VIER
Señor Bettini grub aus irgendeiner Schublade einen Schlips und knotete ihn sich freudlos vor dem Spiegel. Dann bestellte er für seine Tochter Patricia ein Taxi für den Weg zur Schule und bat seine Frau, ihn zum Regierungspalast zu begleiten. Dort angekommen, gab er ihr einen Kuss und übergab ihr die Autoschlüssel, »für alle Fälle«.
Es war fünf Minuten vor zehn, als Adrián Bettini die Operationszentrale der Diktatur betrat.
Die freundlichen Empfangsdamen trugen fuchsiafarbene Kostüme, sprachen mit sanften Stimmen und rochen gut.
Sie führten ihn von einem Büro zum nächsten, von einem Aufzug zum nächsten, von einem Angestellten zum nächsten, bis sie ihn in ein Büro mit weichen Ledersesseln und verschwiegenen Teppichen eintreten hießen.
Hinter dem Schreibtisch (»hinter dem Schreibtisch« sagte Bettini zu sich, als würde er irgendwem die Situation schildern, wozu es womöglich niemals kommen würde) saß der Innenminister persönlich.
Er bekam fast einen Herzschlag. Doktor Fernández galt als der härteste Mann des Regimes. Nur übertroffen von General Pinochet. Zum Glück musste er jetzt nichts sagen, denn ihm würde garantiert die Stimme versagen.
Der Innenminister lächelte.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Don Adrián. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass die Regierung in zwei Monaten ein Plebiszit durchführen wird. Warum lächeln Sie?«
Bettini versuchte, die Stellung seiner Lippen zu korrigieren. Dann erwiderte er, die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt: »Ein Plebiszit wie 1980, Herr Minister?«
»Das Plebiszit damals wurde nicht gefälscht. Pinochet gewann mit siebzig Prozent der Stimmen. Aber ich kann gut verstehen, dass Sie als Linker angesichts dieser eindeutigen Zahlen auf demagogische Gemeinplätze verfallen und uns Wahlbetrug vorwerfen.«
Bettini wischte sich übers Revers. Während des Schlagabtauschs mit dem Innenminister merkte er, wie er ganz unvermutet an Selbstsicherheit gewann. Sollten sie ihn irgendwann töten oder foltern, würde es keine Rolle spielen, was er gesagt hatte. Plötzlich galt die Würde alles, und er sprach ohne Rücksicht auf Leib und Leben.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen diesen Eindruck vermittelt habe, Herr Minister. Aber die Leute haben keine gute Meinung von einem Plebiszit, bei dem keine Parteien mit ihren dazugehörigen Kandidaten auf den Wahllisten zugelassen werden, bei dem die Stimmen ausschließlich von Angestellten der Regierung ausgezählt werden, bei dem es weder Wahlbeobachter gibt noch eine regierungsunabhängige Presse, die einem Gegenkandidaten ein Forum bieten könnte. Aber abgesehen von diesen vernachlässigenswürdigen Kleinigkeiten dürften das Plebiszit und Pinochets Sieg sauber gewesen sein.«
Der Minister wippte auf seinem Schreibtischstuhl, und die makellosen Zähne in seinem lächelnden Mund ließen ihn jünger aussehen.
»Dieses Mal wird alles nach Wunsch verlaufen. An dem Plebiszit am 5. Oktober soll nichts auszusetzen sein. Es werden Oppositionelle in den Wahllokalen zugelassen werden, für die Stimmenauszählung werden wir unsere politischen Feinde in den Rechenzentren einsetzen, wir werden keinen ausländischen Beobachter zurückweisen, und der Ausnahmezustand wird ab morgen im ganzen Land aufgehoben sein.«
»Bestens! Und was soll gewählt werden?«
»›Ja‹ oder ›Nein‹.«
»›Ja‹ oder ›Nein‹?«
»Sie stimmen mit ›Ja‹, wenn Sie möchten, dass Pinochet weitere acht Jahre im Amt bleibt. Sie stimmen mit ›Nein‹, wenn Sie möchten, dass Pinochet abtritt und in einem Jahr Präsidentschaftswahlen mit verschiedenen Kandidaten abgehalten werden.«
»Wahlen!«
»Das ist noch nicht alles. Da wir Pinochet vor der ganzen Welt demokratisch legitimieren wollen, werden wir der Opposition an einem Tag in unserem Fernsehen Gelegenheit geben, Werbung zu machen für ihr Nein zu Pinochet.«
»Im Fernsehen!«
Der Minister stellte ihm ein Glas mit prickelndem Mineralwasser hin.
