2.
Der Einzug
Es war ein goldener Oktobertag. Die morgendliche Herbstsonne strahlte mild und honigsüß durch die schon prachtvoll verfärbten Blätter der altehrwürdigen Kastanie vor unserem Haus. Der Herbst zeigte sich von seiner allerbesten Seite, ein letztes «Au revoir» des verrückten Sommers 2007. Ich schlenderte vom Kiosk nach Hause, eine große Tüte Brötchen und die neue Metal Hammer unterm Arm. Ich freute mich auf ein leckeres Frühstück mit Leberwurst und einer ordentlichen Portion dänischen Gurkensalats. Das alte Kopfsteinpflaster in unserer Straße schimmerte speckig, die Kastanienblätter leuchteten bunt, und ab und zu grüßte ich einen Rentner im Vorgarten.
«Morgen, Atze! Wat macht die Kunst? Alles palante?», rief der alte Kowalski. Ich nickte ihm zu und rief: «Willi, du alter Maulwurf, wat gräbste denn da unter … doch nicht deine Gerda?» Der Alte lachte und drohte mir spielerisch mit der Faust. Herrlich. Ich atmete tief durch und genoss die frische, klare Morgenluft.
Ich nahm mir vor, ein paar Tage die Beine hochzulegen. Und zwar die von Vanessa, Jackie oder dieser kleinen Wildkatze Mandy, die sich in meiner Garderobe nach dem letzten Open-Air-Auftritt im Hamburger Stadtpark so geschickt beim Öffnen meiner Jeans angestellt hatte. Ich fingerte das Handy aus der Hosentasche und wählte ihre Nummer. Nach langem Klingeln nahm sie endlich ab. Ich legte sofort los: «Hallo, meine kleine Moosrose, du Blüte meiner …» Weiter kam ich nicht. Eine abgrundtiefe Stimme bellte: «Ich mach dich kalt, du miese Ratte … Mandy, ist das der Typ?» Geschockt legte ich auf. Mein Gott, immer diese kleinkarierte Eifersucht! Warum schickt denn wohl die Pusteblume so viele Pollenfallschirme in die Natur? Natürlich um möglichst viele Löwenzahnfreundinnen zu beglücken. Na also. Tief betrübt über so viel Unverständnis tippte ich eine SMS an Vanessa. Aber außer «Ich liebe nur dich» fiel mir nichts ein, weil der Lärm in unserer Straße jeden klaren Gedanken verhinderte.
Was war denn da los? Vor unserem Haus stand mitten auf der Straße ein verbeulter Europcar-Sprinter, aus dem unter viel Getöse und Gestöhne Möbel und Umzugskisten gehievt wurden. Fasziniert blieb ich stehen und schaute zu. Das war vielleicht eine schräge Truppe! Vollbärtige Latzhosenträger und kaum besser rasierte Frauen in topmodischen Jutta-Ditfurth-Gedächtnisblusen mühten sich redlich, schwere Massivholzschränke in Helgas Marlborohöhle zu schleppen. Völlig konzeptlos, ohne Sinn und Verstand. Was für ein erbärmliches Spektakel!
Aber auch ein Bild für die Götter, denn der ganze Umzug wirkte wie die misslungene Hausbesetzung durch den Männerstrickclub «Rastafari Freies Wendland». Überall bemühte Sozialpädagogen, die schon mit dem Transport einer Yuccapalme von A nach B völlig überfordert waren. Ein Haufen linkshändiger Bananenbieger, die die Praxis nur aus der Theorie kannten. Für ein bisschen Stimmung in dieser müden Truppe sorgte Flöcki, Hajos und Katis hinterfotziger Terror-Jack-Russell. Kaum hatte die miese Töle einen der möbelschleppenden Basisdemokraten erblickt, stürzte sie sich mit wütendem Gekläffe auf ihr Opfer und verbiss sich in rasender Wut in dessen ausgelatschte Mephisto-Treter.
Zum Glück konnte ich Schlimmeres verhindern, denn als Flöcki mich auf das Haus zukommen sah, verzog er sich mit eingekniffenem Schwanz unter die kleine Vorgartenbank. Ich legte die Brötchentüte auf die Bank, setzte mich und schlug die Metal Hammer auf. Ich tat so, als läse ich Marilyn Mansons Schminktipps, und lünkerte dabei über den Heftrand, um mir auch ja kein Detail dieser Komödie entgehen zu lassen.
Eine gute Entscheidung, denn jetzt trat eine resolute, leicht schmerbäuchige Mittdreißigerin auf. Sie war zirka 1,72 Meter groß und hatte lange braun-blonde Haare, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihr Gesicht sah eigentlich ganz hübsch aus. Die Nase genau richtig – nicht zu groß, nicht zu spitz, nicht zu klein –, ein schöner Mund mit vollen, geschwungenen Lippen. Ihren Humor jedoch hatte sie offensichtlich in einer der zahlreichen nummerierten und derangierten Umzugskisten gelassen.
Der schnarrende Kasernenhofton und die leicht stalinistische Körpersprache ließen keinen Zweifel daran, wer in diesem Rudel Ökogurken der Chef an der Schüppe war. Als Madame mich eifrig lesend auf meinem Logenplatz erblickte, blaffte sie mich an: «Ist das Ihr Porsche da vorne? Der muss da weg!» Ich ließ die Zeitung sinken und schenkte ihr mein strahlendstes Lächeln. Meine Stimme tönte süß und charmant wie süffiger Portwein: «Auch ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Frau Honecker. Sie haben völlig recht, die Mauer muss weg! Und weil Sie mich so nett bitten, kann ich Ihnen diese Gefälligkeit natürlich nicht verwehren.»
