ELF
Nach Schulschluss bleibe ich an der Ecke stehen, ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen. Ohne Papa fehlt mir der Antrieb. Ich mache nach dem Abendessen den Abwasch nicht, und das schmutzige Geschirr stapelt sich in der Küche.
Ich rufe mir noch einmal die Telefonnummer des Mannes in Erinnerung, der mit dem Ordensbruder reden will. Vielleicht weiß er schon etwas. Doch ich sollte ihn nicht von zu Hause aus anrufen. Irgendwann wird die Telefonzelle gegenüber der Bushaltestelle schon frei werden.
Während ich warte, rubble ich die Hundertpesomünze zwischen den Fingern, bis das Metall warm wird.
Herr Valdivieso kommt auf mich zu.
»Wie wär’s mit einem Kaffee, Santos?«
»Wozu?«
»Gegen die Kälte zum Beispiel.«
Wir gehen in die Konditorei Indianápolis und lehnen uns an den Tresen, von wo aus wir der Bedienung in ihrem kneifenden Minirock auf den Hintern gucken können. Als der dampfende Kaffee kommt, legt der Lehrer zum Wärmen die Hände an die Tasse, und ich schütte eine Ladung Zucker hinein, für die Patricia Bettini mir eine Standpauke halten würde.
»Santos«, sagt er dann, »das ist für mich keine angenehme Situation. Es ist nicht meine Schuld, dass ich jetzt die Stunden gebe, die vorher Ihr Vater unterrichtet hat.«
»Es ist auch nicht die Schuld meines Vaters.«
»Ich habe die Stelle nicht angenommen, um es Ihrem Vater noch schwieriger zu machen, sondern weil das Leben weitergehen muss. Die Erziehung unserer Jugend darf nicht leiden, was auch immer passiert.«
»Die ethische Erziehung«, sage ich.
»Die politische Einstellung Ihres Vaters geht mich nichts an.«
»Viel gibt es da auch nicht zu sagen. Er will nur eines, gegen Pinochet kämpfen.«
»Sehen Sie, es geht nicht, dass Ihr Vater die gegenwärtige politische Situation mit Platons Philosophie vermengt; Platon hat vor über zweitausend Jahren gelebt.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Valdivieso.«
Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee und wischt sich den Milchschaum mit dem Ärmel von den Lippen. Ich beobachte, dass der Telefonapparat im Lokal frei geworden ist, und taste in meiner Tasche nach der Münze.
Er zieht ein gefaltetes Blatt aus seinem Jackett und breitet es auf dem Tresen aus. Es ist ein mit Hand geschriebener Text. Vertrauensvoll beugt er sich zu mir herüber und liest ihn mir vor: »›Anders gesagt, wir Chilenen in der Diktatur Pinochets sind die Gefangenen in der Höhle Platons. Geblendet von einem dümmlichen Fernsehprogramm, sehen wir nur Schattenbilder der Wirklichkeit, während die hellen Köpfe in dunkle Kerker gesperrt sind.‹«
»Wo haben Sie das her?«
»Das ist die Mitschrift eines Ihrer Klassenkameraden, Santos. Er hat sie dem Rektor zur Verfügung gestellt.«
Ich rühre so heftig mit dem Löffel in der Tasse, dass der Kaffee auf den Teller schwappt. Hinter der Kasse ist ein kleiner Ständer mit Zigaretten. Unter den Marken ist auch der schwarze Tabak, den mein Vater raucht.
Wenn ich wüsste, wo er ist, würde ich ihm ein Päckchen bringen.
»Ich hoffe, Santos, Sie sind mir nicht böse, dass ich die Stelle Ihres Vaters übernommen habe.«
»Nein, überhaupt nicht, Señor Valdivieso.«
»Sie wissen doch, das ist die beste Schule Chiles, und als junger Lehrer hier angenommen zu werden ist ein wichtiger Karriereschritt und ein Grund, stolz zu sein.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
»Natürlich wäre ich lieber unter anderen Umständen hergekommen. Durch einen ersten Platz in einem fachlichen Wettbewerb zum Beispiel und nicht, weil der Herr Direktor mich geholt hat.«
Ich hebe die Tasse an den Mund und puste. Der Kaffee ist noch immer zu heiß, und ich löffle den verschütteten Kaffee vom Unterteller zurück in die Tasse.
»Wenn Sie es nicht gemacht hätten«, sage ich, »hätte ein anderer die Stelle angenommen.«
»Das ist das Unschöne daran, Santos. Bevor ich die Stelle angetragen bekommen habe, hat man sie Señor Hughes und der Kollegin Ramírez angeboten. Warum lächeln Sie, junger Mann?«
»Glückwunsch zu Ihrer Aristoteles-Stunde, Señor Valdivieso. Mein Vater ist ein großer Anhänger der Nikomachischen Ethik. Darum hat er mich Nico genannt. Nikomachos wäre etwas zu viel gewesen.«
Der Mann nimmt sich die John-Lennon-Brille ab und reibt sich die Augen.
»Auf jeden Fall«, sagt er, »werde ich versuchen, wiedergutzumachen, was ich Ihnen angetan habe.«
»Lassen Sie nur. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich bin guter Dinge.«
Aber als ich endlich telefoniere, geht es mir gar nicht gut, und ich bin alles andere als guter Dinge.
Die Ordensbrüder wissen nicht, in welchen Kerker sie Señor Santos gesteckt haben.