18.
Wann ist ein Mann ein Mann?
Der Radiowecker kannte kein Erbarmen: «Wann ist ein Mann ein Mann?», knödelte mein Freund Herbert aus dem viel zu kleinen 4-Zoll-Lautsprecher meines alten «Grundig» Sleepomatic SL 45. Gute Frage, Herr Grönemeyer. Dass ausgerechnet dieser manchmal leicht moppelige Ruhrpottbarde von Männern singt, ist allein schon der Witz an dieser willkürlichen Zusammenfassung heiterer Feststellungen. Ich finde das Lied klasse, mittlerweile ist es ein Schlagerklassiker. Einer seiner besseren Texte. Hartmut Engler von «Pur» wäre von den Kritikern für dieses Werk gelyncht worden, aber der hat ja auch nicht mit fettigen Haaren im «Boot» mitgeschwitzt. Es gibt halt feine Unterschiede.
Die ganze Bude roch erbärmlich nach Pizza, und die Bettdecke verzierte ein munteres Potpourri aus Olivenöl und Salamifett. Angewidert von meiner nächtlichen Fressattacke, schwang ich mich in meinen sechs Jahre alten «Shamp»-Jogginganzug, der diese Wohnung noch nie verlassen hatte. Schon gar nicht zum Joggen. Doch mit dem ewigen Schlendrian war jetzt Schluss. Ich würde meinen inneren Schweinehund, diesen Bastard, endgültig killen. Das Ziel war klar definiert: Ich würde meinen maroden Körper in eine stahlharte Todesmaschine modellieren und danach im Triumphzug Prinzessin Ute erobern, um sie dann nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Sie würde auf allen vieren durch die Essener Fußgängerzone krabbeln, um der Welt glückselig mitzuteilen, dass ihr der Messias der Wollust im Körper von Adonis Schröder erschienen sei. Ich machte mir eine große Tasse Nescafé mit viel Milch und zwei rohen Eiern. Dann legte ich «Rocky 1» in den DVD-Player, spulte bis zur berühmten Treppenszene vor und rannte im Geiste mit Sly Stallone diese elendig lange Treppe hoch, während ich mich rasierte. Aber wo sollte ich tiefgekühlte Schweinehälften zum Trainieren herkriegen? Wäre es vielleicht besser, für ein halbes Jahr in Philadelphia zu logieren, um die Originaltreppe zu benutzen? Ach, scheißegal. Es gab Dringenderes zu regeln. Ich rief in meiner Agentur an, um mit Töne, meinem verständnisvollen Freund und Manager, zu sprechen: «Töne, pass auf, ich brauche heute noch einen Boxerbademantel aus Satin. Hinten soll in dezenten Neonfarben und gut leserlich ‹The Westfalian Stallion› aufgestickt sein. Außerdem brauch ich einen Fight. Buch mal die Porsche-Arena und fordere Henry Maske heraus, den Gentleman-Boxer … Töne? Töööne! Hallo? Bist du noch dran?»
Der Sack hatte einfach aufgelegt. Hat ja auch ’ne Menge um die Ohren. Was soll’s? Eile mit Weile. Erst mal trainieren.
Augenblicklich spürte ich, wie ein Ruck durch meinen Körper ging. Ich bildete mir ein, dass ich ein wenig aufrechter stand als sonst. Wo, verdammt noch mal, gab es hier in der Ecke ein Fitnesscenter, das meinen Ansprüchen an erstklassige Geräte, absolute Sauberkeit und qualifiziert geschultes Personal entsprach? Ich googelte kurz «bestes Fitnessstudio Essen», und die Sache war klar: Ab ins McProfi-Fit – das Studio für gehobene Ansprüche.
Zehn Minuten später stand ich an der sandsteingekachelten Rezeption dieses Luxusclubs. Sanfte Pastelltöne schufen schon im Empfangsbereich eine wohlige Atmosphäre. «Ah, das ist schön, Herr Schröder, dass Sie mal bei uns vorbeischauen. Der Martin wird sich gleich um Sie kümmern. Nehmen Sie doch noch einen Moment Platz. Darf ich Ihnen einen Fruchtcocktail anbieten, oder hätten Sie Lust auf einen Müslikraftriegel?»
Ich kochte vor Wut. Wo waren die verdammten Schweinehälften? Stattdessen stakste diese huschige Rezeptionistin um mich herum wie ein aufgescheuchter Flamingo. Es roch nicht nach ehrlichem Männerschweiß, sondern wie bei Douglas. Müslikraftriegel! Was denn noch? Nach dem Sport geht ein echter Mann an die Theke und bestellt ein Pils mit Frikadelle und Senf! Ehe ich mich noch weiter aufregen konnte, stand ein schmaler, gutgelaunter Typ vor mir und streckte mir die Hand entgegen: «Hallo, ich bin der Martin. Ich freue mich, dich zu sehen. Ich zeige dir mal unser Studio und entwerfe dann mit dir einen auf dich abgestimmten Trainingsplan.»
