25. KAPITEL
I diot, Idiot, IDIOT!
Victoria mischte sich unter das Partyvolk, lächelte brav und tat so, als wäre alles in bester Ordnung. Als ginge es ihr gut. Aber unter der Oberfläche lauerte eine Furie, die schreien und kratzen und um sich treten wollte. Ein liebeskranker Dummkopf, der sich zusammenrollen und ein ganzes Meer aus Tränen weinen wollte.
Wie hatte sie nur so unglaublich leichtsinnig sein können? Nicht nur mit ihrem Herzen, dem man einfach nicht helfen konnte, wenn es um John Miglionni ging, sondern auch mit ihrem Körper –und das hätte man sehr wohl verhindern können. Sie hatte es niemals bereut, Esme bekommen zu haben, und sie hatte sich auch niemals für die Umstände entschuldigt, unter denen ihre Tochter zur Welt gekommen war. Genauso war sie aber auch fest entschlossen gewesen, kein zweites Mal ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen. Sie müsste aber schon verdammtes Glück haben, wenn die Episode mit John Esme in neun Monaten nicht zu einem Geschwisterchen verhelfen sollte. Gott weiß, sie war fruchtbar genug gewesen, als sie verhütet hatten. Wie hoch waren da die Chancen, nach solch sträflichem Leichtsinn eine weitere Schwangerschaft zu vermeiden?
Gott! Was hatte Rocket nur an sich, dass sie in seiner Gegenwart eines ums andere Mal jede Vernunft und Umsicht über Bord warf? Hals über Kopf in ihn verliebt zu sein erschien ihr als Grund nicht ausreichend. Tief im Innern konnte sie jedoch das Gefühl nicht abschütteln, es sei seine Schuld, dass sich ihr Gehirn jedes Mal in Brei verwandelte, wenn er sie berührte.
Selbst schuld, wenn er nicht klug genug war, sie zu lieben.
Eine Frau, die genug Schmuck trug, um damit den Haushalt einer kleinen Nation zu finanzieren, beendete endlich die Geschichte, die sie ihnen erzählt hatte. Victoria lächelte höflich und antwortete anstandshalber. Aus irgendeinem Grund sah die Frau schockiert aus, aber bevor Victoria den Grund dafür herausfinden konnte, entschuldigte John sie, nahm sie am Arm und zog sie mit sich.
Er beugte sich zur ihr herab, während er auf die Bar zusteuerte. ,„Sehr nett’ war nicht so ganz die passende Antwort auf die Tatsache, dass ihr Pudel gestorben ist“, murmelte er.
„Mmh“, stimmte sie zu. Einen kurzen Augenblick lang lichtete sich der Nebel in ihrem Hirn, und sie konnte sein Gesicht klar erkennen. Seine dunklen Augen waren überschattet, die Augenbrauen über der Römernase zusammengezogen, während er sie ansah. Offensichtlich ging es ihm nicht viel besser als ihr.
Ihr Herz zog sich zusammen. Sosehr sie ihm auch die alleinige Schuld in die Schuhe schieben wollte – sie konnte es nicht. Schließlich hatte er sie nicht darum gebeten, sich in ihn zu verlieben, und an dem Debakel heute Abend hatte sie mindestens genauso viel Schuld. Vielleicht sogar mehr. Wenn man es genau nahm, denn sie hatte ja angefangen. Und das Schlimmste war: Sie hatte es nicht bereut, bis ihr die Sache mit dem Kondom aufgegangen war.
„Vielleicht war es doch keine so tolle Idee, das hier heute Abend durchzuziehen“, sagte John leise.
