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15.

Chikungunyafieber

Das Chikungunyafieber ist eine tropische Infektionskrankheit, die durch Stechmücken übertragen wird. Das Chikungunyavirus löst hohes Fieber aus und sorgt für amtliche Gelenkbeschwerden. Und was stand da noch bei Wikipedia? – In der Sprache der afrikanischen Makonde heißt Chikungunya «der gekrümmt Gehende», weil man vor lauter Schmerz nicht aufrecht gehen kann. Die Krankheit hinterlässt meistens keine bleibenden Schäden und ist normalerweise selten tödlich. NORMALERWEISE SELTEN?

Ich weinte stumm ins Kissen. Ich war doch noch so jung. Eine scheiß afrikanische Mücke sollte mein Ende sein? Wie demütigend. Da schafft man Essen–Hamburg in anderthalb Stunden, überlebt als Einziger mit einem BVB-Trikot in der Nordkurve auf Schalke – und dann dies.

Aber wenn mein Tod auch nur zwei afrikanische Kinderleben gerettet hatte, dann würde ich in Frieden gehen. Tränen der Rührung liefen mir über die glühenden Wangen und verdunsteten, noch ehe sie meine rauen Bartstoppeln erreichten. Ich griff zu Block und Bleistift. Den Porsche sollte Philipp kriegen, meine Rolex, die ich in Ghana bei einem seriösen Händler in den Straßen von Accra mit von ihm persönlich unterschriebenem Echtheitszertifikat erworben hatte, sollte Gomera-Gerds Handgelenk schmücken. Ich rief meinen Manager Töne an, um ihm mitzuteilen, dass das Ende nahte, und um letzte Anweisungen zu geben: «Töne, mein treuer Gefährte, ich möchte nicht, dass du weinst – aber es ist vorbei. Mein maroder Geist verlässt nun bald diesen einstmals unbezwingbaren Körper. Du weißt, was zu tun ist. Ruf beim ZDF an – ich möchte mich mit einer großen Gala von der Nation verabschieden. Carmen Nebel soll in zwanzig Zentimeter hohen Hacken und einem ihrer sexy sitzenden Sakkos moderieren. Ich will auf dem Porsche-Werksgelände in Zuffenhausen beerdigt werden. Ich möchte diesen großen Helden der Arbeit ein bisschen was zurückgeben.»

Töne am anderen der Leitung schwieg andächtig und fragte dann ungerührt: «Hömma, Atze, du bist doch nächste Woche bei ‹Volle Kanne› im Morgenprogramm des ZDF. Die Redaktion lässt fragen, ob du nicht zusammen mit Ingo Mommsen einen AC/DC-Topflappen häkeln könntest.»

Ich brüllte heiser in den Hörer: «Ich fass es nicht. Ich sterbe, und du kommst mir mit Topflappen!?»

«Ja, Atze, ich weiß, aber du stirbst nicht. Ich hab eben mit dem Professor vom Tropeninstitut Hamburg gesprochen. In einer Woche bist du wieder auf dem Damm.»

«Ach was weiß der denn? Ihr habt doch alle keine Ahnung. Das wird euch allen noch mal schrecklich leidtun, aber dann ist es zu spät!»

Wutentbrannt knallte ich den Hörer auf, zog mich an und stürmte die Treppe zu Ute runter. Wie wild hämmerte ich an der Tür. Als die Tür aufging, ließ ich mich mit letzter Kraft in Utes Arme fallen. «Ich werde sterben», schluchzte ich verzweifelt.

Sie nahm meinen Kopf, streichelte mir die Locken und lächelte sanft: «Nein, mein Prinz, du stirbst nicht. Ich hab den Doktor heute Morgen im Hausflur getroffen. Und rate mal, was er gesagt hat: Nächste Woche bist du wieder ganz der Alte.»

Schlagartig ging es mir ein bisschen besser. Mein Gott, roch diese Frau gut. Ich spürte ein leichtes Pochen am Reißverschluss meiner knallengen Jeans. In der jäh aufkeimenden Scham über meine viel zu vitale körperliche Reaktion löste ich mich aus ihrer Umarmung. Ob sie es wohl gemerkt hatte? Sie tat ahnungslos.

«Hör mal, mein gelockter Tropenforscher, jetzt geh mal schön wieder nach oben ins Bett. Ich komme gleich mit Philipp hoch, bringe dir was zu essen und lese dir was vor.»