»Champagner kann ich Ihnen leider nicht bieten. Aber ein Glas Wasser tut es vielleicht auch.«
Bettini hatte einen so trockenen Mund, dass er sich mit dem Wasser unauffällig den Mund spülte.
»Gut, Herr Minister. Ich beglückwünsche Sie zu diesen demokratischen Anwandlungen. Dürfte ich jetzt erfahren, warum Sie mich herbestellt haben?«
Der Staatsmann erhob sich mit seltsam feierlichem Gebaren und strich über die Troddeln an den Vorhängen seines Bürofensters.
»Ich weiß, dass Sie ein überzeugter Gegner unseres Regimes sind«, sagte er mit dem Rücken zu ihm. »Ich weiß auch, dass Angestellte meiner Abteilung Ihnen bei einer Gelegenheit Respekt eingeflößt haben.«
»Respekt eingeflößt. Das ist ein bemerkenswerter Euphemismus, Señor Fernández!«
Der Minister wandte ihm das Gesicht zu und wedelte mit dem Zeigefinger.
»Nur damit Sie es wissen, ich habe mit diesen Herren ein ernstes Wort geredet.«
»Mein gebrochenes Schlüsselbein dankt es Ihnen. Würden Sie mir jetzt sagen, was Sie von mir wollen?«
Fernández verschränkte die Hände vor dem Mund und legte die Daumen ans Kinn.
»Vor fünfzehn Jahren war ich Manager bei Coca-Cola, und Sie haben meine Bewunderung erregt mit Ihrer Werbekampagne für ein neues Erfrischungsgetränk, Margot, das diesen seltsam bitteren Geschmack hatte. Es war sehr schwer, ein Getränk mit bitterem Geschmack am Markt einzuführen, weil alle an süße Erfrischungsgetränke gewöhnt waren. Erinnern Sie sich?«
»Ich erinnere mich, Herr Minister.«
»Erinnern Sie sich auch noch an den Slogan dieser erfolgreichen Kampagne?«
»Ja. ›Margot, bittersüß wie das Leben.‹«
»Genial, Bettini, genial!«
»Sagen Sie bloß, Sie haben mich herzitiert, um mich für einen Slogan von vor fünfzehn Jahren zu beglückwünschen.«
Der Minister rieb sich die Faust.
»Nein. Aber ich habe jetzt ebenfalls ein Produkt zu verkaufen, das für die Bevölkerung bitter ist: weitere acht Jahre Pinochet.«
Bettini konnte sich nicht entscheiden, ob er lächeln oder ungerührt blicken sollte.
»Herr Minister, was möchten Sie, dass ich für Sie tue?«
»Bevor die Opposition Sie zum Kreativdirektor ihrer Kampagne Nein zu Pinochet ernennt, was sie vermutlich vorhat, möchte ich Ihnen vorschlagen, unsere ›Ja‹-Kampagne zu leiten.«
»Ja zu Pinochet?«
»Ja zu Pinochet. Ich hätte mit allem von Ihnen gerechnet, nur nicht damit, dass Sie lächeln. Sie wissen nicht, wie erleichtert ich bin. Sagen Sie, warum lächeln Sie?«
Der Vater von Patricia Bettini presste sich drei Finger an die Nasenwurzel, so als wollte er einen Schmerz bekämpfen.
