DREIUNDDREISSIG
Heute Abend zeigt das Fernsehen die erste Folge der »Nein«-Kampagne.
Heute Vormittag findet die Beerdigung von Señor Paredes statt.
Auf dem Weg zum Friedhof nähern sich immer wieder Leute dem Trauerzug und legen Blumen auf den Sarg. Eine Gesandtschaft der Scuola Italiana ist in einem gelben Bus angereist. Die Mädchen und Jungen tragen Uniform.
Als Letzte der Gruppe kommt Patricia Bettini mit einem Chrysanthemenkranz.
Die Zeitungen haben den Mord auf den Titelseiten gebracht.
Zum ersten Mal in diesem Monat scheint die Sonne.
Der Philosophielehrer Valdivieso hält eine Trauerrede auf Señor Paredes. Er hebt seine Verdienste als Lehrer und Leiter der Theatergruppe hervor.
»Er erarbeitete mit den Schülern Fuenteovejuna, Peribáñez, Das Leben ein Traum, Mutter Courage und Macbeth. Er führte Regie bei Der Tod eines Handlungsreisenden und Der Hausmeister von Harold Pinter.«
Dass er El Señor Galíndez von Pavlovsky aufführen wollte, erwähnt Valdivieso nicht.
Er sagt, Don Rafael Paredes ist unter tragischen Umständen ums Leben gekommen.
Dass Agenten der chilenischen Geheimpolizei ihn erdrosselt haben, sagt er nicht.
Heute hätten wir Probe gehabt, Shakespeare.
Meine Werkausgabe ist vollgekritzelt mit Unterstreichungen.
Der Schulchor singt Ruhe in Frieden.
Möge die Erde Liebe auf dich häufen.
Patricia hält den Kopf gesenkt. Sie hätte nicht kommen sollen. Ihr Schmerz lastet zusätzlich auf mir.
Dort steht die Witwe des Lehrers. Doña María ist sehr blass. Ihre Schminke ist verlaufen. Sie schaut in die Sonne, während Valdivieso redet.
Ich muss die Fassung bewahren und kann es nicht.
Ich schaue in die Sonne wie Doña María. Man hat Valdivieso für die Grabrede ausgesucht, weil alle alten Lehrer dazu nicht in der Lage sind. Sie sind am Boden zerstört.
Ich vermisse Papa. Doña María hat Señor Paredes’ Leiche. Ich habe nichts, nur die Leere, die mein Vater hinterlassen hat. Nein, nicht nur. Ich habe meine Hoffnung.
Werde ich ihn je wiedersehen, mit seinem schwarzen Tabak, der ihm aufs Revers krümelt?
Ich schniefe. Mein Vater ist nicht in der Haft verschwunden.
Es kann nicht sein, dass er sich geirrt hat. Der Plan »Barock«. Die Zeugen. In meiner Klasse sind mehr als dreißig Schüler.
Theoretische Logik. Mein Vater ist ein Ass in Logik. Sie können nicht leugnen, dass sie ihn festgenommen haben. Sie müssen ihn mir zurückgeben.
Meine Telefonanrufe sind nicht umsonst gewesen. Die Leute am anderen Ende der Leitung fordern von mir Geduld. Angeblich sind sie dabei, zu verhandeln. Einer von ihnen nennt sich Samuel, er hat mir aber erklärt, dass das nicht sein richtiger Name ist. Samuel sagt, der Fall meines Vaters hat oberste Priorität. Er tut alles, was er kann. Leutnant Bruna hat für Señor Paredes auch alles getan, was er konnte.
Ich bin ausgesucht worden, im Namen der Schüler zu reden. Für die Darsteller von Die Höhle von Salamanca.
Die vier Darsteller von El Señor Galíndez sind untergetaucht.
Wir werden Cervantes’ Stück nicht noch einmal aufführen. Das passt jetzt nicht mehr. Bei der Premiere hofften wir noch, Don Rafael würde kommen. Jetzt haben wir die Erklärung. Und Wut im Bauch. Und jede Lust verloren.
Heute Abend kommt die »Nein«-Kampagne im Fernsehen. Ich werde sie bei den Bettinis zu Hause ansehen. Es gibt Spaghetti alla puttanesca. Auf florentinische Art. Also mit reichlich Oliven und Olivenöl. Ich darf jetzt nicht weinen. Ich darf nicht schwächer sein als die Witwe. Nicht vor Patricia Bettini, die mit gesenktem Blick dasteht und den Chrysanthemenkranz hält.
Valdivieso kommt ans Ende seiner Rede. Er faltet die Blätter zusammen und steckt sie in die Jacketttasche. Dann winkt er mich aufs Podium. Ich habe in der einen Hand Shakespeare, in der anderen einen Radiergummi, den ich abwechselnd zusammendrücke und wieder loslasse. Ich blicke ins Publikum. Es sind mehr als hundert Leute. Fast alles Erwachsene. Unter ihnen fünf Lehrer.
