VIERUNDVIERZIG
Señor Santos hat seinen Sohn Nico noch nie mit Krawatte gesehen. Bevor sie die Wohnung verlassen, um zusammen zur Abschlussfeier zu gehen, vergewissert er sich, dass er die Schachtel Zigaretten eingesteckt hat und das metallene Feuerzeug, das schon so viel mitgemacht hat und das er jeden Samstag bei einem Schlüsseldienst und Tabakladen am Paseo Ahumada nachfüllen lässt.
Ungläubig befühlt er den Knoten der grünen Krawatte mit den blauen Punkten, die Nico sich von seinem Freund Che geliehen hat.
Die Feier findet erst am Nachmittag statt, dennoch machen Vater und Sohn alles wie jeden Morgen. Sie gehen aus der Wohnung, und sobald sie aus dem Aufzug gestiegen sind, steckt sich der Philosophielehrer seine Zigarette an, nimmt Nico am Arm und raucht den kurzen Weg bis vors Schultor des Instituto Nacional.
Ihren täglichen Weg gehen sie an diesem besonderen Tag noch einmal freudig und bewusst: Nico Santos hat das Gymnasium mit einem mehr als annehmbaren Notendurchschnitt abgeschlossen.
Er hat die Wirren der Diktatur überlebt, er hat brav den Mund gehalten, sich an die Anweisungen seines Vaters gehalten. Nur einmal hat er die Stimme erhoben. Doch auch in diesem Fall war er so klug gewesen, es auf Englisch zu tun: »To be or not to be.« Señor Santos dankt seiner verstorbenen Ehefrau, dass ihr Sohn besonnen geblieben ist. Alles andere hätte er nicht überlebt.
Mit einer ausladenden Armbewegung, die Nico an die Theatralik von Señor Paredes erinnert, wirft er die Zigarettenkippe auf den Gehweg und beugt sich zu ihm mit den Worten, Seine Durchlaucht möge die Reste mit seiner Schuhsohle zu Pulver zerreiben.
Nico Santos gehorcht ihm gern. Diese unsinnige kleine Zeremonie erfüllt ihn mit kindlicher Freude. Und wieder wird ihm klar: »Nein« hat gewonnen.
Sein Vater lebt. Wenn er eines Tages stirbt, dann an dem verfluchten schwarzen Tabak und nicht in einem klammen Verlies.
Außerdem hat er seinen Urknall erlebt. Und seine Liebe zu Patricia Bettini ist fortan der einzige Sinn des Universums.
Sie ist zur Abschlussfeier heute eingeladen. Bettini hat nach dem triumphalen Erfolg seiner Wahlkampagne bereits Kunden gewonnen. Die Vertretung einer französischen Automarke hat ihn unter Vertrag genommen. Sogar Le Monde hat sich vor seinem Genie verbeugt. Er hat seiner Tochter ein Kleid von Armani aus feinstem Seidengeorgette gekauft, mit geschlitztem Rock und verziert mit kleinen Glasperlen.
So viel Geld hat er nicht, aber für solche Fälle hat der gewitzte Pinochet die Kreditkarte eingeführt: die einzige Methode, das Unerschwingliche doch zu bekommen. Nach uns die Sintflut.
Allerdings hat Adrián seiner Tochter eine Bedingung gestellt, der sich das Mädchen voller Bescheidenheit fügte: Wenn in drei Tagen ihre Abschlussfeier in der Scuola Italiana stattfinden würde, müsse sie dasselbe Kleid tragen. Dass sie ihm ja keine Filmschauspielerinnenallüren entwickle und alle zwei Stunden ihre Luxuskleider wechseln wolle.
Neben der Tür zur Schulaula hängt ein Kranz aus weißen Rosen, Blattgrün und ein paar roten Nelken. Darüber ist mit Klebefilm eine schwarze Pappe befestigt, darauf in Gelb der Satz: »Wir werden unsere Märtyrer nie vergessen.«
Fünf Namen stehen darunter: die zweier Schüler und dreier Lehrer. Einer von ihnen ist Rafael Paredes.
