23.
Weil ich dich liebe
Steffen wurde als Erster wach und hielt sich den bleischweren Schädel. «Sagt mal, Jungs, ist das bei euch immer so?»
Birkel antwortete mit brüchiger Stimme und deutete auf mich: «Bei ihm schon, ich bin eigentlich ein ganz Braver.»
Ich konterte noch im Halbschlaf: «Ja sicher bist du ein ganz Braver, sonst hättest du ja auch einen Swingerclub und würdest dein Geld mit den Sauereien anderer Leute verdienen.»
Ich ahnte, was jetzt kommen würde – und richtig. Er grinste breit, zuckte nur mit den Schultern und sagte: «Ich sag euch, wie es ist: Jeden Pudel juckt die Nudel!»
Wir lachten alle. Wie oft hatten wir gestern in «Mary’s Treff» diesen Spruch gehört! Steffen reckte sich, stand auf und verabschiedete sich herzlich von uns. Keine halbe Stunde später saßen der Lange und ich frisch geduscht und gebügelt im Frühstücksraum vom «Monopol».
Ernüchterung machte sich breit. Wir hatten alles gegeben und noch immer keine Spur von dem Erzeuger von Philipp gefunden. Nach seinem zwölften hartgekochten Ei nahm Birkel einen tiefen Schluck aus der Orangensaftkaraffe, stieß geräuschvoll auf und fragte mich unvermittelt: «Sag mal, Atze, eins frag ich mich schon die ganze Zeit – was machst du eigentlich mit dem Typen, wenn du ihn gefunden hast?»
Die Frage erwischte mich komplett unvorbereitet.
«Was ich mit dem mache? Was ich mit dem mache? Das kann ich dir sagen, was ich mit dem mache! Dem hau ich was auf die Schnauze. Das mache ich mit dem.»
«Ja, und dann?»
«Ja wie, und dann?»
Das sollte doch erst mal reichen. Aber der Lange ließ nicht locker: «Ja, was dann? Was hat der dir denn überhaupt getan?»
«Was der mir getan hat? Pass auf, Langer – das kann ich dir genau sagen … äh … der hat … Mann, ich lass mir doch von so einem Schnösel nicht die Perle ausspannen.»
Birkel schmunzelte und stocherte genüsslich nach.
«Äh … deine Perle? Hab ich da irgendwas nicht mitgekriegt? Ist diese Ute jetzt deine feste Freundin, oder was? Wissen das die anderen auch? Ich mein, Vanessa und Co.?»
So langsam nervte mich der Lange.
«Mensch, Uwe, was stellst du denn hier für Fragen? Bist du auf meiner Seite oder nicht? Es ist aus mit Vanessa und allen anderen, denn ich liebe diese Frau! Verstehst du mich? Ich liebe Ute! Liebe, Uwe, Liebe!»
Ein breites Grinsen huschte über Birkels Gesicht.
«Aha. Soso. Weiß sie das denn auch?»
Ich wand mich wie ein Zitteraal.
«Ja … öh, nee … ich mein … äh, im … äh … im Prinzip schon. Ist doch reine Formsache, Mann! Darum geht’s doch auch jetzt gar nicht. Du mixt aber auch alles durcheinander. Auf jeden Fall macht der Arsch mir das nicht kaputt.»
Birkel blieb unerschütterlich und ließ nicht locker: «Ich mixe gar nix durcheinander, ich versteh es nur nicht. Was macht der Thorsten denn eigentlich kaputt? Hat der was mit der Ute, oder wie?»
«Ey Uwe, du gehst mir langsam auf die Nüsse. Woher soll ich das denn wissen? Auf jeden Fall lass ich mir das nicht bieten. Basta.»
Birkels Laune schwankte zwischen Mitleid mit einem Wahnsinnigen und Ärger über so viel Dämlichkeit. «Alter, ganz im Ernst – du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Du laberst Müll, mein Junge! Du liebst eine Frau, der du das gar nicht gesagt hast, und bist eifersüchtig auf ein Verhältnis, das es anscheinend gar nicht gibt. Wie bekloppt ist das denn? Ich frag dich jetzt zum letzten Mal – Atze, was geht hier eigentlich ab?»