Der hatte Nerven! Das konnte ja heiter werden. Aber egal. Ich war bereit, das ganze homoerotische Ambiente zu verdrängen, wenn mich dieser aalglatte Krankengymnast schnell zu den Eisenfressern bringen würde. Aber – von Folterkammer keine Spur. Stattdessen: Aerobicflächen, Zumba-Workout, Spinning-Räder, Cardio-Geräte, Chill and Boost, Slowpumping, Relaxing Zones und der unvermeidliche Spa- und Wellnessbereich.
Mehr kriegte ich von dieser Lutscherbude nicht mit, denn ich saß schon wieder in meinem Porsche. Das war nicht «Rocky», sondern «Sex in the City». Hilfe. Ich rief meinen alten Kumpel Ralf Möller in L.A. an: «Sag mal, Ralle, wo hast du damals immer trainiert, wenn du in Essen warst?»
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: «Bernie’s Muskelschmiede, Bahnhofstraße 8, bestell schöne Grüße.»
Obwohl ich gebürtiger Essener bin, war der Hintereingang von Hausnummer 8 wirklich schwer zu finden. Es ging eine schmuddelige Treppe runter, und von da ab musste man nur noch dem Geruch folgen. Eine rostige Feuertür öffnete den Zugang zum Tempel der unerbittlichen Körperertüchtigung. Ein verbeulter, unrasierter Kopf auf einem behaarten Stiernacken ranzte mich feindselig an: «Wat willst du denn hier, du Penner?» Herrlich! Hier war ich genau richtig. Ich spürte schon, wie meine Muskeln kontrahierten und die alte Körperspannung zurückkehrte. In der Aloe-vera-Turnhalle von McProfi-Fit hatte ich mich gefühlt wie in einem gut beleuchteten Darkroom. Hier dagegen schien ich unter einfachen, aber dafür echten Fitnessjüngern gelandet zu sein.
Ein inbrünstiges Stöhnen drang an mein Ohr. Na bitte. Hier wurde noch richtig Eisen gepumpt. Hier konnte man noch Menschen im Schweiße ihres Angesichts trainieren hören. Begeistert drehte ich mich zu dem Kampfstier um, der nun auf einem Hocker hinter der Theke saß und auf einen flimmernden Bildschirm an der Wand starrte. Auf dem Fernseher spielten sich unglaubliche Szenen ab: Rocco Siffredi, der legendäre italienische Pornostar, dübelte zehn willenlose Hausfrauen in vertrauten Posen durch die Küche. So viel zum Thema «Italian Stallion». Armer Rocky. Ich fragte den behaarten Brocken hinter dem Tresen in bewusst einfachen Worten: «Was kostet das hier?»
Angestrengt dachte er nach. «250 Euro fürs Jahr. Im Voraus. Bar.»
Ich gab ihm 200 und sagte: «Hier. Gib mir 120 wieder, der Rest ist für dich.»
Von da an war ich mir selbst überlassen. Ich betrat den Trainingsraum und stellte mit Genugtuung fest, dass die Welt hier noch in Ordnung war. Es roch wie in einem persischen Pumakäfig. In der Mitte des spärlich beleuchteten Raumes stand ein klappriger Boxring, mit dessen Seilen 1930 bereits die «Andrea Doria» im Hamburger Hafen vertäut gewesen war. In der Ecke baumelte ein bananenförmig geformter Ledersandsack, in den schon legendäre Essener Unterweltgrößen wie Dieter «die Natter» Kuballa, der Rote Hugo und natürlich Sozen-Kalle ihre gute Laune reingeprügelt hatten. Sozen-Kalle war Sozialdemokrat und selbsternannter Gauner der Armen im Ruhrgebiet, daher der Name. Kalle nahm es von den Reichen, aber vergaß am Ende leider immer, den Armen zu geben. Kalle soll mal in seiner Hamburger Zeit Max Schmeling im Streit um einen Parkplatz vorm «Wienerwald» mit einem linken Haken k.o. geschlagen haben. Nicht die schlechteste Referenz für diese ehrliche Kampfstätte.
In einer anderen Ecke stand so etwas wie eine Hantelbank. Drum herum lagen antiquierte und verrostete Gewichte verstreut. Die größten hätte selbst der Arbeitselefant des Maharadschas von Göteborg nicht heben können.
Mehr war nicht. Mehr brauchte es auch nicht. Denn dieser Raum atmete Geschichte. Wie viele unzählige Boxduelle waren hier wohl illegal ausgefightet worden? Mann gegen Mann. Faust auf Faust, hart, ganz hart. Ich sah förmlich, wie beim Wettmeister die Hunderter eingezahlt wurden … der Alkohol in Strömen floss … verruchte Boxluder sich in hohen Hacken und Nylon-Nahtstrümpfen an schweißnasse Kampfkörper schmiegten. Hier zählte nur das Gesetz des stärksten Silberrückens. Endlich war ich angekommen.
