ACHTUNDDREISSIG

Wenige Tage vor der Abstimmung veröffentlichten die Meinungsforscher ihre Umfragen.

Fünfundsechzig Prozent der Unentschiedenen gaben nun an, für »Nein« zu stimmen.

Zusammen mit der großen Menge der entschlossenen »Nein«-Wähler sagten die Umfragen nun voraus, dass die Opposition das Plebiszit gewinnen würde.

Pinochet reagierte in keiner Weise auf den Zulauf bei der Opposition. In seinen Wahlsendungen, die dank des Monopols der Regierung das Fernsehprogramm dominierten, kamen Unentschlossene nicht vor, nur glühende Anhänger.

Pinochet glaubte Minister Fernández und seinen Assistenten, die ihm ausschließlich positive Umfrageergebnisse vorlegten. Ihnen zufolge ging von der »Nein«-Kampagne keinerlei Gefahr aus, nur ein paar Verbrecher würden seine Gegner vorschnell zu Siegern erklären.

Einer dieser Verbrecher schrieb: »Wen die Götter zu Verlierern machen wollen, dem geben sie Blindheit.«

Bei den Bettinis zu Hause stieg die Laune, wie fast überall in Chile. Die »Nein«-Kampagne hatte die Leute aufgeweckt. Es tat sich etwas.

Die Soziologen erklärten Bettini, zum ersten Mal würden die Menschen sich im Fernsehen angesprochen fühlen. Die Bilder, die diese fünfzehn Minuten zu einem Urknall hatten werden lassen, waren nach der Sendung nicht erloschen: Sie hatten ein Feuerwerk entfacht, das in alle Richtungen Funken sprühte. Statt Bitterkeit sah man nun Lächeln auf den Gesichtern.

Bis zu diesem Moment hatte die Menschen nichts von dem berührt, was über die Bildschirme lief. Doch gleichzeitig mussten sie sehen, dass die klischeehaften Figuren der Fernsehsoaps lebendiger waren als sie selbst. Sie selbst durften nicht leben, sie durften nur Kunstfiguren beim Leben zusehen.

Die minimale Öffnung zur Demokratie, die Pinochet gewagt hatte, hatte einen Dammbruch ausgelöst. Und sein Werbespot, der zunächst wie eine harmlose Albernheit ausgesehen hatte, hatte in seiner Einfachheit den Nerv getroffen und bei den Menschen Sehnsucht nach Zukunft und Lebensfreude geweckt. Langsam glaubte das sogar Bettini. Allerdings wurde sein Erfolg immer gefährlicher. Mit halbem Lächeln sprach er vor Freunden immer häufiger von seinem »fucking success«. In den letzten Tagen vor der Abstimmung tat er kaum ein Auge zu. Er stand permanent unter Anspannung.

Die Gerüchte, dass die Armee sich auf einen möglichen ungünstigen Ausgang für Pinochet einstellte, machte ihm Angst, denn den Militärs war es zuzutrauen, dass sie den Demokratieversuch kurzerhand zur Posse erklären und das Ergebnis nicht anerkennen würden. Oder dass sie Terroranschläge anzetteln würden, um die Volksbefragung abblasen zu können.

Dabei riefen die Anhänger des »Nein« einfach nur auf, mit »Nein« zu stimmen, ohne Hass und ohne Gewalt.

Am 5. Oktober machte sich Bettini zusammen mit Magdalena und Patricia auf den Weg zu seinem Wahllokal in der Nähe der Plaza Egaña. Er stellte sich in die lange Schlange der Wähler, die Sonne schien, und er kaufte den fliegenden Händlern ein paar der kleinen Mineralwasserflaschen ab. Je weiter er vorrückte, desto schneller schlug sein Herz. Er war über die augenscheinliche Normalität froh. Er hatte es sich alles viel feierlicher, viel verkrampfter vorgestellt. Nichts dergleichen. Da stand er, als einer von Hunderten, in seinem Ñuñoa. Als einer von Hunderttausenden in der Hauptstadt Santiago. Als einer von Millionen in Chile. Wo wohl Florcita Motuda seine Stimme abgab? Während den Sänger seine Beliebtheit glücklich machte, war er sehr dankbar dafür, dass ihn niemand kannte.

Wenn »Nein« gewinnen sollte, wäre er restlos glücklich. Mehr wollte er nicht vom Leben verlangen, außer vielleicht noch ein Haus am Strand, in das er seine Lieblingskassetten mitnehmen würde, seine Bücher über griechische Geschichte (ja, ja, »wen die Götter zu Verlierern machen wollen, dem geben sie Blindheit«).

Wenn »Nein« gewinnen sollte …

In Wahrheit konnte er sich nicht vorstellen, was nach dem »Nein« kommen würde. Undenkbar, dass dies nur eine erste Etappe sein sollte. Ein einfacher Regenbogen, ein paar Bilder, Alarcóns Walzer, mehr war es im Grunde nicht.