Ich fühlte mich plötzlich wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwich. Niedergeschlagen versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren. Dann atmete ich tief durch und legte Birkel die Karten auf den Tisch. Die ganze Wahrheit. Dass ich überhaupt nicht wusste, warum Ute mit Philipp zu diesem Thorsten gefahren war. Wahrscheinlich ging es nur um irgendwelche Unterschriften für das Einwohnermeldeamt, den Kindergarten oder weiß der Kuckuck was. Ich hatte mich völlig in meine Unfähigkeit verrannt, meine wahren Gefühle auszudrücken. Stattdessen markierte ich hier den wilden Mann. Ich fühlte mich jämmerlich und wollte nur noch nach Hause. «Komm, Uwe, lass gut sein. Tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe. Komm, bring mich zum Bahnhof, ich äh …»
Geräuschvoll zog ich die Nase hoch. Der Lange verdrehte die Augen und erhob flehend die Hände: «Mann, Schröder, du gehst mir echt auf den Sack. Musst du eigentlich aus allem ein Drama machen? ‹Bring mich zum Bahnhof! Lasst mich sterben! Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses!› Ey, komm runter. Es ist doch gut, dass wir mal über alles gesprochen haben. So. Und jetzt gehen wir beide erst mal runter zu den Landungsbrücken, ein richtig schönes Schaschlik essen. Dann sieht die Welt gleich ganz anders aus. Von dem Kinderfrühstück hier wird doch kein Mensch satt.»
Ich ließ alles mit mir geschehen und trottete brav hinter Birkel her, runter zu den Landungsbrücken.
Wir saßen an einem Fenstertisch in der «Goldenen Möwe». Der Lange ließ sich ein Schaschlik nach dem nächsten servieren. Die Januarsonne zeigte sich von ihrer schönsten Seite und tauchte den Hamburger Hafen in ein freundliches Licht. Touristen standen an den Piers und bestiegen die Barkassen und Boote für eine launige Hafenrundfahrt an einem traumhaften Wintertag. Ich nahm meine Umgebung wie durch einen Vorhang war. Als hätte ich eine Grippe, nur ohne Grippe.
Dann und wann störten mich Birkels geräuschvolles Schmatzen und das eifrige Geklapper der Kellner. Aber mir war alles egal. Ich hatte keinen Hunger, ich hatte keinen Durst, kein Ziel und keine Meinung. Ich starrte auf die Touristenscharen, die fröhlich und ausgelassen auf die Schiffe sprangen und sich auf eine kleine Bootstour freuten. Eine Hafenrundfahrt durch den Hamburger Hafen muss tatsächlich jeder einmal gemacht haben. Es gibt nicht nur viel zu sehen, sondern auch jede Menge zu lachen. Jeder der Kapitäne ist in der Lage, aus der Rundfahrt eine lustige Comedy-Veranstaltung zu machen. Kleine Witzchen, flapsige Sprüche und hanebüchenes Seemannsgarn werden unerschrocken durch die scheppernden Bordlautsprecher gesabbelt: «Wenn Sie kotzen müssen, bitte in kleinen Stückchen, sonst verschlucken sich die Fische. Backbord neben uns sehen Sie das Drogenschulschiff Escobar …» – und so weiter und so fort. Der ganze Klamauk eben.
Wieder legte eine Barkasse ab, und eine andere machte am Pier fest, um die nächste Ladung Fahrgäste an Bord zu nehmen. Mein Blick blieb an einem Schnösel im teuren Kaschmirmantel hängen, der bemüht darauf achtete, dass ihm das kleine Kind mit dem Schokoladeneis nicht den Mantel verschmierte. Der Kleine sah sogar ein bisschen aus wie Philipp. Ach du Scheiße! Das war Philipp. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und brüllte Birkel an: «Langer! Da isser! Da isser! Los, komm!»
Er guckte mich an, als hätte ich jetzt endgültig den Verstand verloren. Ich riss den Tisch um und versuchte Birkel nach draußen zu ziehen – ein völlig aussichtsloses Unterfangen.
«Atze, mal langsam, mach keinen Fehler. Ich muss erst austrinken und bezahlen.»
«Verstehst du mich denn nicht. Da isser! Philipp! Da isser! Die gehen gerade an Bord. Los, hinterher, die machen ja schon die Leinen los!»
Endlich kam Leben in den trägen Riesen. Er wischte sich schnell den Mund ab, warf einen Fuffziger auf die Theke und lief mit mir zum Anleger. Die Barkasse war schon dabei abzulegen. In letzter Sekunde konnten wir noch an Bord springen. Im hinteren Teil des Kahns fanden wir zwei Plätze bei der Getränkeausgabe.