Sie nickte. Die Chance, zu fliehen und ihre wild durcheinanderwirbelnden Gefühle sortieren zu können, erschien ihr höchst verführerisch. „Okay. Lass uns verschw…“
„Miss Hamilton“, unterbrach sie eine leise weibliche Stimme. „Hallo.“
Sie blinzelte und wandte sich der jungen Frau zu, die leicht ihren Unterarm berührt hatte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Bitte“, sagte sie automatisch, während sie versuchte, sich zu erinnern, woher sie die blonde Frau und ihren untersetzten Begleiter kannte. „Nennen Sie mich Victoria.“ Dann wusste sie es. „Wie geht es Ihnen, Mrs. Sanders? Amüsieren Sie sich gut?“
„Ja, danke, und bitte, nennen Sie mich doch Terri. Die Party ist wunderbar.“
„Ja, das ist sie, nicht wahr? Haben Sie schon meinen Verlobten kennengelernt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich zu John um. „John, das sind Terri Sanders und ihr Ehemann George. Terri war die Assistentin meines Vaters. Terri, George, das ist John Miglionni.“
„Wie geht es Ihnen?“ John schüttelte dem Ehepaar die Hand. „Bitte verzeihen Sie mir, falls man uns während der Trauerfeier schon vorgestellt hat“, sagte er mit einem charmanten Lächeln. „Ich habe in letzter Zeit so viele Menschen kennengelernt, dass ich langsam ins Schwimmen gerate. Bitte, wollen Sie sich nicht zu uns an den Tisch setzen und etwas mit uns trinken?“
Victoria wollte reflexartig protestieren, schluckte es aber herunter. Etwas an seinem strahlenden Tausendwattlächeln sorgte dafür, dass sie ganz plötzlich wieder klar denken konnte, und sie realisierte, dass Terri Sanders durchaus interessante Informationen über ihren Vater haben konnte. Sie musste sich unbedingt zusammenreißen. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, und sie sah John neugierig an. „Hast du gerade etwas von einem Pudel gesagt?“
Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. „Jaja, darüber reden wir später.“
Es gelang ihr einigermaßen, Small Talk zu machen, während John Getränke holte. Aber erst als John mit den Getränken zurückkehrte, fiel ihr etwas Wichtiges ein. Sie nahm Terris Hand. „Es tut mir sehr leid“, sagte sie. „Ich habe Sie ja nicht einmal gefragt, ob Sie durch den Tod meines Vaters Ihren Job verloren haben. Ich weiß, dass es einen neuen Geschäftsführer gibt, aber ich war zu sehr mit meinen eigenen Belangen beschäftigt, um an Vaters Angestellte zu denken. Sie müssen mich für schrecklich unhöflich halten.“
„Aber natürlich nicht“, antwortete die andere Frau. „Außerdem wurden nur sehr wenige entlassen. Ihr Vater hatte alles bestens organisiert, und er hatte ohnehin viele Aufgaben auf andere übertragen. Nach seinem Tod war also bereits eine perfekte Infrastruktur vorhanden. Ich bin so lange geblieben, bis alle ungeklärten Fragen erledigt waren. Der neue Geschäftsführer bot mir an, meinen Job zu behalten. Ich hatte allerdings ein Angebot von Soundhill Investments, das ich stattdessen angenommen habe. Es ist eine Firma, mit der Ihr Vater oft Geschäfte gemacht hat, also kannten sie meine Arbeit bereits.“
„Sie ist die Beste“, warf George stolz lächelnd ein.
„Hat er das nicht brav auswendig gelernt?“
John und Tori lachten, und John lehnte sich vor und schenkte der jungen Frau sein charmantestes Lächeln. „Nun, Soundhills Gewinn ist definitiv unser Verlust. Wann treten Sie Ihre neue Position an?“
„Montag in drei Wochen. Nach einer Irlandreise, die George und ich schon seit Ewigkeiten planen.“
Victoria lehnte sich zurück und hörte zu, wie John Terri so raffiniert ausfragte, dass weder sie noch ihr Mann ahnten, dass sie verhört wurde. Er zog ihr den Namen des aktuellen Geschäftsführers sowie mehrerer anderer Angestellter aus der Nase, die von Fords Tod profitiert hatten. Aus Terris Antworten ging hervor, dass sie eine sehr wertvolle Kraft war, und John stieg geschickt darauf ein.