Und doch war das die Sternstunde seines Lebens.

Die Zukunft sollen andere gestalten. Er – er reckte die Faust und behielt sie oben, als ein Bekannter aus der Reihe ihn grüßte –, er wollte einzig das Jetzt genießen.

Die Ewigkeit dieses Moments.

Es fehlte nur, dass »Nein« gewann.

Um Mitternacht trat er ans Fenster, noch bevor der Vizeminister des Inneren die Ergebnisse bekannt gab. Die Befehlshaber der Streitmächte hatten die Stimmung im Land zu fühlen bekommen und konnten das Abstimmungsergebnis nicht länger leugnen.

»Überall in den Straßen wird gefeiert, Schüsse in die Menschenmenge zu feuern wäre ungeheuerlich«, meldete der Innenminister in den Regierungspalast.

Vizeminister Cardemil teilte mit, dass »Nein« gewonnen hatte. Mit dreiundfünfzig Prozent der Stimmen.

Die Journalisten, hin und her gerissen zwischen freudiger Erregung und Ungläubigkeit, suchten vergeblich nach dem Innenminister.

Endlich trat Pinochet vor die Presse. In Zivil gekleidet, rosig geschminkt, verkündete er vor chilenischen Kameras und der internationalen Presse: »Die Juden hielten auch eines Tages eine Volksabstimmung ab. Sie mussten wählen zwischen Jesus Christus und Barrabas. Und sie haben Barrabas gewählt.«

Dann zog er sich mit einem Lächeln zurück: »No more questions.«

Bei Bettini zu Hause gab es erst Rotwein und Weißwein, dann eine Flasche Champagner und nach der Flasche Champagner Telefonanrufe und Schichtwechsel bei der Besatzung des grauen Wagens, der seit dem Tag, als er dort abgestellt worden war, nicht mehr weggefahren war.

Seine stille, massive Anwesenheit beherrschte die Straße. Zeitweise war er leer. Dann wieder stiegen zwei Männer ein, manchmal dieselben wie am ersten Tag, manchmal andere, sie stellten das Radio an, hörten Rockmusik, dann wieder karibische Cumbia, und einmal drehten sie sogar Mozart laut auf: die Kleine Nachtmusik.

Das Auto bewegte sich nicht von der Stelle. Das Auto blieb. Ohne Nummernschild.

Die beiden Männer kamen mit Papiertüten vom Markt in Irarrázabel, schälten Orangen und warfen die Schalen auf die Straße.

Einer von ihnen rauchte, der andere nicht.

Wenn sie Nachtschicht hatten, rauchte keiner von beiden.

Jeden Morgen kam jemand mit dem Motorrad und brachte ihnen eine Thermoskanne Milchkaffee und belegte Brote.

Um fünf Uhr morgens brachte Patricia Bettini die Tickermeldungen der ausländischen Presse. Sie hatte sie vom italienischen Konsul, der ebenfalls kam, die Zähne noch voller Zahnpasta, die Haar noch feucht von der Morgendusche, unterm Arm Parmesankäse und Parmaschinken.

Patricia hatte die »Ehre«, die Tickermeldung von Le Monde vorzulesen. Das Mädchen erfasste mit wenigen Blicken den Text und übersetzte ihn ins Spanische.

Die Familienmitglieder und Freunde lagen verstreut wie erschöpfte Krieger auf dem Teppich und in den Sesseln.

»Le Monde: ›Es gibt wenige Fakten, anhand derer man beurteilen könnte, was geschehen ist und wie es mit Chile nun weitergehen wird. Das autoritärste, repressivste Regime in der Geschichte des Landes ist in sich zusammengefallen und ist gekennzeichnet von Unentschlossenheit, Handlungsunfähigkeit und Schock.‹«

Patrica sah zu ihrem Vater, und während sie sich ihr braunes Haar aus dem Gesicht strich, sagte sie feierlich: »Papa, ich will, dass du jetzt aufstehst.«

Adrián klatschte in die Hände, er hielt die Aufforderung seiner Tochter für einen Scherz. Aber Patricia meinte es ernst. Er hatte sie noch nie so feierlich gesehen. So würdig. Als wäre sie in wenigen Stunden erwachsen geworden. Als hätten die durchwachten Nächte, der Wein, die Übermüdung, die Aufregung sie mit ihren gerade einmal achtzehn Jahren zur Frau werden lassen.

»Papa, das schreibt El País, aus Spanien: ›Fünfzehn Minuten genügten, um fünfzehn Jahre zu beenden.‹«

Bettini rechnete nach, in den letzten Wochen hatte es keinen Abend gegeben, an dem er nicht seinen eigenen Herzinfarkt vorausgesehen hatte. Nicht jetzt, please, befahl er seinem fucking Herz. Er nahm sich zusammen und sagte, ohne zu lächeln, zu seinem Publikum: »El País aus Spanien! Nicht zu fassen.«

Die Tage des Regenbogens
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