Ich duckte mich vorsichtshalber hinter Birkels breitem Rücken und schaute nach Philipp und seinem Erzeuger aus. Da! Vorne in der dritten Reihe saßen sie: Thorsten, Philipp – und Ute. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Eingemummelt in ihre dicke Daunenjacke, war sie mit Mütze und Schal kaum zu erkennen. Das war also dieser tolle Thorsten, für den sie ein Spitzenwochenende im «Center Parc» Medebach sausenließ! Klar, mit so einem siffigen Kneipenkutter durchs Brackwasser einer gigantischen Industrieanlage mit rostenden Seecontainern zu schippern ist ja auch tausendmal interessanter! Statt auf einer 1-a-beheizten Superwasserrutsche vor Vergnügen zu jauchzen, musste das arme Kind bei Minustemperaturen die miesen Kalauer eines runtergekommenen Hafenkapitäns ertragen! Na bravo. Das war ja schon fast ein Fall für das Jugendamt. So wie es aussah, hatten die drei auch keinen Spaß. Hätte ich ihnen auch vorher sagen können. Ich kochte vor Wut. Birkel neben mir war dagegen hochzufrieden und lachte über jeden Witz von dem miesen Clown am Ruder.
«Hömma, Atze, der Käpt’n haut ja auch echt gute Dinger raus. Die kannste dir mal für dein Programm merken. Echt geil. Ja, und die drei da vorne haben doch auch ganz gut Spaß, oder? Sieht nicht so aus, als wenn die irgendwas vermissten.»
Ich hätte ihn umbringen können. Gerade als ich angemessen antworten wollte, sah ich, dass der ach so schicke Thorsten aufstand und in Richtung Getränkeausgabe stolzierte. Mediziner. Ja nee, is’ klar. Muss hier natürlich einen auf dicke Hose machen und mit der Kohle herumaasen, die er vorher armen Omas aus den Krampfadern gezogen hat.
Hinter Birkels Rücken hörte ich, wie der feine Pinkel bestellte: «Zwei Glühwein und eine Fanta bitte.»
Ja, sicher. War ja klar. Gestelzter konnte man sich ja wohl nicht ausdrücken. Und dann eine Fanta, also bitte! Für ein Kind!!! Geht’s noch? Das hätte ich mal wagen sollen, meinen kleinen Philipp mit so einer ungesunden Zuckerplörre zu vergiften. Aber wenn der Herr Doktor das verordnet, dann ist das natürlich ganz was anderes.
Ob es Reflex war oder pure Absicht, weiß ich nicht mehr genau. Auf jeden Fall hielt ich meinen rechten Fuß ganz bewusst zwischen seine Beine, als er mit dem Tablett an uns vorbei wieder Richtung Bug marschierte. Klirr, klöng, rums …! Die Hälfte des heißen Glühweins landete auf meiner Hose. Ich schrie vor Schmerz laut auf, packte mir den gestrauchelten Quacksalber am Schlafittchen und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige: «Pass doch auf, du Idiot.»
Bevor Thorsten zurückschlagen konnte, sprang Birkel zwischen uns und hielt uns mit seinen mächtigen Armen auf Distanz. Ein kleiner Tumult brach aus. Auf einmal drehte sich alles auf der Barkasse nur noch um unsere kleine Rangelei.
Doktor Thorsten verlor jegliche Contenance und brüllte mich wütend an: «Sind Sie völlig verrückt geworden? Ich zeig Sie an, Sie Asi! Körperverletzung, das wird teuer!»
Wir versuchten beide, uns laut keuchend aus Birkels Schraubstockgriff loszustrampeln, doch gegen dessen Urgewalt hatten wir keine Chance.
Mitten in diesem ganzen Chaos hörte ich plötzlich Philipp schreien: «Mama, da vorne ist Atze! Aaatze!»
Er sprang auf und lief auf mich zu. Ute starrte ihm ungläubig hinterher. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Fassungslos und verwirrt folgte sie dem Jungen und ging auf uns Streithähne zu.
Philipp sprang mir freudestrahlend um den Hals, worauf Birkel mich losließ. Den Fantakäufer und Glühweinverschütter hielt er unbarmherzig weiter in Schach. Thorstens Proteste verstand man nur mühsam, da ihm offensichtlich die Luft zum Sprechen fehlte. Eisenhart, aber optisch einwandfrei hatte Birkel sein Opfer neben sich auf die Sitzbank gedrückt. Die beiden sahen aus, als ob sie Kumpel wären und ihren Ausflug genössen. Philipp war außer sich vor Freude. «Das ist ja toll, dass du auch da bist! Mama und ich sitzen da vorne. Setzt du dich gleich zu uns?»
Dann stand auch Ute vor mir: «Was machst du denn hier?»
«Tja, Ute, gute Frage. Aber wenn ich dich hier so mit diesem Lackaffen» – ich deutete auf Thorsten – «sitzen sehe, dann frage ich mich nur noch … was machst du eigentlich hier?»