Victoria wandte sich der anderen Frau zu. „Mein Vater hatte großes Glück, Sie zu haben. Besonders weil er ja manchmal nicht gerade ein sehr einfacher Mensch war. Für ihn zu arbeiten kann kein Zuckerschlecken gewesen sein.“
„Da haben Sie recht“, erwiderte George Sanders. „Sie hingegen sind sehr viel netter.“ Er legte den Arm um seine Frau und streichelte sie. „Erzähl ihnen von den Prämien, Schatz.“
Terri biss sich auf die Lippe und sah von Victoria zu John und zurück. Schließlich holte sie tief Luft und straffte die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich dessen bewusst sind, aber vor ein paar Jahren hat Ford den Hauptsitz der Firma auf die Cayman Islands verlegt, nachdem er mit dem Vorstand vereinbart hatte, seine Prämien in Form von Inhaberpapieren ausgezahlt zu bekommen.“
Victoria blinzelte. „Ja, und?“
John hingegen war sich offensichtlich der Wichtigkeit dieser Tatsache bewusst, denn nach einem kurzen Schweigen sog er scharf die Luft ein. „Weil eine Firma, die auf den Caymans angemeldet ist, an der Steuerbehörde vorbei arbeiten kann?“
„Genau. Ich habe Kopien der Transaktionen gemacht. Ich würde sie Ihnen gern übergeben. Es geht mich zwar nichts an, aber diese Aktien sind im Grunde das Gleiche wie Bargeld, und seit Fords Tod hat niemand mehr von ihnen gesprochen. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass sie irgendwo da draußen sind.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich hätte das wahrscheinlich der Polizei melden sollen, aber ich habe gezögert, mit Fords Finanzangelegenheiten an die Öffentlichkeit zu gehen.“
„Ich bewundere Ihre Loyalität.“ John war einen Moment lang still, dann sagte er: „Wann fliegen Sie nach Irland?“
„Das ist das Problem. Unser Flug geht morgen Nachmittag.
„Und wo sind die Kopien jetzt?“
Sie zögerte, seufzte und gab schließlich zu: „Ich habe sie mit nach Hause genommen, als ich ging.“
Johns Gesicht blieb ganz wertungsfrei. „Dann kommen wir am besten nachher mit Ihnen nach Hause und holen sie.
Dann können Sie ganz beruhigt in Urlaub fahren.“
„Es würde Ihnen nichts ausmachen?“
John sah Victoria an, die ihrerseits der jungen Frau zulächelte. „Nein, gar nichts. Sagen Sie uns einfach Bescheid, wenn Sie fahren wollen.“
„Nun, eigentlich wollten wir gerade gehen, als ich Sie entdeckte. Wir müssen noch eine Menge packen.“
„Hervorragend.“ Rasch stand Tori auf. Vielleicht würde dieser verdammte Abend endlich doch noch enden.
Sobald John und sie im Auto saßen, verpuffte das Hochgefühl. Die Atmosphäre wurde auf der Fahrt zu den Sanders von Minute zu Minute angespannter.
An einer roten Ampel wandte John sich ihr zu. „Tori, hör mal …“
Das Allerletzte, was sie jetzt wollte, war, ihre Probleme noch einmal durchzukauen. Sie hatten alles gesagt, was zu sagen war, und es hatte ihnen nichts als Schmerz eingebracht. „Es war anständig von Terri, uns über Vaters Aktien zu informieren, findest du nicht?“, meinte sie kühl, die Augen auf das vor ihnen fahrende Auto geheftet.
