NEUNUNDZWANZIG

Ich reiße das Kalenderblatt ab. Im neuen Monat folgt ein Feiertag auf den nächsten. Der Nationalfeiertag, der Tag des Putschs, der Tag der Armee. Im Radio kommt die Meldung, im Monat der Nation werde es für die Inhaftierten eine Amnestie geben. Vielleicht lassen sie meinen Vater frei.

Das Plebiszit rückt näher.

Patricias Vater zieht alle drei Tage in ein neues Büro um. So versucht er zu verhindern, dass die Räume nach den Bändern mit der Anti-Pinochet-Kampagne durchsucht werden. Er will die Bilder vor den Werbeleuten der »Ja«-Kampagne geheimhalten, damit sie nicht darauf reagieren können.

Wir sitzen im Kunstunterricht. Die Lehrerin hat uns kürzlich van Goghs gelbe Sonnenblumen erklärt. Sie sagt, Farben rufen Gefühle hervor, Gemütszustände. Blau ist am traurigsten. Eine kalte Farbe, genau wie grün. Die anderen sind warme Farben. Wir sitzen still vor unseren Wasserfarbenbildern und versuchen etwas zu malen, das ein Gefühl weckt. Auf die Rückseite sollen wir schreiben, was wir mit unserem Bild ausdrücken möchten. Ich schiele auf Ches Bild. Er malt einen Gebirgszug, aber anstelle von Schnee hat er auf die Gipfel Engel gesetzt, die ihre Flügel ausschütteln. Keine Ahnung, was er damit sagen will.

Ich brauche nicht lange nachzudenken. Auf die Rückseite schreibe ich »Lebensfreude«, und vorne drauf male ich einen Regenbogen.

Schulinspektor Pavez kommt herein. Wir haben die Anweisung, bei jedem Besuch aufzustehen. Aber der Inspektor zeigt uns mit den Händen an, dass wir uns wieder setzen sollen. Etwas an der Art, wie er in meine Richtung guckt, sagt mir, dass ich mich nicht setzen soll. Und so ist es, er ruft mich mit rauer Stimme auf.

»Santos!«

Ich weiß, was alle meine Klassenkameraden jetzt denken. Ich weiß, dass sie sich an den Tag erinnern, an dem sie meinen Vater mitgenommen haben. Und ich weiß, dass sie wissen, dass sie jetzt auch mich mitnehmen werden. Papa hatte recht. Ich hätte mich nicht in Schwierigkeiten bringen dürfen. Es war dumm von mir, dass ich vor Leutnant Bruna meine kleine Rede gehalten habe. Der Inspektor blickt ernst. Sehr ernst. Ich fürchte, dass sie meinen Vater gefunden haben. Ich fürchte, dass sie ihn tot gefunden haben und der Rektor mir das gleich sagen wird und dass Pavez’ Gesicht deshalb so verkrampft ist.

Die anderen Jungen haben sich wieder hingesetzt, alle bis auf Che.

»Ich komme mit dir«, sagt er zu mir.

Er legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich. Mir schnürt es die Kehle zu. Ich sehe unsere Wasserfarbenbilder auf dem Tisch und überlege kurz, ob ich noch schnell meine Sachen in den Ranzen packen soll, bevor sie mich mitnehmen. Alles geht quälend langsam: Ich will nicht gehen, und auch Inspektor Pavez will offenbar den Moment hinauszögern.

»Worum geht es, Inspektor?«, fragt die Kunstlehrerin gutmütig.

Der Mann gibt keine Antwort, stattdessen treibt er mich an, mich zu beeilen. Ich beschließe, alles stehen und liegen zu lassen.

»Warum hast du statt Schnee Engel gemalt, Che?«, frage ich ihn und löse mich aus seiner Umarmung.

»Wir brauchen Verrückte.«

Er blättert in seinem Skizzenheft, auf fast allen Seiten ist ein Engel. Manche fliegen, manche lümmeln oder sitzen am Rinnstein oder haben ein Huhn in der Hand.

Die Tage des Regenbogens
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