaillierter zu untersuchen, wusste ich bereits, was mich erwarten würde. Ich betrachtete ihn noch immer, als Marina mit einer Tasse Kaffee zu mir kam.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte sie.

Ich trat zur Seite. »Schauen Sie selbst.«

Sie beugte sich über das Mikroskop. Nach einem Moment justierte sie die Schärfe. Als sie sich aufrichtete, sah sie verwirrt aus.

»Verstehe ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Der Schnitt ist uneben und nicht glatt wie der andere. Man kann Wellen im Knochen erkennen. Sie haben gesagt, nur ein Sägemesser erzeugt solche Muster.«

»Stimmt.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Der Schnitt im Rückenwirbel der Frau war glatt. Warum ist das hier anders?«

»Das ist ziemlich einfach«, sagte ich. »Es war ein anderes Messer.«