„Glaubst du wirklich, das hat sie aus reiner Güte getan?“ Er lachte trocken. „Die Sanders scheint mir clever genug zu sein, um zu wissen, wie sie ihren Hintern retten kann.“
Sie drehte sich um und sah ihn an. „Was soll das heißen?“
„Ich habe das Gefühl, sie ist sich nicht hundertprozentig sicher, ob diese Aktiengeschichte wirklich legal ist. Und sie will sagen können, dass sie jemanden mit entsprechender Verfügungsgewalt – das bist in diesem Fall du – darüber informiert hat, sollte die Sache jemals aus dem Ruder laufen.“
Victoria starrte ihn mit offenem Mund an. „Du bist gar nicht zynisch, was?“
„Ich nenne es lieber realistisch. Sie hatte die Gelegenheit, es der Polizei zu erzählen – aber was glaubst du, wie hätte es sich auf ihre Arbeitssuche ausgewirkt, wäre bekannt geworden, dass sie die Privatangelegenheiten ihres Arbeitgebers ausplaudert?“ Er zuckte mit den Schultern und sagte nichts mehr, bis sie eine schicke Mittelklassegegend, mehrere Meilen vom Club entfernt, erreichten. Kurz darauf folgte er dem anderen Paar in eine Einfahrt.
Sie gingen hinter George und Terri in ein nettes kleines Klinkerhaus und wurden durch den Flur in ein winziges Arbeitszimmer geführt. Terri öffnete einen Aktenschrank und nahm einen dünnen Hefter heraus.
Sie drehte sich um, reichte Victoria den Hefter und lächelte strahlend. „Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich richtig befreit. Jetzt kann ich den Urlaub wirklich genießen.“
Sie tauschten noch ein paar Nettigkeiten aus, dann stiegen John und Victoria in ihr Auto und fuhren davon. Kaum waren sie außer Sichtweite, fuhr John an den Rand, schaltete den Motor aus und machte die Innenraumbeleuchtung an. Victoria lehnte sich über die Mittelkonsole, damit sie beide den Inhalt des Hefters studieren konnten.
„Heilige Scheiße!“, sagte er einen Augenblick später atemlos und lehnte sich in seinem Sitz zurück. „Sechseinhalb Millionen pro Jahr in den letzten fünf Jahren. Das sind aber äußerst großzügige Prämien.“ Er sah sie an. „Hast du in den Unterlagen deines Vaters die Originalaktien gefunden?“
Inzwischen war ihr klar geworden, dass diese bei den Unterlagen hätten liegen oder zumindest auf der Liste der Vermögenswerte hätten aufgeführt sein müssen. „Nein.“
Er fluchte leise, machte das Licht aus und sah sie erneut an. „Dir ist klar, was das bedeutet, nicht wahr?“
„Dass so ziemlich jeder meinen Vater umgebracht und dann mit einem Vermögen in Form von Inhaberpapieren abgehauen sein könnte?“
„Ganz genau.“ Seine dunklen Augen funkelten in dem diffusen Licht, das durch die Windschutzscheibe fiel. „Und dass ich nirgendwohingehen werde, bevor wir ganz sicher sein können, dass es niemand war, der in deinem Haus lebt.“
John fühlte sich, als wäre ihm ein Felsbrocken vom Herzen gefallen, und er versuchte gar nicht erst, es zu verbergen. Obwohl er selbst vorgeschlagen hatte, die Sache zu beenden, hatte er sich mies gefühlt. Dieses Gefühl war noch durch Victorias Weigerung, mit ihm darüber zu reden, verstärkt worden.
Einen legitimen Grund zu haben, erst einmal doch dazubleiben, war also eine verdammt gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass dieser Fall sich als einzige Katastrophe entpuppte. Fords Inhaberpapiere waren nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Mann hatte weiß Gott genug Feinde. Wenn man jetzt noch ein Vermögen ins Spiel brachte, das von jedem verkauft werden konnte, der es in die Finger bekam, wurde die Zahl der potenziellen Täter völlig unüberschaubar.