Frau Honeckers Gesichtszüge entspannten sich, und ein Ausdruck von Verlegenheit schlich sich in ihren Blick.
«Oh, Entschuldigung, das war wohl etwas daneben. Das ist mir jetzt aber unangenehm. Ich sollte mich vielleicht erst mal vorstellen: Mein Name ist Ute Peymann. Ich bin die neue Mieterin. Verzeihen Sie bitte, aber ein Umzug in meinem Zustand, mit dem dicken Bauch, geht leider etwas an die Substanz.»
«Schon vergessen, Fräulein Ute! Das Problem kennen wir doch alle. Auch ich hab schon wieder vier Kilo zu viel auf der Hüfte. Schmeckt halt alles so gut. Kleiner Tipp: Einfach mal abends die Tafel Schokolade weglassen und stattdessen ’ne schöne Tüte Chips aufmachen!»
Sie grinste breit und konterte: «Ach, sind Sie auch schwanger?»
Ich blickte ihr direkt in die Augen und dachte krampfhaft über eine originelle Antwort nach. Sie wich meinem Blick nicht aus.
Zum Glück brachen wir dann aber beide in Lachen aus. Ich fuhr den Porsche weg, packte mal eben mit an, und trotz meiner wortgewaltigen Mithilfe war Utes Echtholzgerümpel bald an Ort und Stelle.
Als endlich die letzten Freunde gegangen waren, ließ sich das hochschwangere Muttertier in einen Sessel fallen und japste erschöpft in meine Richtung: «Sag mal, Herr neuer Nachbar, gibt’s hier irgendwo ’ne kleine Pizzeria für den großen Hunger?»
«Hömma, Prinzessin Doppelherz, wenn du versprichst, mich ab jetzt nur noch liebevoll Atze zu nennen, mach ich dir ’ne Pfanne von meinen legendären Bratkartoffeln. Handgeklöppelt, buttergebräunt und formvollendet in Landestracht serviert!»
Tatsächlich kam sie nach einer halben Stunde zu mir hoch. Erschöpft saß sie mit einem Malzbier am Küchentisch, sah mir beim Bratkartoffelnschmurgeln zu und fragte mich neugierig über den Rest unserer Hausgemeinschaft aus. Ich erzählte ihr das Notwendigste über ihre neuen Mitbewohner und versuchte meinerseits, ein bisschen mehr über sie zu erfahren.
Ute war Lehrerin und hatte hier in Essen an der Ilja-Rogoff-Waldorfschule einen Job angenommen. Ich hatte bis dato überhaupt nicht gewusst, dass es in Essen überhaupt eine Waldorfschule gibt – geschweige denn, was der Unterschied zu einer normalen Schule ist. Aber das wollte ich mir auf keinen Fall anmerken lassen, schon gar nicht während meiner schwierigen Brataktion.
«Und, was machst du so von Beruf?», fragte sie.
Ich war begeistert. Endlich mal jemand, der offensichtlich den Fernseher nicht benutzte! Mühsam versuchte ich ihr zu erklären, wer ich bin und was ich mache. Sie konnte es kaum glauben. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und hakte nach:
«Du trittst im Fernsehen auf? So richtig bei einer Sendung? Oder mehr so in Serien? Entschuldige, aber ich interessiere mich nicht fürs Fernsehen, und mit Comedy hatte ich bis jetzt auch nichts zu tun. Ja, kann sein, dass ich schon mal was von Atze Schröder gehört habe, aber …»
«Lass gut sein, Ute. Ist doch auch keksegal. Der eine interessiert sich für Autos, der andere für Kunst – und dann gibt es Gott sei Dank auch ein paar Menschen, die sich für meinen Beruf interessieren. Sonst könnte ich dir keine Bratkartoffeln servieren. Es gibt dänischen Gurkensalat dazu. Für mich ’n Pils, und für dich habe ich noch ein Malzbier, wenn du magst. Ich decke mal eben den Tisch, und dann gibt es ordentlich was auf die Gabel!»
Wir schmatzten und futterten, was die Pfanne hergab, und plauderten und lachten launig über Gott und die Welt. Nach zwei Stunden stellten wir beide fest, dass man unterschiedlicher als wir beide gar nicht sein konnte. Zum Nachtisch holte ich noch zwei dicke Magnum Mandel vom Kiosk, und danach hing der abgefütterte Babybunker satt und glücklich in meinem geliebten Fatboy-Deluxe-Sessel. Und als ich noch dachte: «Die krieg ich da nie wieder raus!», sagte Ute leicht verzweifelt: «Ich komme hier nie wieder raus!»
Ich lachte und half dem weichgewordenen Castorbehälter im Trainingsanzug mit ordentlich Schwung und Muskelschmalz wieder in die Senkrechte. Ich versprach ihr hoch und heilig, morgen alle Lampen und Bilder in ihrer Wohnung anzubringen.
Hätte ich geahnt, was ich mit meiner neuen Nachbarin und ihrem noch ungeborenen Kind erleben würde, hätte ich ihr wahrscheinlich auch nie aus dem Styroportrümmer rausgeholfen. Oder gerade.