Verärgert schaute sie mich an. «Ach, daher weht der Wind. Monsieur Schröder ist eifersüchtig. Mein Gott, wie lächerlich.»
«Lächerlich? Lächerlich? Ich sag dir mal, was lächerlich ist. Lächerlich ist, dass du mit diesem Eierkopp hier in Hamburg auf kleine Familie machst, anstatt mit einem alten Freund wie mir in den Center Parc ins Sauerland zu fahren.»
Mit großem Interesse verfolgte das komplette Boot unsere Unterhaltung. Selbst Thorsten versuchte sich einzumischen: «Wir mmmpf.»
Weiter kam er nicht, weil Birkel ihn in den Schwitzkasten nahm und ihm dabei grob den Kopf tätschelte. Ute kam schnell in Fahrt: «Sag mal, Atze, ist das wirklich dein Ernst? Das ist wirklich das Peinlichste, was ich jemals gehört habe. Was geht dich das überhaupt an, was wir hier machen?»
Ich suchte krampfhaft nach ein paar Spatzen, die mein Lied sangen: «Das geht mich eine ganze Menge an. Selbst deine Mutter …»
Sie schnitt mir wütend das Wort ab: «Ja, stimmt. Meine Mutter hat mir gestern erzählt, was du dir für ein Ding geleistet hast. Stinkbesoffen nachts um drei meine alte Mutter anzurufen und sie über meine Privatangelegenheiten auszuquetschen, das ist doch wohl das Allerletzte. Wie billig! Du solltest dich was schämen. Das ganze Affentheater hier abzuziehen, nur weil ich mich mit Thorsten treffe, um ein paar Formalitäten wegen Philipps Ausbildungsfonds zu klären! Was kommt als Nächstes, Atze? Ich hab die Schnauze gestrichen voll von deinen Eskapaden. Mir reicht’s jetzt. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was das ganze Theater hier zu bedeuten hat, sonst ist es aus mit unserer Freundschaft!»
Mittlerweile hielt selbst der Käpt’n die Fresse und starrte gebannt mit dem Rest der Meute auf unser Drama. Vor allem starrten sie mich an. Jetzt musste mir dringend etwas Gutes einfallen.
«Ja, Ute, was hat das alles wohl zu bedeuten? Das will ich dir gern sagen! Warum mach ich das wohl alles? Warum? Was glaubst du, warum?»
Herausfordernd sah sie mich an: «Ja, warum? Sag es mir Atze, warum?»
«Warum? Weil … weil … ich … weil ich … weil ich …»
Ich spürte, wie tief in mir eine Urgewalt brodelte und sich erbarmungslos wie ein Vulkanausbruch in Bewegung setzte. Mein Herz raste, und ich zitterte am ganzen Körper. Hilflos ruderte ich mit meinen Armen in der Luft herum und versuchte, das drohende Gefühlserdbeben unter Kontrolle zu bringen. Alles um mich und Ute herum nahm ich nur noch verschwommen wahr, und ich fühlte mich wie gefangen in einer Zeitlupenmaschine. Dann brach es aus mir heraus:
«WEIL ICH DICH LIEBE, VERDAMMT NOCH MAL! ICH LIEBE DICH! REICHT DIR DAS ALS BEGRÜNDUNG?! ICH! LIEBE! DICH!»
Ich ließ die Arme fallen, schaute ihr tief in die Augen und murmelte: «Ute, ich liebe dich.»
Für einen Moment herrschte Totenstille, dann brandete tosender Beifall auf. Selbst der Käpt’n meldete sich über Lautsprecher und tutete wie wild mit dem Horn. «Du darfst die Braut jetzt küssen!», schallte es über den Lautsprecher.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ehe ich mich’s versah, schlang Ute ihre Arme um mich, und wir küssten uns leidenschaftlich.
«Ich liebe dich auch, du bekloppter Idiot», flüsterte sie in mein Ohr und wischte sich die Tränen von der Wange. «Ich liebe dich auch.»
Stunden später lagen wir glücklich nebeneinander im Hotelbett. Philipp schlief selig im Nebenzimmer. Birkel und Thorsten waren mittlerweile ein Herz und eine Seele und tranken Arm in Arm kontrolliert die Hotelbar leer. Liebevoll legte Ute ihren Kopf auf meine Brust. Vorsichtig fragte ich: «Meinst du, das wird was mit uns?»
Sie lachte kurz, hob den Kopf und sah mir lange in die Augen: «Keine Ahnung, aber wir können es ja mal probieren.»