Es gab nur eines, worüber er sich ganz sicher war: Er würde Tori und seine Tochter nicht alleinlassen. Vielleicht war er langfristig nicht gut für sie, kurzfristig konnte er sich jedoch wie ein Bollwerk zwischen sie und den Mörder stellen.
Victoria hatte nicht auf ihn reagiert, deshalb wandte er sich zu ihr um. Sie lehnte an der Beifahrertür und sah völlig geschockt aus.
Rasch legte er die Hände auf das Lenkrad, um sie nicht anzufassen. „Habe ich deine Genehmigung, um nach den fehlenden Aktien zu suchen?“
Sie nickte ruckartig.
„Jeder kann sie genommen haben“, gestand er. „Es macht jedoch keinen Sinn, darüber zu spekulieren, bevor wir uns nicht ganz sicher sind, dass sie nicht doch noch irgendwo im Haus versteckt sind. Sobald wir das sicher wissen, müssen wir mit der Information zur Polizei gehen.“
„Meine Güte, und all das willst du noch heute Abend machen?“
„Nein“, antwortete er, obwohl es tatsächlich sein erster Impuls gewesen war. „Gleich morgen früh.“
Wie sich herausstellte, bekam er in dieser Nacht kein Auge zu. Da er davon ausgehen konnte, dass es Victoria nicht besser ergangen war, warf er Jared schon um acht Uhr aus dem Bett. Sieben Minuten später standen sie beide vor Toris Zimmertür. Er klopfte an und erklärte währenddessen dem Jungen die Situation. Augenblicklich öffnete sich die Tür. Als er nach unten sah, entdeckte er Esme, die ihn anstrahlte.
„Hi! Kommst du, um mit mir zu spielen?“
„Nein, Schätzchen“, hörten sie Victorias Stimme aus dem Hintergrund. Eine Sekunde später war sie an der Tür. „Wir gehen auf die Suche nach etwas, was deinem Großvater gehört hat. Hallo, Brüderchen“, sagte sie zu Jared und küsste ihn auf die Wange. „Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen.“
„Ich dachte, er sollte mithelfen“, erklärte John. „Da er aufgrund der neuesten Entwicklung am meisten zu gewinnen oder zu verlieren hat.“
„Stimmt“, antwortete sie. „Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“
„Es hört sich an, als suchten wir die Nadel im Heuhaufen, wenn ihr mich fragt“, sagte Jared verschlafen.
„Ich will auch mitmachen!“ Esme hüpfte aufgeregt auf und ab. „Kann ich auch nach Großvaters Sachen suchen?“
„Na klar, aber das ist kein Spiel, Es, also will ich nichts davon hören, dass dir langweilig ist, okay?“
„Okay.“
John wandte seinen Blick von Victoria und seiner Tochter ab. Auf der einen Seite wollte er sich zu ihnen bekennen, quasi sein Territorium markieren, damit niemand auf dumme Gedanken kam. Ein anderer Teil von ihm drängte ihn dazu, sich endlich zusammenzureißen. Wenn er jetzt anfing, besitzergreifend zu werden, würde das nur zu noch mehr Problemen führen. Er hatte nicht vor, sich in dieser Rolle der Öffentlichkeit zu stellen, damit ihn alle als unzulänglich abstempeln konnten.
So wie sein Vater es immer getan hatte.
Da diese Denkweise ihn jedoch nicht weiterbrachte, versteckte er seine Sorgen hinter einem Schild der Professionalität. „Ich habe letzte Nacht im Internet noch ein bisschen nachgeforscht. Inhaberpapiere haben keinen registrierten Eigentümer, daher kann der Aussteller, in diesem Fall die Ansbacher Cayman Limited, auch nicht sagen, wer der Besitzer ist. Sie können aber feststellen, wer die letzten Zinsen erhalten hat, doch das bringt uns momentan auch nicht weiter, da die Bank erst Dienstag früh wieder geöffnet hat. So lange können wir davon ausgehen, dass euer Vater vor allem drei Orte in diesem Haus genutzt hat.“
„Seine beiden Büros und die Mastersuite?“, fragte Victoria.
