DREIZEHN
Patricia Bettini macht ganz auf Hippie, aber sie will erst mit mir schlafen, wenn wir unseren Abschluss gemacht haben. Das Ende der Schule sieht sie als Befreiung. In ihrer Vorstellung kommen dann alle schönen Dinge des Lebens auf einmal: die Uni, der Sex und natürlich das Ende von Pinochet.
Für sie ist es ausgemachte Sache. Sie braucht nur diese sechs Monate zu überstehen, dann bekommt sie ein gutes Zeugnis, einen Platz in Architektur, und Pinochet wird gestürzt.
Am Dienstag waren wir verabredet, doch sie ist nicht gekommen. Ich habe dann noch mal bei der Nummer angerufen, aber man hat mir gesagt: »Tut mir leid, mein Junge, wir haben von deinem Vater noch nichts gehört.« Jetzt ist es Mittwoch, und es regnet, genau wie eine Woche zuvor. Auf der Alameda rauschen die Busse vorbei, in ihnen die Arbeiter, Hausangestellte, Gärtner auf ihrem Weg zu den Häusern der Reichen im Barrio Alto. Die Abgase steigen aus den Auspuffen hoch und vermengen sich mit dem drückenden Grau.
Niemand scheint irgendetwas zu tun, damit die Dinge sich ändern. Alle sind gelähmt, ich auch.
Ich leiste einfach nur Papa Folge. Er ist Philosophielehrer, und wenn er sagt, wir sind im Plan »Barock«, dann glaube ich ihm. Während ich den Gehweg vor der Schule nach einer brennenden Zigarette absuche, gerate ich kurz ins Träumen. Ich träume, dass ich leicht verspätet ins Klassenzimmer komme und Señor Santos gerade schon die Liste durchgeht, und als er meinen Namen aufruft, sage ich »hier«.
Ich komme gerade noch rechtzeitig, um das Blatt mit den Fragen entgegenzunehmen, das Señor Valdivieso austeilt. Wir sollen anhand von Platons Höhlengleichnis erläutern, wie man aus der Welt der Schatten herausfinden und zur Klarheit der Ideen aufsteigen kann.
Meine Klassenkameraden arbeiten still, sie haben schon bald die erste Seite vollgeschrieben.
Ich höre jedes Mal das Papier rascheln, wenn einer das Blatt wendet, um auf der Rückseite weiterzuschreiben. Ich kenne das Höhlengleichnis in- und auswendig, und Papa und ich haben hin und wieder Platons Dialoge gelesen, er hat den Part des Sokrates übernommen und ich den seines Gegenredners, aber anstatt die Frage zu beantworten, denke ich an Patricia Bettini, an den Trenchcoat meines Vaters, den er an dem Tag, als sie ihn festgenommen haben, vom Stuhl genommen hat, und an den Songtext von Billy Joels Just the way you are.
Als es noch fünf Minuten bis zum Ende der Stunde sind, habe ich, glaube ich, die gesamte erste Strophe von Billy Joels Song beisammen und schreibe sie, leise vor mich hin summend, auf das Prüfungsblatt:
Don’t go changing,
to try and please me
you never let me down before,
don’t imagine you’re too familiar
and I don’t see you anymore.
I wouldn’t leave you
in times of trouble,
we never could have come this far,
I took the good times,
I’ll take the bad times,
I’ll take you just the way you are.
Die Frage zum Höhlengleichnis beantworte ich mit keinem Wort.
»Wie ist es dir ergangen, Santos?«, fragt Valdivieso mich, als ich ihm den Prüfungsbogen abgebe.
»Geht so«, sage ich und ströme mit meinen Mitschülern auf den Hof.