Die zu der Veranstaltung strömenden Leute übersehen das Plakat geflissentlich. Seit dem Sieg von »Nein« hat Leutnant Bruna es für besser gehalten, sich nicht mehr in der Schule blicken zu lassen. Er hat Soldaten in einem Jeep geschickt, die seine Sachen geholt haben.
Der Schulchor stimmt die Hymne an. Die meisten Schüler und Erwachsenen stehen zum Singen auf: »Schallen soll, ihr Schüler, die Hymne des Instituts, das Lied der größten Schule im ganzen Land.«
Nico Santos ist einer von fünfundfünfzig Schülern, die die Schule verlassen. Der Rektor wird jedem Einzelnen sein Zeugnis überreichen, das Publikum wird fünfundfünfzig Mal applaudieren, und der Rektor wird sich mit jedem der fünfundfünfzig Schüler ablichten lassen. Die Fotografen werden anschließend die Abzüge an die Familien verkaufen.
In ihren Anzügen und Krawatten sehen die Jungen ungewohnt aus. Nur ihre Haare sind nicht ganz so korrekt. Viele fassen sich an den Hals, einige haben den Krawattenknoten schon gelockert. Über Nico Santos und Che in der zweiten Reihe könnte man meinen, sie würden ein Fußballspiel kommentieren.
Señor Santos und seine besonderen Gäste, Adrián, Magdalena und Patricia Bettini, haben sich in die dritte Reihe gesetzt. Am Rand hängt ein Schild, auf dem steht: »Lehrkörper«.
Señor Santos ist ein Lehrkörper.
Señor Paredes war ein Lehrkörper.
In der zweiten Reihe ist ein Platz frei geblieben, auf der Lehne steht: »Señora María, Witwe Paredes«.
»Der Schule hat das glückliche Los, erstes Licht der Nation zu sein«, singt Señor Santos und lässt dabei Nico nicht aus dem Blick, der sich mit dem Handrücken den Schweiß abwischt. Auf dieser Bühne ist er vor wenigen Wochen, noch Jungfrau, in der Höhle von Salamanca aufgetreten.
Bettini kennt den Text der Hymne nicht. Außerdem wird er abgelenkt von diesem Mann, der an den Sitzenden vorbei auf ihn zusteuert und ihm signalisiert, er möge ein Stück rutschen, damit er neben ihm Platz nehmen kann. Er lässt sich mit einem zufriedenen Seufzer nieder und reicht Bettini die Hand, ohne ihn anzusehen.
Es ist niemand anderes als Minister Fernández.
»Wie geht’s, Bettini?«, fragt er und zupft seine Hosenbeine zurecht.
»Herr Minister, was machen Sie hier?«
Der Mann zeigt auf einen dunkelhäutigen Jungen mit markanten Wangenknochen, der ihm vom Podium zuwinkt.
Fernández winkt liebevoll und dezent zurück.
»Mein Enkel, Luis Federico Fernández, hat seinen Abschluss gemacht. Unser Hoffnungsträger. Er will Ingenieur werden. Und Sie? Was machen Sie hier?«
Bettini weiß nicht, was er antworten soll. Er stammelt: »Mein Schwiegersohn, also …«
»Schon verstanden, der Freund Ihrer Tochter … Nicolás Santos.«
»Nico Santos. Woher wissen Sie seinen Namen?«
»Erinnern Sie sich nicht, Bettini? Der Philosophielehrer: Rodrigo Santos. Ist alles gutgegangen?«
»Zum Glück, Herr Minister.«
»Exminister, vergessen Sie das nicht! Und sonst?«
»Alles bestens. Ich bin am Leben. Das habe ich vermutlich Ihnen zu verdanken.«
»Aber, aber! Immer müssen Sie übertreiben!«
»Ich habe Ihre Leute zum Teufel gejagt.«
»Mutig von Ihnen!«
»Nicht allzu sehr, Dr. Fernández. Die Bauarbeiter vor meinem Haus haben uns gesehen.«
»Dennoch.«
Als die Hymne zu Ende ist, applaudieren beide. Jetzt tritt der Rektor ans Pult, um seine Begrüßungsrede zu halten.