Die nächsten Tage schonte ich mich, und schon bald war ich so gut wie auskuriert. Alle hatten mich besucht: Hajo und Gerd waren jeden Abend zum Fußballgucken und Skatspielen am Start. Die ganze Nachbarschaft riss sich darum, mich mit Köstlichkeiten zu versorgen. Unser traditioneller Männerabend wurde samt Heizpilz kurzerhand an mein Krankenlager verlegt, und der edle Gerstensaft floss in Strömen. Selbst die gute Vanessa besuchte mich wieder. Sie hatte sogar von Douglas ein paar Badesalze mitgebracht, um mich ausgiebig und unter vollem Körpereinsatz aufopfernd in der Wanne zu baden. Ganz rührend: Aus meinem ghanaischen Dorf schickte mir der Medizinmann ein geheimnisvolles Pulver, das ich brav schluckte. Am Ende fand ich es fast schade, dass diese tolle Krankheit vorbei war. Es war so schön, wie gut sich unsere kleine skurrile Hausgemeinschaft in Zeiten der Not bewährte.

Die Früchte dieses Zusammenrückens sollte ich schon bald ernten. Aus heiterem Himmel rief mich Ute eines Nachmittags an und sagte das Unglaubliche: «Kannst du heute bitte Philipp vom Kindergarten abholen?»


Ich konnte es nicht fassen. Dass ich das noch erleben durfte! Bisher durfte ich ja wirklich alles mit dem Kleinen unternehmen, aber «Vom Kindergarten abholen» schien ein unumstößliches Tabu gewesen zu sein. Sogar Gomera-Gerd hatte ihren kleinen Liebling schon mal nach Hause bringen dürfen, nur ich nicht! Wahrscheinlich weil er Beamter war und ich ja nur ein unsteter Künstler-Hallodri. Vorsichtig fragte ich nach.

«Ute, bist du dir auch ganz sicher?»

«Ja. Aber hör gut zu. Ich hab dir alles, was du beachten musst, auf einen Zettel geschrieben und ihn in deinen Briefkasten geworfen. Sei bitte, bitte pünktlich. Wirklich, Atze, ich meine es todernst. Sei pünktlich! Der Kleine weiß Bescheid und wartet auf dich. Pünktlich!»

Bevor ich losfuhr, holte ich den Zettel aus dem Briefkasten. Da stand aber auch wirklich alles drauf: «Rudolf-Diesel-Waldorfkindergarten im Zeisigweg 4, Maikäfergruppe, Philipp Peymann, keine Cowboystiefel tragen, beim Anorakanziehen nicht fluchen, die Gummistiefel auf den Ständer, Schal und Mütze nicht vergessen, Butterbrottasche ist die mit dem Elefanten drauf, NICHT mit dem Porsche abholen und auf keinen Fall mit den Erzieherinnen diskutieren.»

Ich warf den Zettel weg, stieg in meinen Porsche und donnerte mit viel Zwischengas Richtung Öko-Guantánamo. In meiner grenzenlosen Naivität glaubte ich, die anderen Mütter kämen alle mit dem Rad oder zu Fuß, um ihre Brut einzusammeln, aber – weit gefehlt. Was für ein Theater vor dem Waldorfkindergarten! Anthroposophisch korrekte Mütter in dicken SUVs und aufgemotzten Multivans kämpften erbittert um jeden Zentimeter Stellplatz. Weit und breit kein Parkplatz in Sicht – bis auf das kleine Rasenstück direkt vor dem Eingang. Mit elegant vorgetragener Rockford-Wende platzierte ich meinen Boliden zentimetergenau auf diesem unberührten Stück Muttererde. Ich stieg geschmeidig aus und hatte noch die Tür in der Hand, da stapfte schon das erste bunt gefiederte Ozonloch auf mich zu.

«Na toll, Sie sind ja ein schönes Vorbild für die Kinder!»

«Ganz ruhig, Lady Tofu. Erstens ist das hier der neue VIP-Parkplatz, und zweitens machst du doch mit deinen Birkenstock-Tretern Größe 52 mehr Mutterboden platt als ’ne Planierraupe. Außerdem – was bist du denn für ein Vorbild? Free Willy unrasiert?» Mit offenem Mund versank das Muttertier in schwere Depressionen. An dieser Front hatte ich schon mal für Ruhe gesorgt. Leider war ich zu früh gekommen; wir mussten noch zehn Minuten auf die Kinder warten. Es war die Hölle! Da stand ich völlig unvorbereitet mit 38 gewaltbereiten Terrormüttern am Zaun. Drei Stunden hatten die Kinder offensichtlich friedlich miteinander und in Ruhe gespielt – bis die Zaunmeisen-Mamis kamen und das Gekeife losbrach. Eine rosa Steppjacke eröffnete den vielstimmigen Kanon.


«Finja, nicht so hoch schaukeln. Finja – nicht so hoch! Hast du gehört, Finja? Nicht so ho-hoch!»

Jetzt setzte ein stimmgewaltiges Kopftuch ein:

«Yoldas! Yoldas! Nicht den Mirko mitte Schüppe inne Fresse! Da sind wir Geburtstag!»

Die Steppjacke ging in die nächsthöhere Oktave.

«Finja, steh wieder auf. Kugel dir den Arm selber wieder ein. Du kannst das!»