»Was für Wendungen das Leben nimmt! Als Pinochet putschte und Sie zum Minister ernannt wurden, verlor ich meine Arbeit, man nahm mich fest und folterte mich. Und jetzt bietet mir dieselbe Person, die dafür verantwortlich ist, dass ich meine Arbeit verlor und festgenommen wurde, erneut einen Auftrag an.«
»Ich gebe zu, die Situation hat etwas Paradoxes. Aber Sie sind der beste Werbefachmann des Landes, und für diese Kampagne will ich nur den Besten. Einen Profi! Sie können unsere Regierung kritisieren, so viel Sie wollen, aber eines müssen Sie anerkennen, wir haben eine hervorragende Riege an Fachleuten. Die Wirtschaft boomt!«
»Für die Reichen.«
»Nicht mehr lange, dann ist der Reichtum so groß, dass er auf die Armen übergehen wird.«
»Da haben Sie doch schon Ihren Slogan: ›Wenn die Reichen sich vollgefressen haben, werden sie die Reste des Banketts den Armen hinwerfen.‹«
»Ich bin mir sicher, Ihnen fällt noch etwas Besseres ein, Bettini. Was meinen Sie?«
»Was ich meine? Dass Ihnen nichts, was in diesem Land vor sich geht, verborgen bleibt. Sagt man.«
»Ja. Diese überzogene Behauptung habe ich auch schon gehört.«
»Es heißt, es wird kein Blatt Papier bewegt, ohne dass Sie davon erfahren würden.«
»Manchmal ist mir dieser Ruf eine Genugtuung, andere Male eine Last.«
Bettini schenkte sich von dem Mineralwasser nach, nahm einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Meine Tochter Patricia ist sehr in Sorge, weil Ihre Leute den Philosophielehrer ihres Liebsten verhaftet haben.«
»Aha.«
»Ein gesetzter Herr, spezialisiert auf griechische Philosophie. Er ist für niemanden eine Gefahr. Ein alter Mann.«
»So alt, dass er im Circus Maximus Bonbons verkauft hat?«
Der Minister klopfte sich auf die Schenkel und lachte über seinen Witz. Dann schlug er einen grünen Ordner auf.
»Er ist nicht mehr jung.«
»Entschuldigen Sie meinen Scherz, Bettini. Viele machen sich grundlos Sorgen. Meistens stellen meine Männer ein paar Routinefragen, und anschließend spazieren die Kandidaten vergnügt nach Hause.«
»Herr Minister, es sind mehr als dreitausend Menschen verschwunden.«
»Die Statistiken übertreiben. Die kritischen Zeiten sind längst vorbei. Habe ich Ihnen nicht eben erzählt, dass wir eine tadellose demokratische Volksabstimmung abhalten werden? Ihre Tochter braucht sich keine Sorgen zu machen.«
Bettini stand auf und fasste sich an den Krawattenknoten, um das Auf-und-ab-Hüpfen seines Adamsapfels zu verbergen. Auf seiner Zunge hatte sich so viel Spucke gesammelt, dass er schlucken musste.
»Santos«, sagte er heiser.
»Wie bitte?«
»Santos. Der Philosophielehrer heißt Rodrigo Santos.«
Der Minister legte die Hände auf den Ordner, um eine Seite glatt zu streichen, und zeichnete mit seinem Kugelschreiber gedankenverloren einen Kreis.
»Schule?«
»Instituto Nacional.«
»Oh! ›Das Glanzlicht der Nation‹.«
»Herr Minister?«
»›Das Glanzlicht der Nation‹. So heißt eine Zeile aus der Hymne der Schule. Ort des Geschehens?«
»Im Klassenraum.«
»Zeugen?«
»Über dreißig Schüler. Sie platzten mitten in den Unterricht.«
Der Staatsbeamte seufzte und wirkte plötzlich müde.
»Aussehen der Einsatzleute?«
»Kurze Haare, jung, Trenchcoats …«
»Wie aus einem Film. Tag?«
»Mittwoch. Vorgestern, am Mittwochmorgen.«
Der Minister klappte die Akte zu, reckte das Kinn und ließ ein bedeutungsschweres Schweigen verstreichen, bevor er zu reden ansetzte.
»Und was meinen Sie zu unserer Sache, Bettini?«
Unsere Sache, dachte der Werbefachmann. Als ob er mit dem Innenminister irgendetwas gemeinsam hätte. Unsere Sache.
»Wie viel Zeit geben Sie mir, um darüber nachzudenken?«
»Nehmen Sie sich ruhig ein paar Tage Zeit.«
»Ich rufe Sie am Montag an.«
»Nein, lassen Sie nur. Sie werden hier persönlich erscheinen. Ich werde Ihnen ein paar Jungs schicken, die werden Sie hierherbringen.«
»Bis Montag, Dr. Fernández.«
Der Minister erhob sich und streckte ihm frohgemut die Hand hin.
»Philosophie. Ein bisschen ist aus der Schulzeit bei mir hängen geblieben. ›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹ Von wem war das noch?«
»Sokrates.«
»Und diese andere Sache mit dem Fluss?«
»Heraklit. ›Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.‹«
»Auf Wiedersehen, Bettini.«