Randvoll mit Adrenalin, tänzelte ich leichtfüßig auf den Sandsack zu. Im Prinzip hatte er keine Chance. Als Erstes verpasste ich ihm eine schnelle Links-rechts-Kombination. Dann machte ich ihn mit zwanzig punktgenauen Jabs auf immer die gleiche Stelle mürbe. Ich shuffelte wie eine Mischung aus Muhammad Ali, James Brown und Fred Astaire vor ihm her. Ich sammelte mich, fokussierte meine ganze brachiale Gewalt in die linke Faust. Dann verpasste ich ihm den finalen Knockout mitten in seine ledrige Fresse.
Im Rausch der Siegesemotionen tippte mir plötzlich jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah in die hasserfüllte Fratze vom stiernackigen Kassenwart: «Du hast mich reingelegt mit der Kohle.»
Ich musterte die tumbe Nuss mit Verachtung.
«Oh Mann, du bist ja echt ein Blitzmerker.»
«Was hast du gesagt, du Pinscher?»
Er sprach tatsächlich genauso blöd, wie er aussah.
«Heul doch, du Genie. Was willste denn jetzt machen? Deine Mami anrufen?»
«Ey Alter, ich schaff dich ab, du Penner.» Jetzt guckte der Heiopei blöd und böse. Ich blieb völlig cool. Kälter als eiskalt warnte ich ihn ein letztes Mal.
«Dann versuch’s doch mal, du Lappen.»
Blitzschnell fing ich an zu tänzeln. Flieg wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene. Da war sie, meine ersehnte Schweinehälfte. Ich war wie im Rausch. Dieser arme Tropf wusste doch gar nicht, mit wem er sich hier angelegt hatte! Ich war einfach zu schnell und zu hart für Dumpfbacke, und das würde er gnadenlos zu spüren bekommen. Bang!
Als ich wieder aufwachte, lag ich neben meinem Porsche auf dem Bürgersteig und blickte in das besorgte Gesicht einer älteren Frau: «Geht es Ihnen gut? Soll ich einen Arzt rufen?»
Ich rappelte mich auf: «Nee, nee, alles gut. Ich hab mich nur beim Sport verausgabt.»
Im Auto sortierte ich meine Knochen. Die Brieftasche war leer. Meine afrikanische Rolex hatte wohl den Besitzer gewechselt, die Alpina-Brille war total verbogen, und mein linkes Auge war blau und zugeschwollen. Im Schritttempo rollte ich nach Hause. Mein Gott! Ich war schockiert über so viel Gewalt und Brutalität. Aber was soll man auch von Leuten erwarten, deren einziger Sinn im Leben darin besteht, ihren Körper zu trainieren und Muskel- statt Gehirnmasse aufzubauen! In dem ganzen Laden hatte ich nicht ein einziges Buch gesehen. Das kommt dabei raus, wenn eine Gesellschaft nur noch das Körperliche in den Vordergrund stellt. Klitschko statt Goethe. BMI statt IQ. Laktat statt Diktat. Mens sana in campari soda, ja nee, is’ klar. Aber nicht mit mir.
Mein Gott, mir tat alles weh, als ich versuchte, aus diesem entsetzlich tiefen Sportwagen zu steigen. Mühsam schloss ich die schwere Haustür auf und schleppte mich ins schützende Dunkel des alten Treppenhauses. Plötzlich ging Utes Tür auf, das Licht ging an, und ich schaute in das entsetzte Gesicht meiner lieben Freundin: «Um Himmels willen, Atze! Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?»
Ich stöhnte: «Es waren vier oder fünf. Genau weiß ich es nicht mehr. Ich wollte nur joggen gehen, da hab ich gesehen, wie so ein paar Grobiane ein kleines Kätzchen im Bach ersäufen wollten. Erst dachte ich mir: Komm, lauf weiter, das geht dich nichts an. Du willst ja nur joggen. Aber du kennst mich. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn Tiere gequält werden. Da geht was kaputt in mir. Da hab ich mir die Brüder gepackt, und ich kann dir versichern: Die Schweine quälen keine Kätzchen mehr. Was von denen noch übrig ist, picken gerade die Vögel auf.»
Außer sich vor Sorge rief sie: «Du blutest ja. Du Armer! Du kommst jetzt sofort zu mir ins Wohnzimmer, damit ich in Ruhe deine Wunden versorgen kann.»
«Ute, bitte nicht. Ich will nicht, dass der Junge mich so sieht. Es ist doch nur ein Kratzer.»
«Mach dir keine Gedanken, der ist gar nicht da. Es ist Freitag, da schläft der doch immer bei meiner Mutter.»
Resolut packte sie mich am Arm und verfrachtete mich auf ihr Sofa.
«Ach Atze, ich hatte schon den ganzen Nachmittag so ein ungutes Gefühl, weil ich dich nicht erreicht habe und dein Auto nicht vor der Tür stand. Jetzt verarzte ich dich erst mal, und dann mache ich uns was Schönes zu essen. Keine Widerrede mehr.»
Sie ging ins Badezimmer und holte Jod, Tücher und Eis, um mein geschwollenes Auge zu kühlen. Vorsichtig, ja beinahe zärtlich tupfte sie mein malades Auge ab. Ich beschloss, eine Schüppe draufzulegen, und stöhnte noch intensiver. Nicht ohne Erfolg.