Auftritt einer klirrenden Barbour-Jacke:

«Alexander, musst du? Alexander, musst du? Alexander, musst du? Alexander, musst du? Alexander, wenn du musst – dann geh! Geeeh-heeee! Natürlich musst du, ich sehe es doch! Alexander! Ja, jetzt is’ auch egal. Lass es liegen. Lass es … du sollst es liegenlassen! Grab es unter! Nicht mit den Hä… mit der Schüppe!»

Gott sei Dank wurde das Tor endlich aufgeschlossen. Ich wollte schnell rein, den Kurzen abklatschen und ab nach Hause – aber von wegen. Wir Eltern mussten uns erst mal an den Händen fassen und gemeinsam ein Lied singen.

«Alle Leut’, alle Leut’ gehn jetzt nach Haus!

Große Leut’, kleine Leut’!

Dünne Leut’, dicke Leut’!

Alle Leut’, alle Leut’ gehn jetzt nach Haus!»


Das Ganze war doch eine Falle aus «Verstehen Sie Spaß?». Gleich würden Kurt und Paola Felix um die Ecke eiern. Falls das Theater hier aber doch seriös gemeint sein sollte, würde ich nachher mal ein ernstes Wort mit Ute reden müssen.

Nach dem unfreiwilligen Gejaller mit den «Fischer-Chören» ging ich natürlich sofort in die Maikäfergruppe und brüllte absichtlich laut: «Philipp, alter Fischstäbchenwemser! Alles akkurat im Spagat? Wo ist mein kleiner Playmo-Fucker?»

Wenn Blicke töten könnten! Ungefilterte Feindseligkeit aus hasserfüllten, verbiesterten Augen schlug mir entgegen.

Welch ein Ansporn! Ich legte ’ne Schüppe nach: «Komm mal her, mein kleiner Puddinglude, ich bind dir mal schnell die Schuhe zu!»

«Schuhe zubinden kann unsere Finja schon ganz alleine!», blökte das rosa Steppschaf schnippisch rüber.

«Aber nicht mit dem ausgekugelten Arm, gnädige Frau.»

Seelenruhig machte ich Philipp den Anorak zu. Die letzte Beißhemmung fiel, und das gesamte Mutterrudel machte sich kläffend und geifernd übereinander her.

«Unser Yoldas kann auch schon Schuhe zubinden. Der kann auch schon bis hundert zählen.»

«Das ist doch noch gar nichts. Unser Mirko kann schon auf Englisch bis hundert zählen und liest schon den ‹Kinder-Spiegel›!»

Die Barbour-Jacke versuchte mal wieder, das letzte Wort zu haben: «Unser Alexander hat sich selber das Lesen und Schreiben beigebracht. Wir glauben, der ist hochbegabt.»

Ich schaute sie treuherzig an und ließ mir jedes Wort genüsslich auf der Zunge zergehen: «Natürlich ist der hochbegabt, sonst hätte der doch nicht so intelligent in die Sandkiste geschissen. So, komm, Philipp, gib Gas! Ich hab den Porsche dabei, hier ist der Schlüssel, du fährst. Ab zu McDonald’s, die haben ein neues Happy Meal!»

Allgemeine Erstarrung. Gefangen im Raum-Zeit-Kontinuum. Die Temperatur sank unter den Gefrierpunkt. Finjas Mutter kriegte als Erstes wieder Druck auf die Okolyten. Mit verzerrtem Gesicht fing sie an zu dozieren: «Herr Schröder, ich weiß ja nicht, in welchem Verhältnis Sie zu der von uns sehr geschätzten Frau Peymann stehen, aber das eine sag ich Ihnen: Wir sind hier ein Kindergarten und keine Spiel-o-thek! Wir versuchen die Kinder gesund zu ernähren und zu besseren Menschen zu erziehen. Im Einklang mit Körper, Geist und Seele. Unter Anwendung anthroposophischer Gesichtspunkte und esoterischer Metaphysik.»

Mit ruhiger Stimme entgegnete ich: «Hör mal, Rapunzel, kämm dein Haar … und setz es auf. Ich habe nicht ein Wort von dem verstanden, was du gesagt hast, aber eins ist sicher: Besonders locker bist du nicht.»

Ihre Stimme wurde noch schriller: «Es geht hier nicht um mich, es geht um die Kinder. Dank Pentatonik und Eurythmie können sie sogar ihren Namen tanzen.»

«Ja, gnädige Frau – und dank RTL und Dieter Bohlen können sie ihn auch bald furzen! Schönen Tag noch, die Damen!»

Zehn Sekunden später saß ich mit Philipp im Porsche. Monsieur thronte rechts neben mir auf seinem Kindersitz und schnallte sich an.

«Super, Atze. Fahren wir wirklich zu McDonald’s?»

«Waaas? Bist du wahnsinnig? Ist doch viel zu ungesund. Ich will doch keinen Ärger mit deiner Mutter. Nix da, kommt nicht in Frage. Wir fahren schön zu Burger King!»

Und dann kam Ute
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