„Exakt.“
„Tja, dann haben wir bei einem Drittel der Möglichkeiten schon mal Pech gehabt“, warf Jared ein. „Dee Dee lebt ja immer noch in der Suite.“
Victoria nickte und sah genauso enttäuscht aus wie ihr Bruder.
John zuckte nur mit den Schultern. „Dann bitten wir sie eben, den Raum durchsuchen zu dürfen.“
„Und wenn sie Nein sagt?“, fragte Jared zweifelnd.
„Du und deine Schwester, ihr seid die offiziellen Eigentümer des Anwesens“, erwiderte John gleichmütig. „So lange ihr einverstanden seid, brauchen wir Dee Dees Zustimmung im Grunde gar nicht. Aber bevor wir so weit gehen, sollten wir sie vielleicht erst einmal fragen.“
„Mag Dee Dee nicht“, murmelte Esme.
Victoria musste lächeln und legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. Dann sah sie John über das Mädchen hinweg an. „Ist es okay, wenn Esme und ich mit Vaters altem Büro anfangen?“
„Natürlich.“ Er drehte sich zu Jared um. „Gut, Junge, dann lass uns mal in die Höhle des Löwen gehen.“
Auf dem Weg zur Mastersuite betrachtete er den Teenager. Er war in letzter Zeit so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass ihm erst jetzt auffiel, dass sich auch Jareds Laune kontinuierlich verschlechtert hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte John.
„Alles bestens.“
Offensichtlich war genau das Gegenteil der Fall. „Machen deine Freunde dir Schwierigkeiten?“
„Einige von ihnen“, gab Jared zu. Es klang jedoch nicht so, als wäre es das eigentliche Problem. „Die meisten sind in Ordnung.“ Er verzog den Mund. „Na ja, die meisten ist wohl übertrieben. Viele stellen mir blöde Fragen, wie man sich fühlt, wenn man des Mordes angeklagt ist und so. Aber diejenigen, die mir wichtig sind, sind bisher ziemlich cool.“
„Wie die kleine Priscilla Jane.“ John lächelte bei dem Gedanken an sie. „Wie läuft’s denn bei ihr zu Hause?“
Jared versteifte sich. „Woher soll ich das wissen? Die Nummer, die sie mir gegeben hat, stimmt nicht.“
Aha. Da lag der Hase im Pfeffer. „Gert war von P J.s Mutter nicht sonderlich begeistert“, sagte er zu dem Jungen. „Soll ich mich mal nach ihr erkundigen?“
Einen Augenblick lang sah Jared aus, als wäre das sein größter Wunsch, aber dann setzte er wieder seine Ist-mir-doch-egal-Maske auf. „Nö. Wenn sie mit mir reden wollte, hätte sie mir gleich die richtige Nummer gegeben.“
„Sie könnten umgezogen sein.“
„Aber ich bin nicht umgezogen. Sie hätte mich von der neuen Nummer aus anrufen können. Von mir aus kann sie zum Teufel gehen.“
John sah das zwar anders, aber er nickte nur. „Du bist der Boss“, sagte er sanft. „Sag mir Bescheid, falls du es dir anders überlegst.“
An der Mastersuite angekommen, klopfte er an die Tür. Es herrschte vollkommene Stille. John wartete einen Moment und klopfte dann erneut. Als er daraufhin wieder nichts hörte, hämmerte er mit der Faust an die Tür. „Dee Dee!“
„Hm?“ Ihre Stimme klang schlaftrunken.
„Mach auf. Wir müssen mit dir reden.“
„Kommt später wieder.“
„Nein, jetzt!“
„Oh, zum Teu…“ Der Fluch brach ab. Durch die geschlossene Tür hörten sie das Geräusch nackter Füße auf Parkett. Eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen, und Dee Dee funkelte sie böse an.
Sie war praktisch nackt.