»Und bei Ihnen, Herr Minister?«
»Wir bekommen die Demokratie. Mir schwebt ein Posten vor, bei dem ich meinen Sinn für die Gemeinschaft einbringen kann.«
»Senator?«
»Zum Beispiel. Ich bin sehr gut im Voranbringen von Projekten, Gesetzen und so weiter. Welcher dieser Jungen dort oben ist Ihr Schwiegersohn?«
»Der junge Herr dort links mit der grün-blauen Krawatte.«
»Ja, ich sehe ihn. Was will er studieren?«
»Wenn es zum Schauspieler nicht reicht, will er schreiben. Und Ihr Enkel?«
»Ingenieurswesen. Genau wie sein Vater. Wissen Sie, dass mein Sohn Basti bei der Abstimmung mit ›Nein‹ gestimmt hat?«
»Ihr eigener Sohn?«
Dr. Fernández trommelt sich vergnügt mit den Fäusten auf die Knie.
»Mein eigener Sohn. Die Demokratie ist etwas Wunderbares, finden Sie nicht?«
»Obwohl sie ›eine Überbewertung der Statistik‹ ist?«
»Trotzdem. Sie ist etwas so Reizendes. Sehen Sie doch nur: Hier sitzen wir beide, strahlend vor Glück, und applaudieren gemeinsam der Zukunft unseres Landes. Ich meinem fein gemachten Enkel und Sie dem jungen Santos. Und übrigens, ich kann es kaum glauben, dass uns ein so dämlicher Walzer besiegt hat.«
»Ein dämlicher Walzer, Herr Minister?«
»Ein unsäglich dämlicher Walzer, Bettini! Das muss man doch sagen dürfen!«
»Kennen Sie die französische Zeitschrift Actuel, Dr. Fernández?«
»Ich? Je ne parle pas français.«
»In der letzten Ausgabe sind alle Lieder aufgelistet, die in den letzten fünfzig Jahren den Lauf der Geschichte verändert haben.«
»Sagen Sie bloß, Ihr dämlicher Nein-Walzer ist auch dabei!«
»So ist es, er ist das Lied des Jahres 1988, Herr Minister.«
»Und wer stand in früheren Jahren auf Platz eins?«
»Jim Morrison, The Beatles, The Rolling Stones.«
»Und was komponieren Sie als Nächstes?«
»Die Zeit der Lieder ist vorbei, Herr Minister. Der nächste Schritt wird sein, mit Olwyn die Wahlen zu gewinnen und Pinochet ins Gefängnis zu stecken.«
Fernández lacht so laut auf, dass die Leute um ihn herum aufmerken und selbst der Rektor ihm einen rügenden Blick zuwirft.
»Oh. Ich mache mich wohl unbeliebt. Pinochet ins Gefängnis stecken?», flüstert er. »Das wird Ihnen nicht gelingen, Bettini.«
»Und ob, Dr. Fernández.«
»Nein, nein und noch mal nein. ›Nein sagen kommt gut …‹«
»Ja, ja und noch mal ja. Wir werden das durchziehen.«
»Nein, nein, nein. Unserem General wird niemand auch nur ein Haar krümmen.«
Nico Santos ist an der Reihe, sein Reifezeugnis in Empfang zu nehmen. Patricia Bettini steht auf und applaudiert, sodass die Leute um sie herum Gelegenheit bekommen, ihr Armani-Kleid zu bewundern. Adrián Bettini steht ebenfalls auf und ruft »bravo!«, und Señor Santos kratzt sich am Kopf, zwischen den Lippen eine unangezündete Zigarette.