Ein paar Mitschüler. Die wenigen, die von ihren Eltern die Erlaubnis erhalten hatten zu kommen. Aus der Scuola Italiana sind es sieben junge Leute. Bei ihnen steht ein großer, hagerer Mann, den ich schon einmal bei Patricia zu Hause gesehen habe. Es ist der italienische Konsul. Herr Magliochetti.
Heutzutage hat jeder einen Freund in Diplomatenkreisen.
Für den Fall der Fälle.
Die anderen kenne ich nicht. Verwandte, nehme ich an.
Ich hätte mir eine Flasche Wasser mitnehmen sollen. Auf einmal muss ich mich räuspern.
Patricia hebt den Kopf. Ihre kaffeebraunen Augen. Ihr kastanienbraunes Haar. Imagine von John Lennon. John Lennon wurde umgebracht. Der junge Mann, der ihn umgebracht hat, hatte Der Fänger im Roggen von Salinger dabei. Es gibt nur ein einziges Foto von Salinger. Er verweigerte sich den Menschen.
Señor Paredes hat mir das Reden vor Publikum beigebracht. Als Erstes soll man sich vor seinem Publikum »aufbauen«. Seine eigene Macht spüren. Selbst wenn man ein kleiner, dummer Junge ist, muss man sich fühlen wie ein Riese.
Atme tief ein, halte die Luft an und atme sie langsam wieder aus. Versuche, einen Rest Luft zurückzubehalten. Damit sie dir nicht mitten im Wort ausgeht. Und bevor du zu reden beginnst, nimm dir alle Zeit der Welt, um dein Publikum anzusehen. Nicht mit verhuschtem Blick wie ein erschrockener Vogel. Nimm dein Publikum in den Blick, als Ganzes und zugleich jeden Einzelnen. Sieh ihnen in die Augen. Sei nicht gehetzt, strapaziere die Zeit aber auch nicht unnötig. Spar dir Vorreden und Formeln. Wenn du sagst, »ich werde mich kurz fassen«, blähst du deinen Text schon unnötig auf. Eine Rede besteht aus Wörtern und Pausen. Die Pausen, sagte Herr Paredes, sagen auch etwas. Manchmal muss man Wörter sagen, nur um die Stille zu hören. Es gibt solche und solche Arten zu schweigen.
»Manchmal muss man Wörter sagen, nur um die Stille zu hören«, sage ich mit lauter Stimme. »Es gibt solche und solche Arten zu schweigen. Auch das vielsagende Schweigen. Manchmal kann man etwas nur sagen, indem man das verschweigt, von dem wir alle wissen, dass es gesagt werden müsste. Lieber Señor Paredes: Heute hätten wir Shakespeare geprobt. Hamlet, Julius Cäsar, Macbeth. Ich habe von ›Uncle Bill‹ alles das unterstrichen, was ich bemerkenswert fand. Sie hätten mir sicher eine sehr gute Note gegeben. Eine Stelle lese ich Ihnen vor: ›I have neither wit, nor word, nor worth, action, nor utterance, nor the power of speech, to stir men’s blood: I only speak right on; I tell you that which you yourselves do know. Show you sweet Caesar’s wounds, poor poor dumb mouths, an bid them speak for me: but wer I Brutus, and Brutus Antony, there were an Antony would ruffle up your spirits an put a tongue in very wound of Caesar that should move the stones of Rome to rise and mutiny.‹ Verzeihen Sie, dass ich das nicht übersetze, aber ich will nicht festgenommen werden.«
Ich kann selbst nicht glauben, was ich gerade gesagt habe.
Ich habe mir nicht überlegt, wie ich aufhöre.
Also beeile ich mich, Marcus Antonius’ Rede zu Ende zu lesen: »… dann gäb es einen, / Der eure Geister schürt’ und jeder Wunde / Des Cäsar eine Zunge lieh’, die selbst / Die Steine Roms zum Aufstand würd empören.«
Leutnant Bruna ist nicht anwesend, aber hinter wie vielen Trauermienen stecken Geheimpolizisten? Das Publikum anschauen. Als Ganzes und jeden Einzelnen. Sie wissen nicht, dass ich am ganzen Leib zittere. Ich dummer Junge. Ich Riese.
Ich schlage das Buch zu und trete vom Mikrofon weg. Schweigen. Solches und solches. Ein letzter Blick. Zu Patricia Bettini. Zum italienischen Konsul. Über die Menge hinweg.
Ein alter Mann hebt mit beiden Händen eine rote Fahne über den Kopf. Che hat auch eine dabei und schwingt sie. Die Kunstlehrerin ebenfalls. Fünf oder sechs Erwachsene, die ich nicht kenne, heben Fahnen hoch und lassen sie im Wind flattern. Der Rektor bemerkt es nicht. Der Rektor tut, als würde er es nicht bemerken. Leutnant Bruna hat sein Fernbleiben mit »Gründen des Anstands« entschuldigt. Das Schweigen jetzt ist ein anderes. Es erlaubt, das Flattern der roten Fahnen im Wind zu hören.
Jetzt kommt eine Fahne hinzu, die anders ist als die anderen: Sie gehört Patricia Bettini. Es ist eine weiße Fahne mit einem Regenbogen darauf.