Der Exminister steht auch auf und applaudiert Nico.
»Wir holen uns die Macht zurück«, flüstert er dem neben ihm stehenden Bettini ins Ohr. »Diesmal eben langsam, Schritt für Schritt, Stimme für Stimme.«
»Das sind die kuriosen Seiten der Demokratie. Was wir mit Blut, Schweiß und Tränen erkämpft haben, bekommen Sie einfach in den Schoß gelegt. Eines Tages wird die Überbewertung der Statistik Ihnen in die Hände spielen. Das sind die Regeln des Spiels. Glückwunsch, Herr Minister. Einzige Bedingung, Sie bringen nicht weiter Leute um.«
»Das gehört der Vergangenheit an. Das ist nicht mehr nötig. Erinnern Sie sich, als das Volk die starke Hand der Armee gefordert hat? Als es lautstark nach Pinochet gerufen hat?«
»Waren Sie auch auf diesem Gymnasium, Dr. Fernández?«
»Ich bin stolz darauf. Ich gehöre dem Vorstand der Alumni an.«
»Wen hatten Sie als Spanischlehrer?«
»Don Clemente Canales Toro.«
»Dann haben Sie bei ihm sicher Arcipreste de Hita gelesen.«
»Kommt mir bekannt vor.«
»Ein Autor aus dem Mittelalter. Erinnern Sie sich nicht? Don Canales hat dessen Libro de buen amor in modernes Spanisch übertragen.«
»Ja, richtig. Sehr unterhaltsam. ›Das Lob der kleinen Frau‹, nicht wahr?«
»Bravo. Und erinnern Sie sich zufällig auch an die Fabel der Frösche, die unzufrieden sind und Jupiter auffordern, ihnen einen neuen König zu schicken?«
»Bedaure.«
»Jupiter schickt ihnen als König einen Storch, der die Frösche einen nach dem anderen mit seinem Schnabel aufpickt und verspeist.«
»Hm. Und wie endet die Geschichte?«
»Folgendermaßen, die Frösche, die überlebt haben, gehen erneut zu Jupiter und beschweren sich: ›Der König, den du uns geschickt hast, macht uns die Tage und Nächte zur Pein.‹ Wollen Sie die Moral der Fabel wissen?«
Dr. Fernández zupft sich irgendwelche Fussel vom Revers.
»Nicht nötig, Bettini. Sie haben es selbst gesagt, die Demokratie ist eine Überbewertung der Statistik.«
»Sie haben das gesagt.«
»Na schön. Das Leben ist ein Glücksspiel: Jeder ist mal der Gewinner. Jetzt sind Sie an der Reihe. Und wenn Sie an die Regierung kommen, sorgen Sie doch bitte dafür, dass diese unfreundliche Stigmatisierung der Mitbürger, die für ›Ja‹ gestimmt haben, ein Ende hat. Sie wollen modern sein, also zeigen Sie das auch.«
»Sie können mich mal. Zwischen ›Ja‹ und ›Nein‹ wird wird es keine Versöhnung geben, das ist eine Frage von Leben oder Tod. Die einen lassen die Andersdenkenden leben, die anderen bringen sie um. Ich werde nie vergessen, was geschehen ist.«
»Sehen Sie: Und ich habe es schon vergessen.«
»Sie sind eben sehr modern, Herr Exminister.«
Dr. Fernández fängt an zu klatschen. Die hübschen Assistentinnen rufen seinen Enkel auf, sein Zeugnis entgegenzunehmen.
Bettini wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab, dann schließt er sich dem Exminister an.
»Die Fabel der Frösche, Bettini.«
»Die Fabel der Frösche«, wiederholt Adrián Bettini und klatscht von Herzen Beifall.